In einem aktuellen Text aus der Zeitschrift Forum der Psychoanalyse, der online first erschienen und zu lesen ist, setzt sich Michael B. Buchholz unter dem Titel „Kann die Psychoanalyse noch aus ihren Krisen lernen?“ mit Fragen auseinander, die nicht nur die Psychoanalyse, sondern die Perspektive der Psychotherapie im Allgemeinen betreffen. Im Abstract heißt es: »Mit dem neuen Psychotherapeutengesetz ist eine ernste Lage für die Psychoanalyse entstanden. Auf die eine Gefahr, die technologische Medizinalisierung (…), wurde häufig verwiesen. Eine wachsende Abhängigkeit von der klinischen Psychologie (…) ist noch wenig gesehen. Wie kann sich die Psychoanalyse behaupten? Vorgeschlagen wird, sich verstärkt Fragen nach a) Ausbildung therapeutischer Persönlichkeiten, b) stärkerer lebensweltlicher Kontextualisierung und c) weit größerer Aufmerksamkeit der originalen Stimme der Patienten in Theorie und Kasuistik zu widmen. Loyalität gegenüber Theorie-Traditionen löst keine Probleme. Sie blockiert Umweltsensitivität und erzeugt Rückzug in Selbstbeschäftigung und beunruhigenden Mangel an Irritierbarkeit. Die viel zu loyale Bindung an Theorietraditionen, an lehranalytische Aus- und Vorbilder, supervisorische Praktiken und an fragliche Behandlungsregeln wehrt die Irritation ab, deren Bewältigung zentrale Aufgabe wäre, und entmutigt die nächste Generation. Dazu am Schluss Vorschläge.« Die Akademisierung der Psychotherapie sieht Buchholz kritisch, da sie der Ausbildung klinischer Performanz und der Entwicklung therapeutischer Persönlichkeiten eher keinen Vorschub leistet: »Performanz kann nicht final bestimmt oder eingegrenzt werden. Therapeutische Schulung ist offen, für originelle Persönlichkeiten, die einen neuen Stil, eine andere Antwort, einen besonderen, hilfreichen Humor entwickeln und im Umgang mit Patienten bezeugbar Erleichterung schaffen, die klinische Theorie nicht erwartete und nur profitieren kann. Klinisches Können sollte eine gewichtigere Stimme im kulturell-politischen Feld bekommen.«
Am Schluss schreibt Buchholz: »Medikalisierung schadet in der Psychotherapie; das ist empirisch bestens ermittelt. Indem man ein viel zu traditionelles klinisch-psychologisches und zu machtvoll implementiertes technisch-szientifisches Wissenschaftsverständnis erweitert, sehe ich Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben können. Dazu habe ich Komponenten im FLIP-Modell skizziert [Forschung – Lehre – Integration – Praxis].
Bemerken psychoanalytische Kolleginnen und Kollegen den Zustand ihrer Profession? Werden sie sich getrauen, Traditionen – etwa der Theorie, Formen der Supervision, der Lehre und kasuistischen Seminare – über Bord zu werfen, um sich Spiel-Räume zu schaffen und Alternativen zu erproben? Und diese evaluieren, um sich in der Versorgungsrealität wieder Relevanz zu verschaffen? Ob sie wagen, antiquierte Bestände den Historikern zu überlassen? Können Sie die Selbsterfahrung erweitern: von der Reflexion biografischer Zusammenhänge zur Beobachtung kommunikativer Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen, von der Wahrnehmung affektiver Resonanzen zur Reflexion von deren Nutzung, von der nuancierten Gewahrwerdung eigener kommunikativer Manierismen über Wirkung stiller Momente, aber auch die reichen Varianten des Opportunismus. Wenn diese Wagnisse, von ein- beziehungsweise ausgetrampelten Traditionspfaden abzuweichen, gelingen, könnte das „Abatmen des Meinungssmogs“, von dem Slunecko so eindrücklich spricht, für die Profession heilsam werden.«
Ein Text, den sich alle Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu Herzen nehmen sollten. Hier können Sie ihn lesen…