Evelyn Niel-Dolzer (Foto: la:st) ist Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien, die dieser Tage ihr 40-jähriges Jubiläum mit einer spannenden Tagung zum Thema Wozu haben Psychotherapeut*innen Gefühle? gefeiert hat (herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle zum Jubiläum!). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie und Systemtheorie, Intersubjektivität und der Dialog zwischen gegenwärtigen psychoanalytischen und systemtherapeutischen Schulen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Lehranstalt, den Systemischen Notizen (2023/01: S. 62-71), präsentiert sie ihre lesens- und nachdenkenswerten Gedanken zu diesen Themenkomplexen. systemagazin freut sich, diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Systemischen Notizen und der Autorin seinen Leserinnen und Lesern nahe bringen zu können.
Evelyn Niel-Dolzer: Dialog in Differenz. (Der Lehranstalt zum 40. Geburtstag)
Am Ende des Flußarms ist die Hand aus Sand,
die alles, was durch den Fluß geht, aufschreibt.
René Char
„Ist 40 Jahre sehr alt?“, fragte mich mein Sohn vor sechzehn Jahren – da war er sechs und wir feierten meinen vierzigsten Geburtstag.
„Kommt ganz drauf an …“, habe ich ihm geantwortet.
Und weil sechsjährige Kinder originell denken und sich im Dialog überwiegend noch außerhalb konventioneller Sprachspiele und frei vom etablierten Jargon bewegen, sagte er daraufhin nicht „Stimmt, es kommt darauf an, wie alt man sich fühlt“, sondern kombinierte nachdenklich, „… stimmt! Es kommt darauf an, ob man schon bis vierzig zählen kann!“
„Ja genau!“, habe nun ich mich wiederum auf seine so verblüffende wie scharfsinnige Argumentation eingelassen und mich mit ihm an einer in diesem Moment zwischen uns aufkommenden Erfahrung gefreut: Einer stillen gemeinsamen Einsicht, in der wir intuitiv begriffen, wie untrennbar Logik und Erkenntnisgewinn in der subjektiven Lebens- und Erfahrungswelt ihrer Urheber*innen verankert sind. Und wie neue Zusammenhänge entstehen, wenn Antworten aufeinander nicht stereotyp aufgerufen, sondern in einem Gespräch spontan gegeben werden, in einem sich einstellenden Augenblick tiefer Verbundenheit und wechselseitiger emotionaler Zugewandtheit.
Genau diese Faszination – das Erahnen eines Zaubers, der im Miteinander-Sprechen möglich werden kann – war es auch, die mich vor nunmehr über dreißig Jahren in die Welt der Systemtheorie geführt hat: Ausgangspunkt meiner Reise waren damals, in den späten 1980er-Jahren, die konstruktivistische Erkenntnistheorie, die sehr persönliche Suche nach Antworten auf die Frage, ob ungedeihlichen Lebensumständen lebensfrohe und lebensbejahende Entwicklungen und Beziehungen entspringen können, und ein gewisser Widerspruchsgeist gegen den reduktionistischen Diskurs der akademisch-behavioristischen Lehre von der Psyche des Menschen.[1]
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