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Cornelia Tsirigotis: Schreiben – ein dialogisches Medium?

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Schreiben habe ich eigentlich nicht gemocht und nicht gekonnt. Meine Deutschnoten aus der Schulzeit verrate ich niemandem. Allenfalls Briefe habe ich geschrieben, wenn ich etwas zu erzählen oder meine jugendlichen Lebensphilosophien an FreundInnen heranbringen wollte. Später, im Griechenlandjahr 1981, im Bergdorf ohne Wasser und Strom waren Papierbriefe sowieso das einzige Medium des Kontaktes mit Familie und FreundInnen in Deutschland.
Lesen allerdings war ab den ersten Monaten in der Schule meine Lieblingsbeschäftigung. Wenn ich kein neues Buch hatte, las ich die bereits gelesenen noch einmal und entdeckte Neues darin. Die Eltern drehten mir die Sicherungen heraus, damit ich nachts auch schlief und nicht nur las. Im griechischen Bergdorf las ich mich beim Licht der Petroleumfunzel durch die Leitartikel der Zeitung, durch die Dichter, Ritsos, Seferis …
Mein Verhältnis zur Fachliteratur oder zu politischen Texten jedoch war ein sehr gespaltenes – ich studierte nicht gerade kurz in den Siebzigern, und die Studentenbewegung prägte noch meinen Hochschulalltag. Mir fehlten Zugang und Biss zu den Themen des Studiums. Auch das Marxsche Kapital erschloss sich mir nicht wirklich in die Tiefe gehend – wenngleich ich mir in der heutigen Krise manchmal wünsche, ich hätte mehr behalten als den „tendenziellen Fall der Profitrate“.
Geändert hat sich das mit dem Zugang zu systemischen Ideen und der Ausbildung am IF Weinheim. Das hatte auch damit zu tun, dass ich begann, mir ein Berufsfeld „Frühförderung“ zu erobern, in dem ich parallel zur Ausbildung reflektierte, experimentierte, implementierte… Ich las mich durch die – im Vergleich zu dem pädagogischen „Kram“ im Studiums – aus meiner Sicht viel zugänglicheren und spannenderen Texte systemischen Texte durch, fand erstmals im Leben in Fachliteratur Anstöße zum Weiterdenken und Antworten auf Fragen, kam auf neue Fragen, machte Fragenkataloge, notierte mir Reflexionen aus den Begegnungen mit KlientInnen. Als ehemalige Berichtsmuffelin begann ich sogar, Gespräch mit Eltern zu dokumentieren. Systemische Zugänge zur Arbeit in der Frühförderung fand ich viel hilfreicher als die bisherigen pädagogischen Anleitungsansätze und ich war sehr begeistert davon. Ich glaube, diese Kombination von „hilfreich“ und „begeistert“ waren der Sp(i)rit für den Motor der Weiterentwicklung, der Reflexion, der Auseinandersetzung mit dem, was da täglich geschah.
Ich machte mir Notizen, begann damit aufzuschreiben, was mir über meine Arbeit oder über das, was ich gelesen hatte – und die Verbindung von beidem – durch den Kopf ging. Bücher waren gespickt mit bunten Heftklammern und Klebezetteln. Die Notizzettel spießte ich auf einen Spies, wie sie früher Metzger oder KellnerInnen für die Quittungen benutzten, damit sie nicht vom Schreibtisch geweht wurden, und mit dem ersten Computer übte ich mich im Schreiben und Speichern. Die Ordner „Aufdröseln“ und „Ideen“ zeugen vom Festhalten aller möglichen Gedankenfetzen… Die Verbindung von Theorie und Praxis und ihre gegenseitige Bereicherung wurden für mich spürbar.
Zugleich mussten auch die Kolleginnen im Team meine Begeisterung über sich ergehen lassen. Beim morgendlichen Joggen, beim Autofahren (Frühförderung ist aufsuchende Arbeit, und ich fuhr viel über Land) führte ich innere Dialoge mit Kolleginnen, vor allem auch mit Chefs und Teamleitungen, die einen Paradigmenwechsel in der Frühförderung anstießen. Manchmal hielt ich an, um etwas zu notieren. Auf jedem Zettel, in jeder Notiz und später bei jedem Text, wurde jemand „angeschrieben“, ich hatte und habe noch meine DialogpartnerInnen vor Augen, wenn ich schreibe.
Mit wohlwollender Unterstützung von systhema-Redakteuren (Dank an Arist, Haja und Wolfgang!!) gab es den ersten kleinen Text über Virginia Satir und die ersten Rezensionen verrieten die Begeisterung beim Lesen von Fachbüchern. Meinen ersten Buchbeitrag über Gruppen – hatte ich doch das Frühförderteam lange genug „genervt“, also am Nerv für sinnvolle Angebote getroffen, unser Gruppenangebot zu vergrößern, lese ich heute noch gern.
Der Gewinn des Schreibens lag oder liegt ja nicht nur im Anfühlen einer Zeitschrift oder eines Buches, wenn sie dann fertig vorliegen. Der eigentliche Gewinn erweist sich für mich darin, dass sich durch das Schreiben und Veröffentlichen etwas bewegt. Schreiben legt und hinterlässt Spuren hilfreicher Veränderungen (Wolfgang Loth 1998) nicht nur in den Beziehungen zu KlientInnen. Texte wirken auch in der öffentlichen Diskussion mit Vorgesetzen, Ministerien, GeldgeberInnen, über Themen wie: von wem und wie viel Frühförderung zu finanzieren sei, dass ein Rehabilitationstag nach CI-Implantierung auch Beratung umfassen muss, oder derzeit in Fragen von Inklusion: wie und wo Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihren Lernbedürfnissen gerecht unterrichtet werden sollen.
Wenn sich der Arbeitsalltag verändert, im Hauptberuf vom täglichen Arbeiten und Sprechen mit KlientInnen zur einer größeren Betonung von leitenden und moderierenden Aufgaben und im Schreibenshobby vom Scheiben zum Herausgeben und andere-zum-Schreiben-Anregen, dann bleibt nicht mehr so viel Zeit zum intensiven Durcharbeiten und längere-Texte-Schreiben. Wenn ich ältere Texte von mir selbst lese, erstaune ich immer, wie ich das fertig gebracht habe. Vor einigen Wochen erschien ein Buch, für das ich den Text 2010 geschrieben habe, der letzte Text, bevor ich die Leitungsstelle in Frankfurt angetreten habe. Ich hatte ihn fast vergessen und er hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Ich war ganz berührt beim Lesen der Fallgeschichten, die von Ressourcenorientierung und Empowerment erzählen und der Beschreibung der beraterischen Arbeit, die Familien respektvoll den Rahmen für ihre eigene Wege- und Spurensuche steckt. Es sind auch die Klientinnen, die innere DialogpartnerInnen im Schreibensprozess sind: Texte strotzen nur so vor gezogenen Hüten vor ihrem Leiden und dessen Bewältigung.
Schreiben ist also doch ein dialogisches Medium. Ich hatte diesen Satz als Zitat dem Dichter Peter Paul Zahl zugeschrieben, finde jedoch beim Recherchieren, dass mir da etwas passend verdreht habe, er redet von einem monologischen Medium. Vielleicht nicht entweder-oder, sondern beides. Meine inneren Dialogpartner sind eher zustimmend und widersprechen selten… Vielleicht so:
„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“ (Jean Paul)

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