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Petra Bauer: Fallstudien verfallen

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Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber meine Begeisterung für systemisches Denken entsprang einem Ort, an dem man diese Begeisterung bis heute selten vermutet: einer traditionsreichen deutschen Universität. Genau gesagt war es die Eberhard Karls Universität zu Tübingen, die sich im Übrigen derzeit mit dem bemerkenswerten Claim „Innovativ.  Interdisziplinär. International. Seit 1477“ (www.uni-tuebingen.de/aktuelles/veroeffentlichungen/imagebroschuere.html) schmückt. Innovativ war sie selbstverständlich auch schon Ende der 1980er Jahre, als ich dem Ende meines Pädagogikstudiums entgegen strebte. In ihren altehrwürdigen Gemäuern war neben viel Historischem auch Platz für Neues und einer dieser Plätze war ein von Ewald Johannes Brunner  geleitetes Seminar zu Konzepten der Familientherapie. An die einzelnen Inhalte des Seminars kann ich mich, soviel muss ehrlicherweise eingestanden werden, nicht mehr so genau erinnern. Aber dass ich mit der abschließenden Hausarbeit zur Familientherapie der Mailänder Schule und der Lektüre ihrer faszinierenden Schriften (vor allem ‚Magersucht‘ von Mara Selvini-Palazzoli und natürlich ‚Paradoxon und Gegenparadoxon‘ von der gesamten damaligen Mailänder Gruppe) Wochen und Monate zugebracht habe, das ist mir eindrücklich  im Gedächtnis geblieben. Letztlich habe ich diese Hausarbeit dann viel zu spät abgegeben, was sicher nicht nur der vertieften Beschäftigung mit den paradoxen Interventionen, sondern auch einigen unaufschiebbaren handlungspraktischen Zwängen, die Studierende bis heute chronisch plagen, geschuldet war. Dennoch: spätestens nach erfolgreicher Abgabe war ich der der Suggestionskraft der leicht dahin geschriebenen Bücher und den vermeintlich so spielerisch daherkommenden Interventionen der Mailänder Gruppe völlig erlegen.
Es war sicher auch nicht ihre Schuld, dass ich in meiner ersten beruflichen Praxis als Sozialpädagogin in der Psychiatrie mit den Erträgen meiner intensiven Lektüre schnell an die Grenzen stieß. Die reale Welt einer großen psychiatrischen Landesklinik war ganz anders als gedacht und überraschend schnell änderte sich dort erstmal gar nichts. Hätte ich den Klassiker von Erving Goffman ‚Asyle‘ und seine scharfsinnige Analyse psychiatrischer Anstalten als totaler Institutionen früher gelesen, wären mir manche harten Erfahrungen mit der Institution vielleicht erspart geblieben, aber diese Lektüre kam erst später, als ich das Buch im Rahmen meiner Dissertation häppchenweise durchgearbeitet habe. Das ist nicht gerade leichte Kost, auch wenn amerikanische Soziologen allemal verständlicher schreiben als ihre deutschen Kollegen (allen voran der systemische Übervater Luhmann).
Was sich aus meiner Psychiatriezeit und der damit verbundenen Ernüchterung bis heute gehalten hat, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber vermeintlich schnell wirkenden Interventionen und viel-versprechenden Methoden. Daher lese ich in der Regel auch keine Methodenbücher. Geblieben ist mir  auch die Suche nach einem umfassenderen Verständnis von psychischen Krankheiten. Dabei sind mir viele Bücher aus den Reihen systemischer Vordenker und Nachdenker wichtig geworden; hängen geblieben bin ich dann aber vor allem an der Geschichte von Alfred, einem als schizophren diagnostizierten jungen Mann. Alfreds Familie wurde von dem Soziologen Bruno Hildenbrand über eine lange Zeit intensiv teilnehmend beobachtet oder vielleicht in diesem Fall besser, im Alltag begleitet. In „Alltag und Krankheit“ hat er seine Beobachtungen zu einer ethnographischen Fallanalyse verdichtet, die einen romanhaft hineinzieht in die Geschichte, das alltägliche Leben und die alltäglichen Dramen dieser Familie. Dass es nicht beim puren Einblick bleibt, ist der Rückbindung der Beobachtungen an soziologische Theorien – der Lebenswelt, der Phänomenologie u.a. – zu verdanken. Dieses familiendynamische und phänomenologische Verständnis von psychischen und anderen ‚Störungen‘ finde ich bis heute allemal spannender und auch systemischer als so manche naturwissenschaftlich angehauchten Systemtheorien. Aber natürlich kann man das nicht so einfach gegeneinander ausspielen.
Mit Alfred bin ich nicht nur einem Modell, sondern auch einer Forschungsmethode verfallen, der qualitativ-rekonstruktiven (Einzel-)Fallstudie. Das ist in Zeiten, in denen harte Zahlen und quantitative Daten Hochkonjunktur haben, für eine Wissenschaftlerin nicht immer ganz einfach durchzuhalten. Dennoch sind Fallstudien einfach ein großartiger Zugang zu sozialen Welten in Familien, Teams, Organisationen und Regionen, wenn es tatsächlich gelingt, einen analytischen Zugang und vertieftes Verstehen mit dem Eintauchen in eine spannende Geschichte  zu verbinden. Daher würde ich mal etwas kulturpessimistisch angehaucht sagen: so lange es noch Verlage gibt, die auch umfangreiche fallrekonstruktive Studien (geht meist nicht unter 250 Seiten ab) veröffentlichen und solange es noch Menschen in Wissenschaft und Praxis gibt, die damit etwas anfangen können, sollte man dranbleiben. In diesem Sinne – falls Sie zu denen gehören, die wissenschaftliches systemisches Denken (zum Thema Psychiatrie und Familie) in Form von gut gemachten Fallstudien spannend finden, hier einige überhaupt nicht repräsentative sondern extrem subjektiv gefärbte Empfehlungen:

Allert, Tilman (1997): Die Familie. Fallstudie zur Unverwüstlichkeit  einer Lebensform. Berlin: De Gruyter.
Floeth, Thomas (1991): Ein bißchen Chaos muss sein. Die psychiatrische Akutstation als soziales Milieu. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Hildenbrand, Bruno/Welter-Enderlin, Rosemarie (2004) : Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hildenbrand, Bruno (2006): Alltag und Krankheit. (2. Aufl.) Stuttgart: Klett Cotta.
Kastl, Jörg Michael (2009): Hannes K., die Stimmen und das persönliche Budget. Soziobiographie einer Behinderung. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Rosenthal, Gabriele/Stephan, Viola/Radenbach, Niklas (2011): Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von „Russlanddeutschen“ ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

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