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systemagazin Adventskalender: Kalt erwischt? Über systemische Spielzüge

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Matthias Ohler, Bad Dürkheim

Immer dann, wenn die Orientierung an systemtheoretischen oder konstruktivistischen Modellen – oder gar die Selbstbezeichnung „systemisch“ für Denkstil, Arbeitsstil, Haltung, Methodik usw. – den Charakter eines Bekenntnisses gewinnt, wird mir mulmig. Es rückt, aus meiner Sicht oder in meinem Erleben, die Verwendung einer Denkform in die Nähe der Verwendung von Glaubens- oder Überzeugungsformen. Nicht von ungefähr wird systemischen Modellen bzw. ihrer Publikation häufig attestiert, sie zeichne eine gewisse Kühle oder sogar Kälte, eine Distanziertheit, ein unentschiedener, hyperneutraler Ton oder ähnliches aus. Manche vermissen Wert(e)-Orientierung, ethische Verbindlichkeit, klares Engagement, Positionierung in öffentlichen Debatten, politische Orientierung, usw.

Matthias Ohler

Tatsächlich scheint mir die Stärke und die besondere Attraktivität systemtheoretisch oder konstruktivistisch orientierter Modelle darin zu liegen, dass sie ethisch indifferent sind. Es lassen sich aus ihnen allein keine inhaltlich definierten ethischen Normen ableiten. Im Gegenteil, diese Modelle lassen sich genauso gut für den Versuch der Etablierung und für Versuche der Pflege totalitärer Verhältnisse nutzen. Man kann mithilfe dieser Modelle aber oft unterscheidungsschärfer und, sagen wir, „entlarvender“ beobachten. (Wie zB Stefan Kühl in seiner sehr erhellenden Holocaust-Studie „Ganz normale Organisationen“)

Ein eindrückliches Erlebnis hatte ich während einer Tagung in einer größeren Klinik, zu der ein Teamentwickler eingeladen worden war, der besonders ausgereifte Modelle für Teamkooperation in Form komplexer Spiele anbot und auch welche dabei hatte. Es wurden spontan Gruppen gebildet (6-8 Leute jeweils), deren Aufgabe darin bestand, mithilfe von handlichen Griffen, die über ein ineinander verwobenes Netz von Fäden verbunden waren, hölzerne Bauteile in den Griff zu bekommen und zu einem Turm aufzuschichten. Jeder und jede konnte die Erfahrung von Beteiligung, Berücksichtigung seiner selbst und anderer, Irrtum über eigene Handlungspläne und die anderer usw. machen. Ein Kollege und ich hatten uns abseits der Gruppen auf den Boden gelegt und betrachteten, was vor sich ging, aus der Diorama-Perspektive – und das, was sich dabei an Bildern in uns auftat. Unsere Imaginationen trafen sich in einem Motiv: Schaftstiefel und Uniformen. Wir hatten uns, jeder für sich und ohne es abgesprochen zu haben, Treffen von Stasi-Offizieren bzw. von Wehrmachts- oder SS-Offizieren vorgestellt, die genau das miteinander übten, was hier im Rahmen der Tagung TherapeutInnen, ÄrztInnen und BeraterInnen übten. Wir waren zwar nicht wenig betroffen von unseren Bildern, aber wenig überrascht. Überrascht waren wir davon, wie schwer es schien – warum auch immer – unsere Beobachtungen ins Gespräch zu bringen bzw., wo das einmal gelungen war, im Gespräch zu halten „gegen“ die verbreitete Begeisterung ob der „kooperativ-systemischen Erfahrung“.

Systemtheorie sozialer Systeme und der wechselseitigen Umweltverhältnisse von Körpern, Psychen und Kommunikationen ist ein Ansatz, der es ermöglicht, seine eigene Verwendung mit zu reflektieren und dafür wiederum Beobachtungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine Bewertung jeweiliger Verwendungen ist dem Ansatz nicht inhärent. Was sich ableiten lässt, sind transparente Unterscheidungs- und Beobachtungsformen, die sich als solche deutlich zu erkennen geben. Die Kontingenz unserer Überzeugungen  wird durch systemische Modelle nicht ausgehebelt. Aber manche Überzeugungen sehen, wenn sie unter Verwendung systemtheoretischer Denkfiguren und Beobachtungsformen gecheckt werden, definitiv schlechter aus als andere, und sei es nur deshalb, weil dann ihre unreflektierten Prämissen deutlich werden. Soviel Bekenntnis zu systemischen und konstruktivistischen Modellen darf sein.

Was tun? Kommunizieren und verstören. Hannah Arendts bekanntes Diktum „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ kann dann so gesehen werden: Zwei Sprachspiele (im Sinne Ludwig Wittgensteins), die wir für inkompatibel halten, werden in einen Zusammenhang gebracht, nämlich das Sprachspiel des Gehorchens, das scheinbar keiner Wahl Raum lässt, und das Sprachspiel der Inanspruchnahme eines Rechts, das Wahl bzw. Entscheidung erfasst. Danach erscheint zu gehorchen als die Inanspruchnahme eines Rechts und von daher als Entscheidung. Arendt spricht dann dem Sprachspiel des Gehorchens seine Rechtmäßigkeit ab. Gehorchen erscheint so als Wahl, als entschiedenes Handeln, und wird problematisierbar. Ein interessanter Spielzug. Was ist daran systemisch? Der Spielzug selbst, seine Transparenz, und seine Kontingenz. Wer widersprechen will, soll zumindest sagen müssen: Doch, ich habe das Recht zu gehorchen. Und nicht einfach: Ich muss gehorchen.

Übrigens: Der Genuss einer Tasse Glühwein ist eine Intervention in die (hochrelevante) Umwelt eines psychischen Systems. Nicht mehr, und nicht weniger. So gesehen, kann auch der nächste Besuch eines Glühweinstandes eine interessante systemische Forschungsveranstaltung sein.

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