systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

10. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Retrospektive(n) und Perspektive(n) im Advent 2019 – zum „30. Jahrestag der Maueröffnung“: 09.11.1989, Spätdienst!

Peter Ebel, Berlin:

Am Donnerstag, 9. November 1989, am 13. August und 15. Juni 1961.

Am 9. November 1989 referierte Günter Schabowski, Mitglied im Zentralkomitee der SED, vor Journalist*innen im Presseamt beim Ministerrat, dass man sich entschlossen habe, „heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Der Italiener Riccardo Ehrman hatte nach dem von der DDR-Führung ausgearbeiteten neuen DDR Reisegesetz-Entwurf gefragt, weitere Journalistinnen fragten, ab wann die neue Regelung in Kraft trete. Schabowski sagte: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Seit dem 13. August 1961 war West-Berlin eingemauert. Zwei Monate zuvor, am 15. Juni 1961, hatte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, vor Journalist*innen im Haus der Ministerien in Berlin gesagt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“.

Am Donnerstag, 9. November 1989 hatten „wir“ Spätdienst im Westen.

Nach Kriegsdienstverweigerung, Zivildienstpflicht, sozialwissenschaftlichem Studium mit den Schwerpunkten „Kritische Psychologie“ und „Klinische Psychologie“ , einem Studienaufenthalt in Italien, war ich für den psychosozialen Dienst der Kinder- und Jugendlichendialyse einer westdeutschen Klinik verantwortlich. Eine außerhalb der Regelleistung von Spenden finanzierte Stelle mit reduziertem Stundenkontingent. Eine 15-jährige chronisch nierenkranke Patientin hatte gemeinsam mit ihrer Familie ihr Heimatdorf in einem Mitgliedstaat des Warschauer Paktes in Süd-Ost-Europa verlassen, um zu überleben. Sie wartete auf eine Nierenspende, organisiert über Eurotransplant in Leiden, Holland. An diesem Donnerstagabend hatte ich zusätzlich Spätdienst in einer stationären Einrichtung der Jugendsozialarbeit. Die Klientel waren Jugendliche aus Ost-Europa, ausgereist mit ihren Familien deutscher Herkunft aus der Sowjetunion und Polen, die sich auf ihre Integration in das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland vorbereiteten. Ein Kontext vielfältiger Biographien junger Menschen, sie wirkten hoch belastet und hatten sich „trotz allem“ ihre Freundschaft zur Welt offenbar bewahrt.

Am Donnerstag, 9. November 1989 hatte Oberstleutnant Jäger Spätdienst im Osten.

Wir Kolleg*innen hörten aus dem Nebenraum unseres Dienstzimmers bruchstückhaft: „Die Mauer ist offen!“ Einige Jugendliche des Hauses kommentierten jubelnd die Ereignisse in Berlin, die Hans-Joachim Friedrichs in den TAGESTHEMEN erklärt hatte. DDR-Bürger*innen standen an der Staatsgrenze und der Stress der Grenzsoldaten war derart groß geworden, dass Oberstleutnant Harald Jäger an der Bornholmer Brücke um etwa 23.30 Uhr als Erster nachgab und die Menschen an der Grenze in den Westen strömen ließ. Was oft unerwähnt bleibt: Zwischen 1949 und 1989 übersiedelten ca. 550.000 Menschen aus der Bundesrepublik in die DDR, 330.000 blieben (Stöver 2019). Wir sahen Fernsehbilder aus West-Berliner Perspektive, sahen Menschen, die sich freuten, sich umarmten, weinten, Menschen vor und auf der Mauer, auf der Bornholmer Brücke, auf dem Kurfürstendamm. Die jugendlichen Beobachter*innen fragten berührt: „Was passiert JETZT?“

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9. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Über die Verwandlung der Empörung

Arist von Schlippe, Osnabrück:

Zu Besuch in einer ostdeutschen Großstadt, wir sitzen im Taxi und wollen vom Bahnhof zum Hotel. Es dauert, ein langer Stau hält uns auf. Der Taxifahrer schimpft: „Die Baustelle ist hier schon so lange und nichts passiert, die Planung ist jetzt, dass das hier noch sieben Jahre so weitergehen soll. Was machen die da eigentlich?“ und es geht weiter: mit der Regierung, die nichts „gebacken“ kriegt, was die alles rumgeschlampt haben, da braucht man gar nicht auf den Berliner Flughafen zu gucken, das sei doch überall so. Ich stimme vage zu, Projekte großer Komplexität sind ja wirklich schwierig zu steuern… Da kommt ein neuer Zungenschlag ins Gespräch: „Und die Afrikaner, die kommen alle hierher und machen Urlaub! Auf unsere Kosten!“ – „Nun ja, die meisten sind ja Flüchtlinge“, werfe ich ein. „Von wegen, die wollen es sich hier doch nur gutgehen lassen, 400.000 kommen jedes Jahr und wir tun nichts dagegen! Und die lachen sich ins Fäustchen…“ Ich spüre kurz die Versuchung, über Fakten zu diskutieren, es sind doch nicht 400.000 sondern nur die Hälfte, aber dann erinnere ich mich an ein Buch, das ich vor Kurzem las (1): Wenn man sich in einer solchen Debatte auf die Ebene von Argumentation begibt, hat man schon verloren („Lügenpresse, Falschinformation, Sie haben ja keine Ahnung, wie es wirklich ist…“). Außerdem redet er schon weiter: „Und, Sie werden schon sehen, bald haben wir auch noch Schwarze in der Regierung!“ Kein Gedanke daran, hier mit dem Witz zu kontern, dass die Partei mit der schwarzen Farbe doch schon längst im Amt ist, im Gegenteil, mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich merke Wut und Empörung in mir aufsteigen, überlege, ob ich ultimativ fordere, dass er anhält und wir den Wagen verlassen. Aber dann stehen wir mit den schweren Koffern mitten in einer Stadt in einer hoffnungslos verstopften Straße. Der Pragmatismus siegt.

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8. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Ost und West – Nicht so ein richtiges Weihnachtsmärchen

Peter Fuchs, Bad Sassendorf:

Die einst frenetisch gefeierte Vereinigung Deutschlands ist nun historisch geworden, das heißt auch: Sie scheint abgetan zu sein, gar ‚aus- oder abgestanden‘ oder schlicht langweilig. Klar: Wie immer gibt es ein jährliches Gedenken, ein ‚In dulci jubilo‘. Aber eine richtige Fröhlichkeit oder ein ‚Des sollt ihr alle froh sein …‘ stellt sich dabei nicht so recht ein. In den Vordergrund rückt die Frage: ‚Ubi sunt gaudia?‘ Wo sind die Freuden geblieben? Wann kam ein ‚Ein Irrsal ( … ) in die Mondscheingärten einer einst heiligen Liebe‘?

Nüchterne Antworten sind schwer zu finden. Das Genre des Pathos verbietet sich von selbst – anders als in der selig süßen Weihnachtszeit, die zuweilen im Register der Sentimentalität spielt. Aber auch die Trockenheit des guten Geistes (zum Beispiel im Blick auf die Ost/West-Differenz) führt gelegentlich ins Fassungslose, wie Erich Kästners ‚Sachliche Romanze‘ exemplarisch anhand der ‚Liebe‘ zeigt:

„Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.“

Bei mir war es so, dass ich drei Jahre nach dem furiosen Start der Vereinigung nach Neubrandenburg kam und bald Grund hatte, die Differenz West-/Ostdeutschland für ‚monströs‘ zu halten. Sie wurde im Alltäglichen betrieben, war ständig gegenwärtig. Man konnte ihr nicht ausweichen – weder psychisch noch sozial. Schlimmer noch: Die Beobachtung dieser Differenz, so sachlich sie sein mochte, war selbst beteiligt an dem, was es zu beobachten gab, und daran änderte sich meinem Empfinden nach nichts: Die Differenz, von der die Rede ist, betrieb und betreibt sich selbst und nahm die Form der ‚Selektivitätverstärkung‘ an, also die eines Prozesses, der nur mühsam ausgebremst werden kann.

In solchen Fällen mag es sinnvoll sein, jene Unterscheidung lamentofrei auf ihre Beschaffenheit hin zu prüfen. Zunächst ist ja erstaunlich, dass die Differenz alles andere als scharf ist. Sie lässt sich nicht als Antagonismus begreifen, nicht als trennscharfe Zweiseitenform. Anders ausgedrückt: Sie bezeichnet eine Dimension. Man kann locker sagen: weniger westlich, mehr westlich – und auf der anderen Seite wird dasselbe Spiel gespielt. Die Unterscheidung hat eine Gleitform und ist deswegen sozial fungibel, das heißt: vielfältig ausnutzbar für welche Zwecke auch immer. Und: Diese Differenz ähnelt anderen Konstruktionen wie Rechts/links, wie Oben/Unten etc. Sie bezeichnen nichts anderes als ‚bewegliche Gesichtspunkte‘, zu der Skalen gehören, auf der sich Schieberegler finden.

Ein weiterer und damit zusammenhängender Grund dafür, warum die Unterscheidung West/Ost so vage, so unsicher, so unangreifbar scheint, ist ein kurioser Re-entry, der Wiedereintritt der Differenz auf beiden Seiten der Differenz. Im Westen lässt sich Westen/Osten einsetzen, im Osten die von Osten/Westen. Die Re-entries im Westen, im Osten können ein Präferenz-Management so bewirken, dass Vorzugsrichtungen (Vorlieben) auf beiden Seiten der Ausgangsdifferenz verfestigungsfähig generiert werden, dies dann sogar in der Form reziproker Beobachtungen anhand der Re-entries, die relativ bestandsfeste Kausalitäten konstruieren – oft als Erzählungen, die auf wissenschaftliche Einwände nicht reagieren.

Kann man etwas tun? Utopisch gesehen, ja, man könnte. Ein probates Mittel wäre es, einfach die Differenz zu löschen, zu tilgen oder, besser noch: zu vergessen – nachhaltig. The very choice could be rejected. Die Unterscheidung würde so in die Regionen der Austauschbarkeit getrieben. Mir ist das zugestoßen nach zwei Jahren in Neubrandenburg, Wie immer schrieb ich ein Buch, hier über die Leitdifferenz Ost/West und ihre Folgen. Danach sah ich die Dinge anders. Die Konsequenz war, dass ich auf einmal nur noch Leute sah. Mehr brauchte es wirklich nicht.

Zu Weihnachten darf man sich etwas wünschen. Ich bestehe schon lange darauf, dass ich keine Kleinigkeiten möchte. Ohne ‚Großigkeiten‘ ist mir Weihnachten verdorben.

Ich brauche nicht zu sagen, was ich mir die nächsten Jahre wünsche, Weihnachten hin, Weihnachten her.

I wish you a Merry Christmas
Peter Fuchs

7. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Auf vielleicht nie vorwärts … Wahnsinn! – Schluss jetzt*

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Auf die Mauer, auf die Lauer,
und ein lang ersehnter Schauer
der Freude schöner Götterfunken
einander selig zugewunken
… Sorry, geht das wohl ein Stück genauer?!

Vielleicht: Ich liebe Euch doch alle
ging nicht mehr, der Fall der Falle –
und Liebe verbannte die Usurpation,
doch was heißt das schon
auf Dauer – war das genauer?

Nie im Leben! Ach, wirklich nicht?!
Wie genau dürfte es sein denn, wie hell das Licht,
wie präzise der Fokus, was darf es kosten an Geduld
an Ungewissheit, Enttäuschung, Schuld?
Ach komm‘ mir nicht damit, auch nicht als Gedicht!

Vorwärts immer – das Pfeifen im Walde,
rückwärts nimmer – warte, auch balde …,
balde auch Du, … ärger Dich nicht, Blindekuh!
Sieben Brücken, schnür‘ Dir die Schuh,
ernähre Dich redlich auf der Halde.

Wahnsinn! – Wird nicht genauer, im Bann der Bilder
wird’s durcheinander und immer wilder.
Der Götterfunken ist verrauscht,
jetzt werden Slogans aufgebauscht,
am Hebel die Meister aller Schilder.

Schluss jetzt, … ein Lied auf die Schönheit der Dystopie,
sie schützt und verbirgt eine Utopie,
und Walther singt ûf eime steine,
früher war’s Mauer, jetzt ist es keine
mehr – nur noch East Side Gallery!

* Hieronymus Heveluk nachempfunden, dessen Geschichte immer weniger greifbar wird. Er entwickelt sich zu einem Phänomen, dessen Realitätsgehalt sich immer mehr der Phantasie annähert. Zurzeit konzentrieren sich die Gesellschafter der Heveluk-Vereinigung (HeV) darauf, die noch vorliegenden Fragmente seines Werks vor kommerzieller Ausbeutung zu schützen.

6. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau

Martin Rufer, Bern:

Mauern schützen und Mauern helfen, Eigenes zu gestalten, zu entwickeln und zu bewahren. Gartenmauern, Klostermauern, eiserne oder samtene Vorhänge setzen Grenzen und halten draussen, was nicht nach drinnen gehören soll. Sie wecken Neugierde und Phantasien, kurbeln Neid oder Wut an, was dahinter, in den für uns draussen fremden Welten vor sich geht, uns aber eben doch auch betreffen könnte.

So helfen Mauern denen drinnen, geborgen an einem für sie sicheren Ort ihre Identität zu finden, diese zu pflegen und zu schützen, wenn oft auch um den Preis, nur noch die eigene Suppe zu kochen und sich einzuigeln. Wir aber, als aufgeklärte, gut vernetzte Kinder der „Transparenzgesellschaft“ (Bjung Chu Han), rühmen und üben uns inklusiv in Globalität, Mobilität, Multikulturalität, Interdisziplinarität, belächeln oder verurteilen, was trennt, abgrenzt und uns ausschliesst. Das Überschreiten und Überwinden von Grenzen, wo keine mehr sind und darum zusammenfinden soll, was zusammengehört, gilt als das Mantra der Postmoderne.

In diesem Klima der Offenheit aber sitzen nun wie ein Stachel im Fleisch nicht nur die Greta aus dem hohen Norden, sondern omnipräsent die #MeToo Bewegung, sowie kulturelle, politische, religiöse oder sexuelle Minderheiten, die uns mit feiner oder lauter Stimme zur (Klima-)Verantwortung rufen, missbrauchtes Vertrauen anklagen oder mit Autonomieansprüchen wieder territoriale Mauern setzen wollen, wo Grenzen (des Wachstums) nicht respektiert werden. So entwickelt sich, wenn vorläufig auch ohne betonierte Mauern oder eiserne Vorhänge eine zu tiefst gespaltene Gesellschaft (wie z.B. in den USA am Beispiel „für oder gegen Trump“), in der Welten einander immer fremder werden, den Dialog nicht mehr finden (wollen), abgekoppelt für ihr Recht oder ihre Ordnung aufrüsten und zunehmend mit härteren Bandagen „kommunizieren“.

Dass dies Alles aus systemsicher Perspektive sich als autopoietischer oder synergetischer Prozess beschreiben und erzählen lässt, ist das eine. Dass wir uns aber schönen Narrativen und gut evaluierten Konzepten zum Trotz auch als Systemiker mit den Grenzen der Machbarkeit konfrontiert sehen, vor den politischen Machtsystemen kapitulieren und uns desillusioniert draussen – an den Rändern des Geschehens – bewegen oder drinnen – in der geheizten, eigenen Stube – aufhalten und gut eingerichtet haben, ist das andere.

Was also bleibt dem Schuster anderes als seine Leisten!?

Dankbar darüber, dass sich die Systemische Therapie nach dem kassenärztlichen Mauerfall nun auch in Deutschland als Teil des Mainstreams verstehen darf und der kostspielige Kampf sich, im wahrsten Sinne des Wortes, auch auszahlen wird. Aber: nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau. Was für uns Systemiker heißen könnte: Wo und wie zeigt sich nun das Eigene, das Andere, das immer Hoch-Gehaltene, das nun auch bewahrt gepflegt werden will? Soll und kann, ja muss es sich, gegen Übergriffe, Vereinnahmungen – die „Mauern und den Honig im Kopf“ – abgrenzen? Und wenn ja, wie und gegen wen „draußen“ sollen die eigenen Reihen „drinnen“ geschlossen werden?

Eine Advents- oder gar Weihnachtsgeschichte? Nein, aber vielleicht sind wir, gefangen in der kleinen (Gesundheits-) und grossen (Gesellschafts-)Politik als Beobachter 1. und 2. Ordnung, sozusagen auf „Beobachtung 3. Ordnung“ angewiesen, eine, die uns in dieser „Heiligen Zeit“ darauf besinnen lässt, dass trotz Konsumrausch, Weihnachtsmärkten oder Wellnessurlaub weit weg von alledem etwas gibt, das das nicht in unsern Händen liegt und sich darum auch schlecht (er)fassen lässt.

Darum zum Schluss doch noch eine Weihnachtsgeschichte, zudem eine ganz persönliche: Ohne Mauerfall hätten wir uns, meine Frau und ich, vor 30 Jahren und kurz nach Weihnachten, wohl kaum kennengelernt, und wir wären heute – als Multikultifamilie in mehrfacher Hinsicht – um eine hautnahe Erfahrung ärmer, dass es sich lohnt, Grenzen zu respektieren, zu schützen, um dann diese in vertrauensvoller Verbundenheit auch immer wieder aufzulösen.

5. Dezember 2019
von Tom Levold
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Jürgen Kriz wird 75!

Jürgen Kriz

Heut gibt es wieder einen runden Geburtstag zu feiern: systemagazin gratuliert Jürgen Kriz ganz herzlich zum 75. Geburtstag.

Jürgen Kriz hat in den vergangenen vier Jahrzehnten unermüdlich für die wissenschaftliche Anerkennung sowohl des systemischen Ansatzes als auch der humanistischen Psychotherapieverfahren gefochten, sowohl als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie als auch durch zahllose Publikationen, Vorträge und andere Aktivitäten. Dabei hat er sich aber nie den – fachpolitisch wie auch wissenschaftlich zweifelhaften – Kriterien des Beirates für „Wissenschaftlichkeit“ gebeugt, sondern vielmehr die Grundlagen dieses Wissenschaftsverständnisses immer wieder aus einer wissenschaftlich und methodisch fundierten Perspektive kritisiert und dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Damit hat er gerade für die eigenständige wissenschaftliche Begründung des Systemischen Ansatzes einen ganz besonderen Dienst geleistet.
Er gehört daher zu den nicht allzu häufig zu findenden Wissenschaftlern, die nicht nur in Forschung und Lehre, Theoriebildung und Methodenreflexion herausragen, sondern immer auch damit verbundene politische Verantwortung gespürt und übernommen haben. Für sein Werk wurde ihm im November der Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung verliehen, einer schweizerischen Stiftung, die jährlich einen Wissenschaftspreis an Verfasser von wissenschaftlichen Arbeiten im Fachgebiet «anthropologische und humanistische Psychologie» vergibt, jeweils zu einem bestimmten Jahresthema. Als Thema dieses Jahres wurde Verantwortung ausgewählt – welcher Begriff kann besser das Werk und die Haltung von Jürgen Kriz zum Ausdruck bringen? Verantwortung für die eigenen Positionen zu übernehmen, diese in der inhaltlichen Auseinandersetzung zu schärfen, aber sich jederzeit darüber im Klaren zu sein, dass auch wissenschaftliche Positionen Wirklichkeiten erzeugen, die Konsequenzen für das eigene Leben und das Leben anderer haben: Diese Haltung hat Jürgen Kriz immer überzeugend und unbestechlich vermittelt.
Zu seiner persönlichen Geschichte und seinem langen und vielfältigen wissenschaftlichen Wirken wäre viel zu sagen. Im nächsten Heft des Kontext erscheint Ende des Monats ein langes Gespräch, das ich mit ihm schon vor einiger Zeit über sein Leben führen konnte, und das anlässlich seines Geburtstages schon heute im systemagazin gelesen werden kann.

Lieber Jürgen,
zum Geburtstag wünsche ich dir gemeinsam mit vielen anderen KollegInnen alles Gute – bleib so gesund und energiegeladen wie wir dich kennen: Deine kritische Stimme wird auch in Zukunft – vielleicht mehr denn je – im systemischen Feld gebraucht werden.
In herzlicher Verbundenheit und mit Dank für Deine Freundschaft und unseren vielen Begegnungen
Tom

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5. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Freiheit wurde wieder abbestellt

Ullrich Fellmeth, Stuttgart:

Nein, es ist keine Begeisterung oder Euphorie bei mir ausgebrochen an jenem Fernsehabend, als sich unter dem Andrang der Massen die Mauer öffnete. Wohl aber eine gewisse Ergriffenheit gegenüber den in meinen inneren Bildern vorrätigen Schicksalen vieler Beteiligter und vor allem Erleichterung, dass es so friedlich, wie kaum vorstellbar, verlaufen ist. Als die politische Frage dann mindestens mal für diesen Abend geklärt war wurde es mir irgendwann auch zu viel und ich habe mir Marius Müller Westernhagen aufgelegt, vor allem „Freiheit“.

Seltsam, dass dieser Song später in einer Live-Version zu einer Art Hymne der Wiedervereinigung wurde, denn mein bevorzugter Textteil hieß:

Freiheit, Freiheit, Ist die einzige, die fehlt.
Der Mensch ist leider nicht naiv. Der Mensch ist leider primitiv.
Freiheit, Freiheit, wurde wieder abbestellt.

Ich habe mich dann sehr lange sehr fern von den „neuen“ Bundesländern gehalten, entgegen der hektischen Betriebsamkeit vieler diakonischer Schwestern und Brüder. Ja, Berlin ist aufgelebt und auch Städte wie Eisenach, Halle, Erfurt und Weimar habe ich gerne besucht, an der Wiege der Reformation und der SPD, umweht vom Mantel europäischer Geschichte der Geisteswissenschaften.

Aber ansonsten habe ich lieber Abstand gehalten von diesem so oft als rückwärts gewandt, negativ aufgedreht und ewig benachteiligt beschriebenen Osten des wieder vereinten deutschen Reichs.

Meine Wende kam erst vor wenigen Jahren, eingeleitet durch einen kleinen familiären Schock. Nach dem Sohn wollte partout auch unsere Tochter nach Leipzig ziehen zum Studium, wo ihr doch alle großen Universitäten in Westen offenstanden.

Und doch: aus Abwehr und dann Annäherung ist eine Liebe geworden zu Menschen, Orten und eben diesen Widersprüchen als Teil UNSERER Geschichte und Zukunft. In den Wohngemeinschaften und bei Treffen mit vielen spannenden, begabten und sympathischen jungen Leuten mit ostdeutscher Herkunft verändert sich oft die Stimmung, wenn es um die eigenen Eltern und um die Großeltern-Generation geht. Allein die Patchwork-Varianten stellen alles in den Schatten, was wir im Westen so im Laufe der Zeit kultiviert haben. Für mich als Vater und auch den Familientherapeuten eine Herausforderung: die vielen geplatzten Träume und Hoffnungen, die Ungleichzeitigkeiten politischer Veränderungen und persönlicher Krisen, die Achterbahnfahrten zwischen Neuorientierung und Rückfällen, Aufstieg und Fall.

Haben wir alles auch, jedoch nicht in dieser Dimension und nicht vor diesem staats- und gesellschaftspolitischen Hintergrund, doppelt betrogen: vom „neuen Menschen“ im freiheitlichen Sozialismus, der dann doch eher als repressiver Staat mit kleinbürgerlicher Blockwartmentalität daher kam, und den entfesselten Produktionsverhältnissen eine lähmende Planwirtschaft entgegen stellte. Und danach die große Freiheit, die sich als KDW-Gutscheinheft ohne Nachhaltigkeit entpuppte und bei allen demokratischen Errungenschaften, die letzten Reste von Solidarität zugunsten einer Ellenbogenmentalität unter ungleichen Bedingungen beiseite wischte.

Heute hat sich bei mir eine gewisse Nachdenklichkeit eingestellt, ja auch etwas Scham, dem so lange aus dem Weg gegangen zu sein und doch vor allem Freude an meiner eigenen Wiedervereinigung. Wir unterstützen unsere erwachsenen Kinder und deren Bewegungen für Autonomie, Solidarische Wohnprojekte (SOWO Leipzig), Neue Ökonomie, Klimaschutz, „Ende Gelände“, gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit. Und ich habe beste Freund*innen in der DGSF gewonnen aus Leipzig und Dresden in der gemeinsamen Leidenschaft und Zuversicht, gerade auch mit systemischen Konstrukten und Haltungen, mit unseren Potentialen und Ressourcen zur Transformation beizutragen von der individualistischen EGO- zur solidarischen ÖKO-Gesellschaft.

4. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Nicht die „guten“ Intentionen sind entscheidend

Heiko Kleve, Potsdam:

Am 7. Oktober 1989 war ein Tag für mich, den ich in ganz besonderer Erinnerung habe. Es war der 40. Jahrestag der DDR. Ich arbeitete in dieser Zeit als junger Facharbeiter für Datenverarbeitung in einem Rechenzentrum in der Nähe vom Berliner Alexanderplatz. Und obwohl der Tag ein Feiertag war, hatte ich Dienst. Denn wir waren in einem Vierschichtsystem tätig. Als meine Schicht zu Ende ging, unterhielt ich mich mit zwei Kollegen darüber, was wohl heute am Alexanderplatz passieren werde. Es wurde gemunkelt, dass am 40. DDR-Geburtstag, und zwar während Honecker mit Gorbatschow und den anderen geladenen realsozialistischen Staatsführungen im Palast der Republik feierten, eine spontane Demonstration an der Weltzeituhr losgehen würde. So war es dann auch – und meine Kollegen und ich waren dabei.

Die Demonstration bestand vor allem aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen und zählte ca. 3.000 Personen. Vor dem Palast der Republik verweilten wir, riefen „Gorbi, Gorbi“, „Freiheit, Freiheit“, „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk!“. Danach zogen wir weiter in Richtung Prenzlauer Berg. Am Ende versammelten wir uns in der Gethsemanekirche.

Für mich war diese spontane Demonstration ein Protestzug von Menschen, die das Land verändern wollten, die nicht an Ausreise dachten, sondern in der DDR radikale demokratische Reformen forderten. Es war ein Aufbegehren von Idealisten, die noch an die Reformbarkeit des Realsozialismus glaubten. Die daran anschließenden Tage bis Ende Oktober 1989 erlebte ich sehr intensiv. Da ich sehr nahe an der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg wohnte, war ich täglich dort. Denn es hatten sich unter diesem Dach Protestierende versammelt, die die Forderungen der Straße mittels Diskussionen und Ansprachen in die Kirche hineintrugen.

Am 1. November 1989 war für mich dann zunächst schlagartig Schluss mit diesen intensiven Auseinandersetzungen und Protesten für eine neue DDR. Denn ich wurde zum Grundwehrdienst der Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen. Da ich 1991 anfangen wollte, Wirtschaftsinformatik zu studieren, musste ich zuvor den Grundwehrdienst ableisten. Bei der NVA war ich bis März 1990; auch dort gab es Proteste. So demonstrierten wir etwa für die Einführung des Zivildienstes, der dann tatsächlich Ende 1989 etabliert wurde. Und so stellte ich einen entsprechenden Antrag und wurde daraufhin im Frühjahr 1990 von der Armee entlassen.

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3. Dezember 2019
von Tom Levold
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In eigener Sache

Nachdem die Vorgängerversion des systemagazins (systemagazin.de) über längere Zeit nicht mehr verfügbar war (ein veraltetes Contentmanagement-System und seine Inkompatibilität mit den aktuellen Versionen der Skriptsprache php waren der Grund), ist dieses Problem mittlerweile behoben, so dass der Zugriff auf das systemagazin-Archiv bis 2014 nun wieder möglich ist. Ich freue mich, dass das systemagazin nun wieder in Gänze der interessierten Leserschaft zur Verfügung steht.

Herzliche Grüße
Tom Levold, Herausgeber systemagazin

3. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Meine kleinen Geschichten um die Wendezeit herum

Ulrike Jänicke, Halle:

Ich bin 1950 geboren in Mainz, wuchs aber seit 1957 in der damaligen DDR auf – bin also ost-sozialisiert. Die Wende war ein großes Glück für mich, für uns als Familie, für unendlich viele Menschen im Osten.

3 kleine Anekdoten mag ich teilen:

Es war 1990 und ich ging mit meiner Familie (Ehemann und meinen 12 und 14-jährigen Töchtern ins Neue Theater in Halle/Saale – einem Ort für gutes Denken und modernes Theater. Einige namhafte Journalist*innen aus dem Westen waren gekommen, um über die DDR und das Jetzt zu diskutieren. Wir waren gespannt. Aber was sich da auftat, war über die Zeit fast nicht auszuhalten, weil es sehr einseitige Betrachtungsweisen gab. Meine durchaus per se nicht so extrovertierten Töchter waren nach einer Stunde fast nicht auf ihren Plätzen zu halten, weil sie eigentlich immer rufen wollten: „Nein, so ist es nicht, nein, so war es nicht, ich habe keinen Schaden im Kindergarten genommen und nein, auch die Schule war nicht schrecklich, weil wir immer beide Seiten kannten, die DDR-Meinung und das West-Fernsehen und die Diskussionen zu Hause“. – Ein wenig stolz war ich da schon.

Ich habe bis 1992 als Oberärztin in der Psychiatrie an der Universität in Halle gearbeitet. Wir hatten seit zwei Jahren einen neuen Chef aus Bonn. Am letzten Arbeitstag gab es ein Abschlussgespräch. Nach den üblichen Dingen im Austausch fragte er mich ganz offen und ein wenig ratlos, was denn falsch lief. Er bemühe sich so und die Kolleginnen und Kollegen folgten ihm so wenig. Er wollte wirklich einen Rat. Ich sagte ihm sehr offen: „Sie haben uns keine Fragen gestellt, Sie haben nur Antworten gegeben. Wir hätten auch was einbringen können und zu sagen gehabt.“ Er war verdutzt und ich weiß nicht, was davon er verstanden hat.

1990 wurde ich als „Exotin“ zu einem Workshop auf einer Tagung von Systemiker*innen eingeladen zur Frage, wie es mir als Frau in der DDR gegangen ist. Ein wenig aufgeregt nahm ich an. Denn: Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich es als Frau es in der DDR gut gehabt habe: ohne Mühe Krippen- und Kindergartenplatz, feste Arbeitszeiten, Freistellung von Nachtdiensten bis zum 6. Lebensjahr meiner Kinder, einen Haushaltstag pro Monat für die Erledigung welcher Dinge auch immer, gleiches Gehalt, einen Frauenförderungsplan für wissenschaftliches Arbeiten mit zeitlicher Freistellung, einen Mann, dem die Gleichberechtigung im Alltag selbstverständlich war und wir uns gut in die Kinderbetreuung hineinteilen konnten. Ich erzählte munter und engagiert davon, beantwortete Fragen dazu und hatte dennoch durchaus kritische und irritierte Zuhörerinnen. Meine Erzählung passte nicht zum Frauenbild, das damals im Westen da war und es schien unvorstellbar, dass ich das, worum in der BRD noch so hart gekämpft wurde, für mich schon realisiert sah.

Und: Ich habe über die vielen Jahre verstanden, warum ich so eine heftige Liebesbeziehung mit dem Systemischen eingegangen bin und mich nicht mehr trennen werde: ich kann fragen, fragen, fragen. Ich kann neugierig sein auf Menschen, Lebensweisen, Sichtweisen und Haltungen und ich weiß, dass ich nicht der Nabel der Welt und des Wissens bin. Ich kann Dinge von den unterschiedlichsten Seiten betrachten und ich kann die Toleranz leben, die ich in meiner Herkunftsfamilie schon mit der Muttermilch aufgesogen habe.

Was mir tatsächlich aber fehlt (oder ich nur nicht in den passenden Gremien bin), ist das Einbringen der Systemiker*innen in die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion. Ich denke oft, wir hätten war wichtiges beizusteuern, wir müssten das tun, wir sollten das tun, wer, wenn nicht wir?….

2. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Westberliner Erinnerungen

Barbara Bräutigam, Stralsund:

In den 80iger Jahren wurde ich bei Urlaubsreisen mit meinen Eltern immer wieder von anderen westdeutschen Jugendlichen gefragt, ob wir uns in Berlin nicht eingesperrt fühlen würden. Mir und meinen Westberliner Freunden ist diese Frage immer unglaublich auf die Nerven gegangen. Wir hegten eine gewisse Verachtung für das provinzielle und kapitalistische Westdeutschland, wo man zum Wehrdienst musste und stundenlanges Telefonieren sehr teuer war. Im Fach politische Weltkunde verteidigte ich die DDR als das eindeutig humanistischere System und fand die Mauer zwar bedauerlich, aber nun ja …

In den letzten Wochen habe ich des Öfteren voller Scham an meine Empathielosigkeit und meine ziemlich bornierte erste Reaktion auf den Mauerfall vor 30 Jahren gedacht und fand mich bei Jutta Dittfurths Einstellung wieder, die nach dem November 1989 in erster Linie wieder ein mächtiges, womöglich kriegstreibendes Deutschland befürchtete.

Für den Osten begann ich mich trotz ostdeutscher Verwandtschaft erst zu interessieren, als ich Mitte der 90iger Jahre im Land Brandenburg zu arbeiten und leben begann. Ich lernte bei Begrüßungen konsequent die Hand zu geben und entwickelte eine gehörige Portion Demut angesichts heftiger biographischer Brüche und Verluste im Zuge der Wende.

2003 zog ich mit Mann und Kind nach Stralsund und verstand einerseits zunehmend die Abneigung vieler ostdeutscher Menschen gegenüber den Wessis und hatte andererseits immer mehr die Nase voll davon, mich scheinbar für meinen Geburtsort entschuldigen zu müssen. Erst als ich ein paar Jahre später im Rahmen einer Paartherapie von dem westdeutschen Mann für eine Westdeutsche und von der ostdeutschen Frau für eine Ostdeutsche gehalten wurde, hatte ich das Gefühl, diesem Dilemma ein wenig entronnen zu sein. Inzwischen bin ich als Lehrende an der Hochschule Neubrandenburg immer öfter mit Menschen konfrontiert, die entweder unsäglich unter der DDR und deren System der Bespitzelung und Repression gelitten haben oder denjenigen, die es immer noch nicht fassen können, dass alles falsch sein soll, was einmal richtig war. Eine konstruktivistische Sichtweise auf die Vergangenheit scheint zwar dabei die einzig mögliche, hilft aber nur bedingt, da Leid validiert werden will. Ich glaube nach wie vor, dass es mir als westsozialisiertem Menschen nicht zusteht, darüber zu entscheiden, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Aber die Frage treibt mich zunehmend um.

1. Dezember 2019
von Tom Levold
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Adventskalender 2019

Auch in diesem Jahr gibt es wieder den systemagazin-Adventskalender, ein Raum für Geschichten, Einfälle, Erinnerungen und Assoziationen, die dieses Mal mit dem Mauerfall vor 30 Jahren verbunden sein sollen. Wie immer ist der Kalender zu Beginn noch längst nicht gefüllt, daher hier noch einmal die Einladung an alle Leserinnen und Leser, sich mit ihren eigenen Überlegungen und Erzählungen zu beteiligen. Welche Dynamiken hat die Vereinigung zweier so unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Systeme in Gang gebracht? Was verbindet, was trennt bis heute? Welche Symmetrien und Asymmetrien, Macht- und Größendifferenzen, Konfliktlagen und Mentalitätsunterschiede haben diese Dynamiken geprägt und sind von ihnen geprägt worden? Was war das Gute im Schlechten und das Schlechte im Guten?

Die Beiträge sollen sich an folgenden Fragen orientieren: Wie haben Sie diesen Tag und das, was danach folgte, erlebt? Welche persönlichen und professionellen Begegnungen haben sich für Sie aus der Wiedervereinigung ergeben? Welche Unterschiede haben sich für Sie aufgelöst, welche erhalten oder sogar verstärkt? Welche erlebten und erleben Sie als produktiv und spannend, welche als problematisch und besorgniserregend? Wie hat sich die Wiedervereinigung in der Entwicklung der systemischen Szene in Deutschland bemerkbar gemacht? Was bedeutet es, aus einer systemischen Perspektive auf diese Geschichte zu schauen – und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Ich freue mich, wenn Sie sich beteiligen wollen und mir Ihre Reflexionen an tom@levold.de zuschicken mögen.

Den Anfang macht heute Thomas Keller, für den der 9.11.1989 der Beginn einer freundschaftlichen Zusammenarbeit wurde.

Thomas Keller: Überraschung in der Pizzeria

Seit 1985 war ich Chefarzt an einem großen psychiatrischen Krankenhaus in Langenfeld. Von Anfang an arbeiteten wir daran, systemische Arbeitsformen im Alltag der psychiatrischen Klinik zu entwickeln, dabei wurden wir von unserem externen Supervisor Klaus Deissler unterstützt, dem Gründer und Leiter des Marburger Instituts. Unsere Arbeitsgruppe traf sich mehrmals im Jahr an Wochenenden. 1989 hatten wir bereits ein brauchbares Modell für Kooperation im Netzwerk von Patient*in, Angehörigen und beteiligten Fachleuten entwickelt. Am 9. November dieses Jahres hatten wir einen ganz besonderen Gast: Ulrike Jänicke aus Halle. Wir erfuhren, dass sie – seinerzeit Oberärztin in der Psychiatrie der dortigen Universität – eine Pionierin des Systemischen Ansatzes in der DDR war und von den dortigen Behörden die Genehmigung hatte, in den Westen zu reisen, um unterschiedliche systemische Arbeitsgruppen zu besuchen. Sie kam auch zu uns, weil sie gehört hatte, dass wir im psychiatrischen Alltag systemisch arbeiteten.

Abends gingen wir in eine Pizzeria. Wir hatten kaum bestellt, da ging die Tür auf, Leute kamen herein und sagten: „Im Fernsehen haben sie gerade gesagt, dass in Berlin die Mauer aufgemacht wird.“ Wir waren wie vom Donner gerührt, besonders aber natürlich Ulrike. Sie musste erst mal rausgehen, um diese epochale Nachricht für sich zu verarbeiten. Dann versuchte sie, mit ihrer Familie zu Hause zu telefonieren.

Es wurde der Beginn einer langen und freundschaftlichen Zusammenarbeit. Das Marburger Institut bot ihr eine Weiterbildung an, später kam es zu gemeinsamen Projekten in Halle und Leipzig. Ulrike Jaenicke wollte aber keine Ostfiliale eines Westinstituts aufmachen, sondern sie gründete  ihr eigenes Institut in Halle, das später nach Leipzig umzog. Sie wurde Vorstandsmitglied der Systemischen Gesellschaft und machte sich schließlich noch einen Namen in der systemischen Organisationsentwicklung. Ihr Mann wurde mit einem Software-Unternehmen erfolgreich.

25. November 2019
von Tom Levold
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Stellungnahme der systemischen Fachgesellschaften SG und DGSF zum Referentenentwurf der PsychTh-ApprO

Die systemischen Fachgesellschaften haben den Referentenentwurf einer „Approbationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten“ (PsychTh-ApprO) vom 17.10.2019 zur Kenntnis genommen. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen. Wir möchten die Arbeit an dem unter Hochdruck erarbeiteten Entwurf würdigen.

Nach intensiver Beschäftigung mit dem Entwurf entsteht der Eindruck, dass fast nur verhaltenstherapeutische Expertise aus dem Erwachsenenbereich bei der Erstellung genutzt wurde. Systemische und psychodynamische Elemente finden sich im Entwurf bislang kaum wieder. Dabei schreibt das neue Psychotherapeutengesetz selbst vor: „Ziel des Studiums ist eine verfahrensbreite Qualifizierung, die gleichermaßen alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren umfasst“. „(…) das Studium [soll] sich auf die Vermittlung von Kenntnissen und Kompetenzen in allen wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren erstrecken“ (Beschlussempfehlung und Bericht des Gesundheitsausschusses vom 25.09.2019, Drucksache 19/13585 des Deutschen Bundestages, Seite 80).

Wir halten die Verhaltenstherapie für einen sinnvollen und wirksamen psychotherapeutischen Ansatz, aber sie ist nicht der einzige wirksame Psychotherapieansatz. Eine Verfahrensintegration wird nicht gelingen, wenn lediglich ein Verfahren in der Approbationsordnung berücksichtigt wird. Dies steht zudem im Widerspruch zur sozialrechtlichen Psychotherapie-Richtlinie, die verschiedene Psychotherapieverfahren kennt.

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