Evelyn Niel-Dolzer (Foto: la:st) ist Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien, die dieser Tage ihr 40-jähriges Jubiläum mit einer spannenden Tagung zum Thema Wozu haben Psychotherapeut*innen Gefühle? gefeiert hat (herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle zum Jubiläum!). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie und Systemtheorie, Intersubjektivität und der Dialog zwischen gegenwärtigen psychoanalytischen und systemtherapeutischen Schulen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift der Lehranstalt, den Systemischen Notizen (2023/01: S. 62-71), präsentiert sie ihre lesens- und nachdenkenswerten Gedanken zu diesen Themenkomplexen. systemagazin freut sich, diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Systemischen Notizen und der Autorin seinen Leserinnen und Lesern nahe bringen zu können.
Evelyn Niel-Dolzer: Dialog in Differenz. (Der Lehranstalt zum 40. Geburtstag)
Am Ende des Flußarms ist die Hand aus Sand,
die alles, was durch den Fluß geht, aufschreibt.
René Char
„Ist 40 Jahre sehr alt?“, fragte mich mein Sohn vor sechzehn Jahren – da war er sechs und wir feierten meinen vierzigsten Geburtstag.
„Kommt ganz drauf an …“, habe ich ihm geantwortet.
Und weil sechsjährige Kinder originell denken und sich im Dialog überwiegend noch außerhalb konventioneller Sprachspiele und frei vom etablierten Jargon bewegen, sagte er daraufhin nicht „Stimmt, es kommt darauf an, wie alt man sich fühlt“, sondern kombinierte nachdenklich, „… stimmt! Es kommt darauf an, ob man schon bis vierzig zählen kann!“
„Ja genau!“, habe nun ich mich wiederum auf seine so verblüffende wie scharfsinnige Argumentation eingelassen und mich mit ihm an einer in diesem Moment zwischen uns aufkommenden Erfahrung gefreut: Einer stillen gemeinsamen Einsicht, in der wir intuitiv begriffen, wie untrennbar Logik und Erkenntnisgewinn in der subjektiven Lebens- und Erfahrungswelt ihrer Urheber*innen verankert sind. Und wie neue Zusammenhänge entstehen, wenn Antworten aufeinander nicht stereotyp aufgerufen, sondern in einem Gespräch spontan gegeben werden, in einem sich einstellenden Augenblick tiefer Verbundenheit und wechselseitiger emotionaler Zugewandtheit.
Genau diese Faszination – das Erahnen eines Zaubers, der im Miteinander-Sprechen möglich werden kann – war es auch, die mich vor nunmehr über dreißig Jahren in die Welt der Systemtheorie geführt hat: Ausgangspunkt meiner Reise waren damals, in den späten 1980er-Jahren, die konstruktivistische Erkenntnistheorie, die sehr persönliche Suche nach Antworten auf die Frage, ob ungedeihlichen Lebensumständen lebensfrohe und lebensbejahende Entwicklungen und Beziehungen entspringen können, und ein gewisser Widerspruchsgeist gegen den reduktionistischen Diskurs der akademisch-behavioristischen Lehre von der Psyche des Menschen.[1]
Vor elf Jahren hat mich dieser Weg auch in die Lehranstalt für Systemische Familientherapie geführt und es sind vor allem meine Studierenden, denen ich heute dafür dankbar bin, dass sie mich beständig mit ihren interessierten und neugierigen Fragen auf gewisse – sagen wir mal – Ungereimtheiten aufmerksam machen, was die Verhältnisse zwischen Theorien und Konzepten der Systemischen Therapie einerseits und deren klinisch-praktischen Tuns andererseits betrifft. Als Lehrende befasse ich mich natürlich seit über zehn Jahren wieder viel gründlicher, präziser und auch kritischer mit der „orthodoxen Lehre“, die zu vermitteln ja meine Aufgabe ist. Die Kunst des Fragens, auch des Hinterfragens, und die Freude an differenten, neuen Perspektiven, die im Auftauchen origineller und bislang noch nicht gegebener Antworten meinen Horizont erweitern, waren ja der Ausgangspunkt und das Motiv für meinen Aufbruch auf einen „systemischen Weg“ – und bringen mich nun, als Lehrtherapeutin, wieder ein erhebliches Stück weiter. Von den – von mir – ausgegangenen Pfaden (im doppelten Sinn, also von ursprünglichen, aber auch im Sinn von jahrzehntelang ausgetretenen Pfaden) eines im Wesentlichen konstruktivistisch fundierten klinischen Verständnisses von Systemischer Psychotherapie, führte mich der Weg nun in den Jahren meiner Lehrtätigkeit an der la:sf in die Phänomenologie. Und ich begann, mir neue Reime auf das Ungereimte zu machen, auf das ich, angeregt durch meine Studierenden, immer öfter zu stoßen begann.
„Sind vierzig Jahre alt für eine klinische Theorie?“, habe ich mich zu fragen begonnen. Sind die Konzeptualisierungen, die in der (auch gesellschaftlichen) Atmosphäre der 1980er-Jahre als Kybernetik II gefeiert und heute als „orthodoxe Lehre“ an angehende systemische Psychotherapeut*innen vermittelt werden, auf der Höhe der Zeit?
„Kommt ganz darauf an“, habe ich mir geantwortet und – eingedenk des Metalogs mit meinem Sohn – weiter improvisiert: Kommt ganz darauf an, in welchem Zahlenraum man rechnet; kommt darauf an, wie weit man rechnen kann und will und – vielleicht noch viel mehr – womit man rechnen will und womit man lieber nicht rechnen will, wenn man nachfragt. Aber Unberechenbarkeit ist ja die zentrale Chiffre (Zahl und Zeichen!) einer Systemtheorie, die sich mit dem Chaos und den Ordnungen menschlicher Begegnungen in all ihrem Freud und Leid beschäftigt: Nur wer mit allem rechnet, auch mit Überraschungen, mit denen er/sie nicht gerechnet hat, weil die Gleichungen des Lebens nicht ohne Rest aufgehen und damit auch nicht die Konzepte und Theorien, die diesem Leben entspringen, denkt systemisch. Und da wurde mir – mit durchaus gemischten Gefühlen – klar, dass mir ein Abenteuer bevorstand: Auf der Suche nach originellen Antworten (außerhalb der mir geläufigen Sprachspiele und des mir wohlvertrauten Jargons) auf die Frage, ob vierzig Jahre alt für eine Theorie sind, werde auch ich nicht unverändert bleiben, werde ich mich verändern, aber erst im Nachhinein feststellen wie.
Des Reimens müde?
Innerhalb der systemtherapeutischen Denkgemeinschaft dürfte, soweit mir das möglich ist einzuschätzen, weitestgehend darüber Konsens bestehen, dass seit der kybernetischen Wende ein metatheoretischer Diskurs auf einem common ground solider klinischer Theoriebildung nicht zu identifizieren ist. Eher handelt es sich um einen Diskurs, der zersplittert, sehr leise oder, wie manche argwöhnen, gar nicht mehr geführt wird. Hans Lieb, eine innerhalb der deutschsprachigen systemtherapeutischen Community anerkannte fachliche Autorität und bei uns im Haus ein geschätzter Gastdozent, hat sich dieser Befürchtung (in Kenntnis der deutschen Verhältnisse) vor einigen Jahren bei einem gemütlichen und inspirierenden gemeinsamen Abendessen nach einer Lehrveranstaltung entschieden angeschlossen. Ich erinnere mich dabei auch an seine deutlich und mit Anerkennung zum Ausdruck gebrachte Sympathie für die von ihm supponierte Ausnahmeposition, welche die la:sf seiner Meinung nach diesbezüglich einnehme. Tom Levold, ein anderer prominenter Denker innerhalb der Gemeinschaft systemischer Psychotherapeut*innen, spricht ganz konkret von einer Trivialisierung des Systembegriffs, die im Lauf der Zeit das erkenntniskritische Potential dieses Paradigmas zur Strecke gebracht hat. Seine vor drei Jahren ins gewohnt pointierte Horn stoßende Kritik weist in Übereinstimmung mit diesen Zweifeln an einer lebendig-kritisch praktizierten Theoriedebatte in Richtung einer „Folklore“, was die Traditionspflege systemtherapeutischer Theoriebestände betrifft:
„Humberto R. Maturanas geflügeltes Wort »Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt« fehlt in kaum einem Text über den systemischen Ansatz (angesichts seiner Verbreitung und Trivialisierung in allen passenden und unpassenden Kontexten darf man schon fast von Systemkitsch sprechen).“[2]
Ob Hans Liebs wohlwollende und optimistische Wahrnehmung, was die kritische Diskursfreude an der la:sf angeht, tatsächlich zutrifft, wird innerhalb unseres Hauses unterschiedlich und durchaus kontrovers eingeschätzt. Diese „Differenz im eigenen Haus“ ist aber jedenfalls und unbestritten ein gedeihlicher Boden, auf dem ich seit geraumer Zeit den Fragen nachgehen kann, ob vierzig Jahre „alt“ für eine klinische Theorie sind und ob, für wen und wofür, diese Frage Relevanz hat.
Ungereimtheiten
Wie sind Theoriebildung und gelebte Praxis innerhalb von vierzig Jahren in wechselseitiger Dynamik miteinander evolutionär gedriftet? Und sind sie es überhaupt? Warum – so lauteten ja die anstoßgebenden Fragen meiner Studierenden – ist die gelebte Praxis, also die systemtherapeutische Performanz, wenn wir sie in der Supervision reflektieren, oft nicht in der „orthodoxen Theoriesprache“ artikulierbar? Und umgekehrt: Warum sind die (bescheidenen) systemtherapeutischen Theorien in ihren Abstraktionsgraden oft wenig einleuchtend, um sie als „Sehhilfen“ in der lebendigen und an (zwischen)menschlichen Phänomenen so reichen Welt klinischer Praxis nützen zu können?
Dass ab urbe condita – also vom Beginn der Kybernetik-II-Bewegung in den 1980er-Jahren an – die modernen Systemtheorien (Plural!) nur ausschnitthaft, fragmentiert und bisweilen ungenügend in klinische Theorien übersetzt wurden, gilt mittlerweile als unumstritten und verwundert prinzipiell auch nicht: Es war eben ein Anfang oder zumindest wollte das in der damals viel beschworenen Aufbruchsstimmung so verstanden und gesehen werden. Ähnliches lässt sich über die Verankerung einer klinischen Systemtheorie im erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen des Radikalen Konstruktivismus rückblickend aussagen. Sie war so bestimmend wie unbestimmt: In der Gründungsphase Anfang der 1980er-Jahre „(…) hat sich der Konstruktivismus als theoretischer Bezugsrahmen für Systemiker durchgesetzt. (…) Von einem einheitlichen Verständnis konstruktivistischer Theorie [kann allerdings] nicht die Rede sein.“[3] Inkohärente Diskurse haben eher zu einem unklaren Rauschen als zu einer Polyphonie, einer Mehr-Stimmigkeit, geführt. „Betrachtet man den systemtherapeutischen Diskurs etwas genauer, lässt sich feststellen, dass die Diskussion des Konstruktivismus und seiner Grundlagen im systemischen Feld vielfach eher oberflächlich, theoretisch unterbestimmt und eklektizistisch geführt wird. Widersprüche, Kontroversen und Kritik werden eher nicht, zumindest nicht systematisch rezipiert.“[4]
Ich finde mich also nicht allein, wenn ich zu dem Schluss komme, dass die Theorien der Gründungszeit „in die Jahre gekommen“ sind, ohne dass die ausstehenden Schärfungen, um zu einer soliden Theoriebildung zu gelangen, nennenswert erfolgt sind oder in einen kritischen Binnendiskurs gemündet wären.
Konsens scheint darüber zu bestehen, dass aus einer systemtheoretischen Perspektive Veränderungen erwartbar sind, während Bewahrung/Nicht-Veränderung nach Erklärungen verlangt. Veränderung und Weiterentwicklung von Theoriebeständen sind also erwartbar, konservierende Bewahrung hat es verdient, be- und hinterfragt zu werden. Konsens besteht weiters darüber, dass die Trivialisierung einer hoch anspruchsvollen Systemtheorie zu einer Stagnation innerhalb der Denkgemeinschaft führt, die sich u. a. in theoretisch unterbestimmten und eklektizistischen Diskurspraktiken zeigt. Konsens besteht drittens darüber, dass Operationen, mit denen versucht wird, sich (und seine Theorien) in einem prinzipiell als dynamisch vorausgesetzten Kontext unveränderlich zu halten, letztendlich in eine Indifferenz münden – mit ernsten Folgen für die Aufrechterhaltung der Selbstorganisation. Und Konsens besteht – last, not least – darüber, dass Theorie und Praxis rekursiv aufeinander bezogen sind: Praxis informiert die Theorie, die wiederum die Praxis informiert, die wiederum die Theorie informiert, usf. … ein evolutionäres Driften, d. h. eine aufeinander bezogene und miteinander verschränkt stattfindende (Anver)Wandlung.
„Theoriebildung bewegt sich demnach nicht von oben nach unten, nicht von der ‚Höhe‘ der Theorie zu den ‚Niederungen‘ der Praxis, sondern von unten nach oben und zurück. Sie geht aus von der praktischen Erfahrung.“[5]
„Unsere Theorien wachsen keinesfalls selbständig, sondern sie setzen notwendig die natürliche Welt und das menschliche Leben als ihren Nährboden voraus. Die Ergebnisse dieser Theorien dürfen also nicht für selbständig existierende Wesenheiten gehalten werden, dürfen nicht von ihrer Lebensfunktion getrennt, sondern müssen aus dieser heraus begriffen werden.“[6]
Ein Driften von Theoriebeständen über die Zeit, und zwar konkret ein ko-evolutionäres Driften von Theorie/Praxis, ist also aus systemischer Sicht erwartbar – und aus klinischer Sicht notwendig: Problemlagen von Klient*innen betrachten wir als historisch-sozio-kulturell situiert und die konkreten Fragen an die klinische Praktikerin, den klinischen Praktiker der Gegenwart haben sich folglich im Lauf der letzten vier Dekaden verändert. Mir erschien es aus all diesen Gründen immer vielversprechender – auch für die Lehre –, mich damit zu beschäftigen, wo genau ich „eingefrorene“ Theoriebestände verorte, und mich auf die Suche danach zu machen, wo und wie Diskursformen auszumachen sind, in denen „Verlebendigungen“ möglich sind, in deren Verlauf die erwartbare Dynamisierung – das präsupponierte evolutionäre Driften – in Gang kommen würde.
(Wie) reimt sich Theorie auf Praxis?
Auf meiner Suche führte mich der Weg, der vor dreißig Jahren im Konstruktivismus begonnen hatte, in die Phänomenologie. Ich habe dort – zunächst zu meiner völligen Überraschung – sehr bald „systemisch plausible“ Hinweise zur Lösung meines Quests gefunden, also zu jener Frage und Aufgabe, mit der mich meine Studierenden in meine Abenteuerreise entlassen hatten: Warum leuchten „unsere alten“ Theoriebestände so viele praxisrelevante Phänomene gegenwärtig nur lückenhaft aus?
Denn diese Problematik ist ja mit der oben argumentierten in der Gründungszeit wurzelnden „Oberflächlichkeit“ allein nicht hinreichend charakterisiert. Eine weitere, in einem systemtheoretischen Denken fest verankerte Prämisse ergänzt hier den Blickwinkel darauf, wie Lücken entstehen, ohne dabei sofort (und schon gar nicht konsensuell) als lückenhaft ins Auge zu springen: Klinische Phänomene liegen nicht einfach vor, sondern werden durch die Wahl unserer „Theoriebrillen“, durch die wir auf die Praxis schauen, erst hervorgebracht. Oder eben nichthervorgebracht. Es kommt also ganz darauf an, welche Theorie wir uns als „Sehhilfe“ auf die Nase setzen, um etwas zu sehen. Unsere Theorien über die Phänomene der Praxis grenzen a priori ein, womit wir in der Praxis rechnen (können). Und womit wir nicht rechnen können. Im doppelten Wortsinn: Wo wir nichts erwarten, erweckt nichts unsere Neugier und mit dem, was wir ausschließen, weil es uns ausgeschlossen erscheint, können wir nicht operieren. Die Theorie(n) der Gründungszeit selbst – und nicht nur die Weise, wie sorgfältig oder unsorgfältig sie angeeignet wurden – standen also nun auf meiner abenteuerlichen Reise in Frage.
Eine in einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie fundierte Therapietheorie fragt ja nicht nur nicht nach (intra)psychischen Phänomenen und konzeptualisiert sie deshalb auch nicht – das ist nichts Neues –, sondern sie sieht sie schlicht nicht. Wir als Praktiker*innen hingegen, unsere Studierenden und unsere Klient*innen vermeinen aber, dessen ungeachtet, doch „etwas“ zu sehen; gemeinsam können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass da „etwas“ ist, „etwas Psychisches“, das sich bloß in der Sprache der Theorien nicht artikulieren lässt, aber dennoch da „ist“.
Dem theoretischen Blick entzogen bleiben bestimmte Phänomene der klinischen Praxis auch durch die „Sehhilfe“ einer Systemtheorie, deren Anschließen an das dominierende empiristisch-kognitivistische Paradigma der 1980er-Jahre[7] sie von Anfang an in eine reduktionistische Engführung gebracht hat.[8] Analoges ist ja auch in Richtung der Rezeption einer Systemtheorie argumentiert worden, die an einen soziologischen Diskurs sensu Luhmann angeschlossen hat. Eine Theorie, deren Einzigartigkeit gerade darin gründet, eine Soziologie zu entwickeln, die ohne Subjekt operieren kann (bzw. einen Subjektbegriff abstrakt-logisch atomisiert), in eine kohärente klinischeTheorie zu übertragen, ist herausfordernd und bislang ausgeblieben. Geht es dabei doch darum, eine „Sehhilfe“ zu konstruieren, durch die gerade Phänomene (höchst) subjektiven Leid-empfindens und Leib-empfindens in den Blick kommen können und deshalb die theoretische Ausleuchtung des Subjektivitätsbegriffs aus einer systemischen Perspektive voraussetzen würde (das hieße, nach der relationalen Verfasstheit der Subjektivität zu fragen).
Neue Reime
Um meinen Reisebericht an dieser Stelle nicht allzu sehr in die Länge, Breite und Tiefe auszudehnen: Der Questmeiner Studierenden, der im Gehen immer mehr unter meinen eigenen Nägeln zu brennen begann, indem er mir in seiner Verwobenheit mit meiner zutiefst persönlichen Lebensgeschichte immer bewusster wurde, führte mich also in die Fremde. In die Phänomenologie. Und eröffnete mir einen Blick – wie immer, wenn ich es gewagt habe, das Eigene dem Anspruch des Fremden auszusetzen – auf bislang unbemerkte Vorverständnisse, die ich so stillschweigend übernommen hatte und die mir so selbstverständlich geworden waren, dass sie mir alsVorverständnisse gar nicht bewusstgeworden waren. Die aber nicht unwesentlich meinen Horizont begrenzten und damit meine Möglichkeiten, neuartige Unterscheidungen vorzunehmen: Unterschiede, die tatsächlich Unterschiede machen. Meine eigenen Scheuklappen waren es, die ich durch diesen fremden Blick auf mich selbst allmählich entdeckte. Mehr und mehr begann ich, mich nicht nur als „eine, die auszog, um Fragen zu stellen“ zu sehen, sondern als eine, die durch das Fremde befragt wird. Hinterfragt. Ich selbst stand also plötzlich auf meiner abenteuerlichen Reise in Frage. Es ging, so dämmerte es mir langsam, bei diesem Abenteuer immer mehr darum, zu antworten …
Ich sah – als meine Augen sich mit der Zeit an das fremde Licht gewöhnt hatten, das durch das Wegfallen mancher Scheuklappen in ungewohnter Weise meine Welt ausleuchtete – etwas Gleiches an den mir vertrauten konstruktivistischen und systemischen Theorien und etwas Anderes im phänomenologischen Zugang. Ich sah plötzlich einen Unterschied, eine Differenz, die mir bislang völlig entgangen war. Und zwar eine prinzipielle Entscheidung vor aller weiterer Theoriebildung: Wie wird im jeweiligen theoretischen Zugang das Geist-Körper-Verhältnis konzeptualisiert? Diese Kardinalfrage (auch) der Cognitive Sciences (und eben nicht „bloß der Philosophie“) betrifft zutiefst jede klinische Theoriebildung, da es ja einer (Vor)Verständigung darüber bedarf, was unter dem Phänomen des Psychischen im Unterschied zum Physischen eigentlich verstanden werden soll, bevor man überhaupt darangehen kann, es theoretisch auszuleuchten.
Dualistische Zugänge begründen sich auf der Vorannahme eines vom Geist getrennten Körpers („cartesianisches Vorverständnis“[9]) und gehen folglich von einer eindeutigen Trennung von geistig/materiell, psychisch/physisch, innen/außen, selbst/anderer etc. aus. Wobei Phänomene nur entweder der einen oder der anderen Seite logisch zugeordnet werden können, d. h. etwas ist entweder psychisch oder physisch loziert, entweder innen oder außen usf. Diese dualistische Annahme charakterisiert forthin stillschweigend jedes Konstrukt, das auf der Grundlage eines solchen Vorverständnisses zustande kommt und findet sich in allen aus dieser Vorannahme hervorgehenden Denkfiguren wieder. Erst auf einem dualistischen Verständnis beruhend, erhalten u. a. theoretische Konstruktionen einer Psyche als einer eigenen Psyche, die innerlich ist, Emotionen, als eigene Emotionen, die innerlich sind etc. ihre Plausibilität. Die Vorstellung einer eigenen Psyche, die getrennt von der fremden Psyche zu denken ist, und die eindeutig als in den „Innenraum“ des Menschen verlagert zu denken ist, führt in der Folge zu entsprechend gebotenen Fragen: Wie kommt man an diese Psyche heran, die von außen unerreichbar ist, und vor allem wie kommt man hinein? Wie erkenne ich selbst meine Psyche, die mir – aus dualistischer Perspektive – als ein von anderen abgetrennter Binnenraum gegeben ist und – noch schwieriger – wie erkenne ich andere (Psychen und Menschen) und was bedeutet (mir) Beziehung zu diesen so ganz Anderen von mir Getrennten? Wie ist diese Relation, dieses „zwischen-dir-und-mir“, das doch – gefühlt – Berührung zulässt, zu konzeptualisieren? Eine Berührung an Grenzen, die – in einem dualistischen Vorverständnis – vor der Berührung bereits bestehen, wirft wiederum die Frage auf: Was berührt sich hier? Physisches? Psychisches? Usw. usf.
Fragen ganz anderer Art wirft hingegen ein nicht-dualistischer Zugang, wie die Phänomenologie ihn wählt, auf. Hier verzichtet man von Anfang an auf dichotome Trennungen, man unterscheidet ohne zu trennen. Man geht von einer leiblichen Verfasstheit des Geistes aus, von einem embodied mind und von nicht eindeutig zu trennenden Verhältnissen von innen/außen, Selbst/Andere usw. Dass hier prinzipiell nicht von einer inneren Psyche ausgegangen werden kann und sie auch nicht als ein rein geistiges, sondern als ein leibliches Phänomen zugänglich ist, hat – ganz analog zum dualistischen Vorverständnis – weitreichende Auswirkungen auf alle weiteren Konzeptualisierungen. Welche Phänomene für die klinische Praktiker*in nun „sichtbar“ werden, welche Fragen sich ergeben, über die nachgedacht werden kann und über die klinische Theorien entwickelt werden können, unterscheiden sich wesentlich von denen eines dualistischen Zugangs: ein Unterschied, der einen Unterschied von immenser Tragweite macht!
Überwindet man ein cartesianisches Vorverständnis, wie das eine phänomenologische Perspektive tut, können dann zum Beispiel Gefühle aus ihrer dualistisch konstruierten Enge der „Innerlichkeit“, Privatisierung und Irrationalisierung befreit werden, in die sie erst durch entsprechende Vorverständnisse hineingeraten sind, oder besser: hineinkonstruiert wurden.[10]
Sogar dem zentralen „Beobachtersatz“ der Systemtheorie kann mit der Sprache der Phänomenologie sein intellektuelles Gewicht und sein bahnbrechendes Erkenntnispotential zurückgegeben werden – und zwar noch weit über eine bloße Genesung von der von Tom Levold diagnostizierten Trivialisierung hinaus – und schließt an Diskurse an, die bei Gregory Bateson abgebrochen und bei Francisco Varela nicht wieder aufgegriffen wurden. Hier nur in aller Kürze eine Andeutung, um die Attraktivität einer phänomenologischen Perspektive für das Weiterdenken „alter“ Theoriebestände erahnbar zu machen:
In der Denktradition der im Konstruktivismus fundierten und damit in einem cartesianischen Vorverständnis verorteten systemtherapeutischen Konzepte gehen wir immer schon implizit von als bereits getrennt konzeptualisierten Individuen aus, die in ihrem „Inneren“ Wirklichkeiten konstruieren. „Wirklichkeitsbesitze“ stehen einander also so getrennt gegenüber wie zwei „Beobachter“ [11]. Beziehung ist hier folglich zwar als aufeinander bezogene Gegenseitigkeit, nicht aber als Wechselseitigkeit (von der allerdings aus einer systemischen Perspektive – Stichwort: Rekursivität – auszugehen wäre) konzeptualisierbar.
Auch auf die Gefahr hin, dass die hier gebotene Kürze auf Kosten der prinzipiell ebenso gebotenen Genauigkeit geht – knapper ausgedrückt: Im Konstruktivismus geht man von bereits abgegrenzten „Subjekten“ aus[12], die durch Unterscheidungsprozesse Relationen hervorbringen. Im nicht-dualistischen Zugang der Phänomenologie denkt man anders, nämlich genau umgekehrt: Hier entspringt der (Erfahrung von) Relation die (Erfahrung von) Subjektivität (im Sinne abgegrenzten Selbst-Erlebens).[13]
Noch einfacher gesagt: In einem dualistischen Vorverständnis „machen“ Subjekte Beziehungen (Relationen), im zweiten Fall „machen“ Beziehungen (Relationen) Subjekte. Im ersten Fall wird Identität und Subjektivität also als gegenseitig verfasst konzeptualisiert (Selbstdifferenzierung findet „an-einander“ statt), im zweiten Fall als wechselseitig verfasst (Selbstdifferenzierung findet „durch-einander“ statt).
(Getrenntes) Zusammen reimen
Aber mein Abenteuer hatte hier erst begonnen. Denn die Phänomenologie hat mir zwar einige meiner Scheuklappen genommen und mir einige Ungereimtheiten in Bezug auf die mir geläufige Interpretation der Systemtheorie aufklären geholfen (und mir ermöglicht, mir neue Reime zu machen), aber sie ist eine philosophische und keine psychologische Wissenschaft. Sie interessiert sich (u. a.) für die wissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins, nicht für die Fundierung psychologischer und klinischer Theorien.
Sie verhalf mir aber zunächst, auf der Höhe der Zeit und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen interdisziplinären Diskurse innerhalb der Cognitive Sciences die Erkenntnistiefe der Systemtheorie weiter auszuloten und weiter zu denken – über die Grenzen der innerhalb des Binnendiskurses mir bekannten und tradierten Auslegungen hinaus.
Eine im Bezugsrahmen der Phänomenologie verankerte Systemtheorie ist also ein fundierter Ausgangspunkt. Von ihm ausgehend und weitergehend, mussten aber noch Anschlussstellen an einen klinischen Diskurs gesucht werden, innerhalb dessen klinisch relevante Phänomene der psychotherapeutischen Praxis identifiziert und ausgeleuchtet werden können. Wie alle, die sich auf abenteuerliche Reisen begeben, war auch ich auf Glück angewiesen; auf Zufälle, die sich zur rechten Zeit ergeben mögen. Das Glück, das mir zu Hilfe kam, lag in einer der vielen bereichernden Begegnungen mit meinem Kollegen Werner Lausecker, einem kritisch denkenden systemischen Therapeuten und Historiker, der mich auf Ungereimtheiten noch ganz anderer Art aufmerksam machte: Nämlich auf das dominante Narrativ, mit dem der Gründungsmythos der Systemischen Therapie von Generation zu Generation überliefert wird.
In dieser, mündlich wie schriftlich weitergegebenen Erzählung, wird das zentrale Motiv für die (Be)Gründung der Systemischen Familientherapie in der unausweichlichen Notwendigkeit einer Trennung und Ablösung vom psychoanalytischen Paradigma verortet, was aber aus historischer Perspektive interessanterweise gar nicht belegt werden kann. So findet sich etwa im Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung die Geschichte zur Entstehung der Familientherapie unter der Überschrift: „Von der Psychoanalyse zurMehrgenerationentherapie“[14], als hätte die Konzeptualisierung von Mehrgenerationalität den Rahmen psychoanalytischer Selbstverständnisse gesprengt – was historisch eindeutig unrichtig ist, im Gegenteil: Die Erkenntnis der Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für psychische Entwicklung und folglich die Hinwendung zum Mehrpersonen- und Mehrgenerationen-Setting führte zu einem bahnbrechenden Paradigmenwechsel innerhalb der Psychoanalyse, einem evolutionären Driften ihrer Theorie(n). Der in der erregten Aufbruch- und Abbruchstimmung der 1980er-Jahre ausgerufene Paradigmenwechsel als „(…) kopernikanische Revolution in der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalytischen zum systemischen Paradigma“[15] insinuierte eine Unvereinbarkeit, die durch diese Parole erst heraufbeschworen wurde. Der Abbruch des Dialogs mit den Kollegen und Kolleginnen, mit denen man bislang gedeihlich geforscht und zusammengearbeitet hatte, war nicht die Folge davon, dass man sich mit dem Aufkommen systemischer und kybernetischer Betrachtungsweisen nichts mehr zu sagen hatte; sondern weil „man“ die Gespräche abbrach, konnte man sich nichts mehr sagen. „Der Paradigmenwechsel kommt zeitlich nicht nach der Psychoanalyse, sondern ist wesentlich durch sie initiiert worden. Verstellt wird diese Sicht durch eine bestimmte Psychoanalyse-Rezeption, (…) die richtig gestellt zu werden verdient.“[16]
Auch hier nur angedeutet, was verdient hätte, in der Tiefe noch weiter ausgeführt zu werden: Wie immer bei ideologischen Schismen kann man von einer Gemengelage an komplex determinierten Interessen ausgehen, die als Motive hinter radikalen Ab- und Ausgrenzungsprozessen stehen, und deren Rekonstruktion von großem Wert wäre, um sich bewusst(er) mit der eigenen Herkunft und Identität auseinandersetzen zu können. „Die Geschichte des systemischen Ansatzes ist (mit wenigen Ausnahmen) ein wissenschaftlich weitgehend unbearbeitetes Feld, das hoffentlich bald auch für Historiker interessant wird“, schreiben dazu Tom Levold und Wolf Ritscher.[17] Werner Lausecker ist einer derer, die dieser lohnenden Aufgabe seit längerem seine Zeit und Expertise widmet. Als Vertiefung sei an dieser Stelle auf seine Publikationen in den Systemischen Notizen verwiesen, die mit großem Gewinn zu lesen sind.[18]
Auf meiner Reise brachte diese Begegnung mit Werner aber darüber hinaus noch etwas ganz anderes. Als an Psychoanalyse interessierter und kenntnisreicher Kollege machte er mich auf eine mir bis dahin völlig entgangene Entwicklung innerhalb der modernen analytischen Schulen aufmerksam und ich begann mich – zunächst ein wenig verschämt darüber, so lange nicht über den Tellerrand geblickt zu haben, als gäbe es ein Sprech- und Leseverbot, das mir Einhalt geböte –, mit den gegenwärtigen Entwicklungen auf psychoanalytischem Boden vertraut und kundig zu machen: Und tatsächlich, verfolgt man die Entwicklungen innerhalb der psychoanalytischen Schulen, die seit den 1980er-Jahren, also in den letzten vierzig Jahren, stattgefunden haben, lässt sich das tradierte Narrativ, die Besinnung auf das relational verfasste, mit seiner Umwelt kommunizierende und interagierende Individuum hätte zum Bruch mit dem psychoanalytischen Paradigma geführt, nicht weiter aufrechterhalten. Im Gegenteil: Diese „Besinnung“ ist nicht nur seit den 1950er-/1960er-Jahren fundamentaler Bestandteil innerhalb der Vielfalt psychoanalytischer Zugänge, sondern wurde (wie in vielen anderen Schulen und Disziplinen) ab den 1980er-Jahren durch die Erkenntnisse der Systemtheorien weiterentwickelt. Man spricht von dieser Entwicklung als „intersubjektive Wende“ oder dem „relational turn“ innerhalb der Psychoanalyse.[19]
(Auch) die Rezeption systemtheoretischer Zugänge innerhalb der Psychoanalyse hat die Vorstellung von einer Therapeut*in und einer Klient*in als „detached observer“ abgelöst und zu einem Verständnis der therapeutischen Begegnung und Beziehung als relational und intersubjektiv organisierte Dynamik geführt. Die Integration der Wissens- und Erkenntnisbestände aus der Bindungs- und Säuglingsforschung haben entscheidend dazu beigetragen, das in den Anfängen der Psychoanalyse dominante dualistische Vorverständnis fundamental in Frage zu stellen:
„An Boden verlor die Monadentheorie[20] jedoch erst, als eine empirische Säuglings-, Bindungs- und Psychotherapieforschung uns Einsichten in die intersubjektive Natur der menschlichen Seele eröffnet hat.“[21]
„Ein Paradigmenwechsel findet statt, der quer zu den Strömungen verläuft und inzwischen all ihre Schulen ergriffen hat. Auf eine knappe Formel gebracht, bedeutet Intersubjektivität, dass der Mensch sich von Geburt an mit anderen Menschen verbunden fühlt und dass sich diese Verbundenheit in seiner psychischen Struktur niederschlägt: Innen und Außen sind miteinander aufs Engste vernetzt. (…) Intersubjektivität verweist auf zwischenmenschliche Bezogenheit als Fundament der Conditio humana – im positiven wie im negativen Sinne.“[22]
Und weiter: „Inzwischen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Zukunft nicht in einer weiteren Zersplitterung liegt, sondern die Suche nach einem gemeinsamen Fundament erfordert. Die Gegenwartspsychoanalyse ist dabei, unter dem Paradigma der Intersubjektivität diesen ‚common ground‘ freizulegen. Schulenübergreifend beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass das Seelenleben des Menschen bis in seine unbewussten Tiefen hinein mit der sozialen Umwelt verbunden und auf andere Menschen bezogen ist: Die Psyche selbst ist intersubjektiv verfasst.“[23]
Was ich also auf meiner abenteuerlichen Reise in die Fremde gefunden habe, war nicht nur die Erkenntnis, dass die Fremde so fremd gar nicht ist, sondern dass man dort in den letzten Jahrzehnten die Erschließung der Systemtheorie für die klinische Praxis noch viel weiter vorangebracht hatte, als mir das aus dem Binnendiskurs der Systemischen Therapie bekannt ist. Die Überwindung eines dualistischen, cartesianischen Verständnisses hat „die Psyche“ aus der black box befreit und sie als ein sich intersubjektiv organisierendes Phänomen konzeptualisierbar gemacht. Eine Konzeptualisierung der Psyche als intersubjektiv verfasst – und damit als prinzipiell zugängliches Phänomen – wurzelt tief in einem systemischen Verständnis. Für mich war das eine umwerfende Entdeckung, denn das bedeutet, dass aus dieser Perspektive die theoretischen Konzeptualisierungen von klinisch relevanten Phänomenen – und zwar einschließlich des bislang aus der Theoretisierbarkeit ausgeschlossenen „erlebten“ und „gelebten Lebens“ – auf der Grundlage eines systemtheoretischen Paradigmas möglich ist.
Meine Recherchen führten mich weiter in die Selbstpsychologie[24], zu den Arbeiten einiger Pionier*innen und Urheber*innen der Intersubjective Systems Theories[25] und einer damit nun schon seit mehreren Jahren vertieften Beschäftigung. Ich sehe mittlerweile in den Intersubjective Systems Theories, wie sie innerhalb der Selbstpsychologie reflektiert und rezipiert werden, das intellektuelle und klinische Potential, jene systemtheoretischen Konzepte weiterzudenken, die auch aufgrund einer innerhalb des Binnendiskurses seit den 1980er-Jahren gültigen Vorverständigung auf einen cartesianischen Dualismus nicht mehr in eine dynamische Weiterentwicklung gekommen sind.
Christina („Tina“) Lenz, meine Kollegin an der Lehranstalt und mir seit vielen Jahren vertrauteste Freundin, hat mich bei all diesen Abenteuern unerschrocken begleitet und ist – mal mir folgend, mal mir vorausgehend – auf all diesen Wegen an meiner Seite geblieben. Ohne sie wären mir die Quests, mit denen ich in mein Abenteuer gezogen bin, eine viel zu große Aufgabe gewesen.
Poetry Slam
Gemeinsam überdenken, entwickeln, erproben, befragen und beforschen wir – so sorgfältig wie kreativ – diese neuen Blickwinkel und was für uns durch sie sichtbar wird. Auf der Grundlage dieser intensiven Beschäftigung machen wir seit dreieinhalb Jahren ganz neue und vielversprechende Erfahrungen mit unseren Studierenden, was die Vermittlung des Theorie-Praxis-Bezugs und im Besonderen die theoretische Ausleuchtung klinisch relevanter Phänomene betrifft. Möglich ist uns geworden, nicht nur das „erzählte“ Leben, sondern auch das „gelebte“ und „erlebte“ Leben aus einer systemisch fundierten Perspektive auszuleuchten und damit theoretische „Lücken zu füllen“, die in der Praxis von großer Bedeutung sind. Dazu gehören unserer Erfahrung nach besonders: Die systemtheoretisch fundierte Konzeptualisierung von Emotionen, von (Un)Bewusstsein, von Leib/Körper und Theorien zur Organisation von „Selbst“(-erleben), die untrennbar mit Fragen nach Alterität und nach Selbst/Fremd-Erleben verbunden sind. Für unerlässlich halten wir die Integration der gegenwärtigen Wissensbestände aus der Bindungs- und Säuglingsforschung ebenso wie eine systemisch fundierte Konzeptualisierung der therapeutischen Beziehung als Agens von Veränderung (Prozesse wechselseitiger Übertragungen).
Wir glauben – und unsere Studierenden bestärken uns in dieser Annahme – diese Weiterentwicklung der „alten Sehhilfen“ ist erforderlich, um adäquat auf die Fragen gegenwärtiger Praxis antworten zu können, besonders dort, wo wir mit unseren Klient*innen in ein Fallverstehen hineinfinden, in dem es nicht um die Dekonstruktion von Problemen, sondern um die Stärkung des Selbsterlebens und um Prozesse der Selbstaufrichtung geht. Das ist vor allem in langen Therapieprozessen der Fall, in der Arbeit mit traumatisierten Menschen, mit emotional schwer erreichbaren Klient*innen und in der psychotherapeutischen Arbeit im Kontext existentieller Leiderfahrungen. Und natürlich – last, not least – erforderlich für eine systemisch fundierte Konzeptualisierung von (Einzel- und Gruppen-) Selbsterfahrung als integralen und unabweisbaren Beitrag zum Professionalisierungsprozess angehender Psychotherapeut*innen.
Während einer der vielen vielen Stunden, die Tina und ich damit zubringen, diese (Selbst)Entwicklungsarbeit voranzubringen, sagte sie einmal ganz spontan zu mir: „Weißt du eigentlich was wir hier machen?! Wir arbeiten an der Kybernetik III!“– Wir lachten bis uns die Tränen über die Wangen liefen und danach gab ich Tina nicht nur ein Taschentuch. Ich gab ihr auch … recht.
Die Sprache des Dialogs ist die Poesie der Differenz
Ruth Krumböck, die seit zweieinhalb Jahren als Direktorin die la:sf leitet und die sich dem Gedanken des Dialogs in Differenz, ja des Dialogs überhaupt und des Denkens out of the box in einer Weise verbunden fühlt, als wäre nichts selbstverständlicher als das, erdet meine Abenteuerreise. Die unkomplizierte und aufgeschlossene Weise, mit der sie in kurzer Zeit Initiativen unterschiedlichster Art gesetzt hat, die den Dialog mit anderen Therapieschulen nicht nur suchen, sondern auch finden, lässt mich der Lehranstalt für Systemische Familientherapie – an ihrem 40. Geburtstag – vor allem zu ihren offenen Türen gratulieren, die sie als Ort der Gastfreundschaft und der Begegnung überzeugend ausweisen.
Mit den Kolleg*innen aus dem Wiener Kreis für Psychoanalyse und Selbstpsychologie (WKPS) ins Gespräch zu kommen, lag auf der Hand: Unsere erste Einladung, die einer aufrichtigen Neugier und einem unvoreingenommenen Interesse entsprang, wurde ohne Zögern mit derselben Unbefangenheit und Herzlichkeit seitens des WKPS angenommen. Ein gemeinsames Gespräch hatte wie von selbst begonnen und nimmt seither seinen Lauf, getragen von einem lebendigen und herzlichen Interesse aneinander; ein gemeinsames Suchen nach Sprache, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach Vertrautem und Unbekanntem und allem, was zwischen diesen vermeintlich dichotomen Gegensätzen liegt; berührende Gespräche – in vielerlei Hinsicht: Gespräche, die im aufeinander Antworten Raum und Zeit geben, damit sich Nähe und Ferne selbst aussagen können anstatt bereits als Aussage vor jedem Dialog festzustehen; ein Zauber, der im Miteinander-Sprechen möglich werden kann. „Berühren ist der Augenblick der Berührung und der Erfahrung der Fremdheit. Es läßt uns fühlen, was uns fühlen läßt (was fühlen wirklich ist): die Ferne, das Streben nach inniger Nähe“[26], wie Jean-Luc Nancy diesen Zauber so poetisch ins Wort fasst.
Spontan ergab sich in der angeregten Stimmung der ersten Zusammenkünfte ein erster Name für diese Begegnungen, die hier in Gang gekommen waren – ein Name, der allen unmittelbar stimmig erschien: WI(E)DER SPRECHEN.
Werfe ich von hier aus noch einmal einen Blick zurück auf den Beginn meiner Reise ins Abenteuer, dann würde ich zusammenfassen: Wir gehen immer schon von etwas aus, wenn wir losgehen. Mitunter gehen wir zu weit, oft aber auch nicht weit genug. Um das rechte Maß zu finden, meine ich, braucht man den/die/das ANDERE, das Gespräch. Den Dialog in Differenz. Mehr(-)Stimmigkeit durch Vielstimmigkeit.
Alles Schöpferische, schrieb Karl Jaspers – so schön, dass ich mich kaum daran satt lesen kann – alles Schöpferische ist unvoraussehbar. „Kommunikation, das ist das Leben mit dem Anderen, wie es im Dasein auf mannigfaltige Weise vollzogen wird.“[27] Und er spricht dabei von Kommunikation als einer, „(…) in der ich eigentlich erst mein Sein weiß, indem ich es mit dem Anderen hervorbringe.“[28]
Das Eigene und das Fremde, innen und außen zu unterscheiden, aber nicht zu trennen – an diesen Ursprung meines systemischen Verständnisses sehe ich die la:sf – und mich – wieder anknüpfen: Out of the (black) box. Denn damit war nie ein Raum angedeutet, der ein geschiedenes Innen und Außen repräsentiert, sondern ein Möbiusband, lernte ich in einem meiner ersten Ausbildungsseminare vor mehr als dreißig Jahren. Es symbolisierte damals das Um- und Anders-Denken „alter“, cartesianischer Denkgewohnheiten. Das Möbiusband ist eine Fläche, die nur eine Kante und eine Seite hat! Es handelt sich dabei um kein abstraktes Gedankenexperiment, sondern um eine Fläche, z. B. einen Papierstreifen, den man mit einem kleinen Dreh zu einer Schlaufe mit sich selbst zurückbindet und den man dann tatsächlich ganz konkret mit der Hand berühren und dabei im Entlangfahren mit den Fingerspitzen zwischen innen und außen unterscheiden, beides ertasten kann; aber das Innen und Außendieses Möbiusbandes lassen sich weder konkret-handgreiflich noch abstrakt-mathematisch trennen: Sie bilden immerzu eine Fläche, eine Kante, eine Seite.
Come in, come out – you’re welcome!
Literatur
Altmeyer, M., Thomä, H. (Hrsg.) (2016). Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.
Buchholz, MB. (1981). Psychoanalyse – Familientherapie – Systemtheorie: Kritische Bemerkungen zur These vom Paradigmawechsel. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 30 (1981) 2, S. 48-55. Online verfügbar unter http://psydok.psycharchives.de/jspui/bitstream/20.500.11780/1457/1/30.19812_3_28335.pdf_new.pdf, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
Guntern, G. (1980). Die kopernikanische Revolution in der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalytischen zum systemischen Paradigma. Familiendynamik 1980 (1), S. 2–41.
Jaspers, K. (1973). Philosophie II (4. Aufl.). Online verfügbar unter https://jaspers-stiftung.ch/de/karl-jaspers/kommunikation, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
Levold, T., Wirsching, M. (Hrsg.) (2014). Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl-Auer.
Levold, T. (2019). Hören 1. und 2. Ordnung. Warum Zuhören mehr ist als Wissen, was gesagt worden ist. In: KONTEXT 50, 1, S. 26–44. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Online verfügbar unterhttps://doi.org/10.13109/kont.2019.50.1.26, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
Lausecker, W. (2018). Hilde Bruch – Der andere Weg in der Psychotherapie der Essstörungen „and the person within“. Eine biografische und psychotherapeutische Spurensuche und ein aktueller Ausblick. Systemische Notizen 2018(1), S. 14–24. Online verfügbar unter https://www.lasf.at/wp-content/uploads/2019/04/Notizen_1.18_Lausecker.pdf, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
Lausecker, W. (2018). Between The Times They Are A-Changin’ and Norwegian Wood. Prolegomena zu einer Geschichte der Relationen von Systemischen Therapien und Psychoanalysen. Systemische Notizen 2018(3), S. 14–23. Online verfügbar unter https://www.lasf.at/wp-content/uploads/2019/07/Notizen_3.18_Lausecker.pdf, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
Lieb, H. (2014). Störungsspezifische Systemtherapie. Konzepte und Behandlung. Heidelberg: Carl-Auer.
Nancy, J-L. (1999). Die Musen. Stuttgart: Legueil. Zitiert in: Waldenfels, B. (2002), S. 80.
Schlippe, A. v., Schweitzer, J. (2013). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Patocka, J. (1990/1936). Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Stuttgart: Klett-Cotta. Zitiert in: Welter-Enderlin et al. (1998), S. 16.
Ritscher, W., Levold, T., Foertsch, D., Bauer, P. (Hrsg.) (2017). Erkunden, erinnern, erzählen. Interviews zur Entwicklung des systemischen Ansatzes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (1998). Gefühle und Systeme. Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg: Carl-Auer.
[1] Achja, und dann war da natürlich auch noch, viertens, mein mir damals gar nicht bewusster Wunsch „die Menschen zu retten“ (in aller erster Linie wohl erstmal mich selbst): ein Umgetriebensein von einer Sehnsucht, von der ich heute – seit ich der Frage nach Motiven, also nach emotionalen Beweg-Gründen für das eigene Tun und Lassen als Psychotherapeut*in große Aufmerksamkeit schenke – entdecke, dass ich sie mit gar nicht so wenigen Kolleg*innen teile; und es werden immer mehr, je mehr ich es wage, danach zu fragen und ich frage danach immer öfter, weil mir die Relevanz der eigenen Lebensgeschichte, der Geschichte unserer Beziehungen und damit die intersubjektive Konfiguration unserer Erfahrungen als wichtigster Kontext erscheint, in dem zu verstehen ist, welchen (klinischen) Theorien wir „anhängen“ und welchen wir mit Skepsis begegnen.
[2] Levold, 2019, S. 27f.
[3] Levold et al., 2014, S. 58.
[4] Ebd.
[5] Welter-Enderlin et al., 1998, S 16.
[6] Patocka, 1990, zitiert in: ebd.
[7] Die Physikalisierung der Wahrnehmung im Sinne einer Reduktion auf unspezifische elektrische Reize, die ihre Spezifikation erst higher order-Kognitionen verdanken, tauchen z. B. im „Prinzip der undifferenzierten Codierung“ bei Foerster und Glasersfeld wieder auf und in der „Neutralität des neuronalen Codes“ bei Gerhard Roth (vgl. Waldenfels, 2002, S. 102).
[8] Francisco Varelas Weiterentwicklung der von ihm und Maturana entworfenen „biologischen Erkenntnistheorie“, weg von einem kognitivistischen und hin zu einem verkörperten Bewusstseinsverständnis („embodied mind“), also zu einer phänomenologischen Fundierung, wurde – soweit ich das überblicke – im systemtherapeutischen Binnendiskurs nicht aufgegriffen und weiterreflektiert – das „Mit-Driften“ mit dieser identitätsstiftenden Theorie ist somit ausgeblieben.
[9] Res extensa (die „räumlich ausgedehnte Sache“/Materie) und res cogitans (die „denkende/zweifelnde Sache“/Geist)
[10] Vgl. Waldenfels, 2002, S 10.
[11] Vgl. dazu z. B. Lieb, 2014, S. 27: „In der modernen Systemtheorie steht am Anfang der Beobachter, der eine Unterscheidung trifft.“ (H. d. V.)
[12] „Beobachter*innen, die ‚ich‘ sagen können.“
[13] „Subjekte, die ‚du/ich‘ sagen können.“
[14] Schlippe et al., 2013, S. 36 (H. d. V).
[15] Guntern, 1980, S. 2 (H. d. V).
[16] Buchholz, 1981, S. 48.
[17] Ritscher et al., 2017, S. 15.
[18] Lausecker, 2018(1) und 2018(3).
[19] Altmeyer & Thomä, 2016, S. 8.
[20] Gemeint ist hier: Eine Abkehr von Konzepten, die die Organisation psychischer Prozesse als isoliert ablaufende Dynamiken in isolierten Individuen auffasst, stattdessen sind Beziehungen und Organisation von psychischer Selbstorganisation nicht getrennt voneinander zu verstehen. „Der Mensch ist keine Monade – er wird vielmehr in menschliche Beziehungen hineingeboren, gewinnt durch soziale Beziehungen hindurch ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und bleibt bis ins hohe Alter auf solche Beziehungen angewiesen.“ (Altmeyer & Thomä, 2016, S. 8).
[21] Altmeyer & Thomä, 2016, S. II.
[22] Ebd., S. 5.
[23] Ebd., S. 7.
[24] „Die Selbstpsychologie wurde als Weiterführung der Psychoanalyse Sigmund Freuds in den 1960er und 1970er Jahren von Heinz Kohut (1913, Wien – 1981, Chicago) begründet. Das “Selbst“ des Menschen, wie es sich von seinen Ursprüngen her im Austausch mit den frühen Bezugspersonen entwickelt, steht im Mittelpunkt des selbstpsychologischen Interesses und der selbstpsychologisch-psychoanalytischen Arbeit.“ Qnline verfügbar unter https://www.selbstpsychologie.at/psychoanalyse-selbstpsychologie, zuletzt geprüft am 07.03.2023.
[25] Verbunden mit den Namen Bernard Brandchaft, Robert D. Stolorow, George E. Atwood und Donna M. Orange.
[26] Nancy, 1999, S. 32.
[27] Jaspers, 1973, S. 51.
[28] Ebd.
Kontaktanschrift der Autorin: evelyn.niel-dolzer@chello.at