In seinem neuesten Buch „Wir können und müssen uns neu erfinden. Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft“ beschäftigt sich Wilhelm Rotthaus mit der Frage, wie es vom Mittelalter bis zur sogenannten „Neuzeit“ überhaupt dazu kam, dass dem Individuum die zentrale Position zugeschrieben wurde, die es heute hat und plädiert dafür, uns von der Ego-Orientierung zu verabschieden.
In seiner Einleitung schreibt er: „Solange der Mensch sich von diesem individuumzentrierten Selbst- und Weltbild dominieren lässt, wird er nicht in der Lage sein, die anstehenden notwendigen Veränderungen seines Handelns vor- zunehmen. Denn er ist ganz auf sich und seinen persönlichen Vorteil konzentriert, hat keinen Blick für übergreifende Zusammenhänge und die Notwendigkeit weltweiter Kooperation. Die primäre, dringend anstehende Veränderung muss also sein, dass der Mensch ein neues Verständnis von sich und seinem Leben in der Welt entwickelt, das heißt, dass der Mensch sich neu erfindet, so, wie er dies vor etwa 900 Jahren schon einmal getan hat.“
Susanne Quistorp hat das Buch für systemagazin gelesen.
Susanne Quistorp, Zürich
Wilhelm Rotthaus neustes Buch ist ein Weckruf, Ermutiger, Aufforderer zur Ent-Wicklung eines
neuen Welt- und Selbstbildes, welches von «Gemeinschaftsorientierung und Respekt gegenüber allen anderen Mitgeschöpfen und der Natur» (S.177) durchdrungen und getragen ist. Rotthaus spannt einen Bogen über die Systemwechsel von Welt- und Selbstbild in der sogenannten westlichen Kultur zwischen dem frühen Mittelalter und heute, bis hin zu Visionen von einem künftigen menschlichen „Verständnis seiner selbst, seiner Beziehung zu anderen und seiner Einbindung in die Natur“ (S. 177) und den dafür notwendigen, neuen Entwicklungssprüngen.
Das Buch ist übersichtlich gestaltet, in vier Teile gegliedert, die ersten drei mit abrundender Zusammenfassung. Alle Hauptkapitel beziehen sich sehr konkret auf die jeweiligen epochalen Konstrukte von Welt- und Selbstbild, Familie/Bildung/Erziehung, Beziehung zur Natur, Wissenschaft, Wirtschaft, Ethik, Recht, Zeit u.a., im vierten Teil als visionäre Konstruktion.
Ausgehend von der Einschätzung, dass sich die jetzt ca. 900 Jahre währende „Epoche des Individuums“ in einem tiefgreifenden Umbruch befindet und zu Ende geht (S. 9), schafft Rotthaus Bezüge zu historischen Erfahrungen mit ähnlich gewichtigen Transformationen, um zu veranschaulichen, „dass der Mensch und seine Beziehung zur Umwelt auch völlig anders gedacht werden kann“ (S. 13), als wir es heute tun und annehmen.
Als wesentliche Merkmale dieser Transformation zwischen dem frühen und dem Hoch-Spätmittelalter bis in die heutige Zeit beschreibt der Autor
- den Wechsel von einem gotteszentrierten Weltbild (der „Mensch lebt eingebunden in seine soziale Gruppe und damit an dem Platz, an den er von Gott gestellt wurde“ (S. 54, Gemeinschafts- und Gemeinnutzenorientierung) hin zu einem individuum-zentrierten Weltbild (Mensch als Ebenbild Gottes, erkennendes und erschaffendes Subjekt, macht sich die Erde untertan, Eigennutzorientierung,…), oder: von einer ökologisch-systemischen hin zu einer egozentristischen Grundhaltung.
- damit einhergehend den radikalen Wechsel im menschlichen Verständnis zur Natur: von einem ganzheitlichen Weltbild: ‚Gott ist Schöpfer‘, geringe Abgrenzung zwischen Mensch und Natur, Mensch spiegelt sich in der Natur, menschlicher Körper ist Abbild des Kosmos… hin zu einem mechanistischen Welt- und Naturverständnis; „Mensch stellt sich der Natur und den Dingen seiner Umwelt entgegen“ (S. 76), Natur als Objekt, Mensch als Schöpfer, Macher…
Gesellschaftliche Umbrüche verortet Wilhelm Rotthaus im gesellschaftlichen Erleben einer Dissonanz zwischen Proklamiertem und Erlebtem und deren Folgen: So, wie gegen Ende des frühen Mittelalters die ‚gemeinwohlorientierten‘ Werte der Mönche von selbigen nicht mehr konsistent gelebt wurden, stellen heute die vielfältig konstatierten zerstörerischen Folgen von ‚Eigennutzorientierung‘ und ‚Wachstum um jeden Preis‘ künftige Lebensperspektiven in Frage. Umbrüche führen zu Unruhe, Verunsicherung, Zweifeln, Besessenheiten (S. 62), politischer, gesellschaftlicher Instabilität … und münden mittel- bis langfristig zwangsläufig in einem Systemwechsel, der inhaltlich nicht vorhersagbar ist und Chancen wie Gefahren gleichermaßen in sich birgt.
„Wir stehen vor einem Epochenbruch“ (P. Zelig, S. 110). Diesen konkretisiert W. Rotthaus anschaulich im „Märchen von Herrn Markt“ (S. 116) und in einem „Interview vom 1. September 2252 mit dem Historiker Dr. Fritz Tabari“ (S. 174). Er lässt Tabari dabei eine kritische Bilanz der letzten 250 Jahre wie auch sinnstiftende Visionen formulieren, die mit einem neuen Welt- und Selbstbild einhergehen, „das getragen ist von dem Bewusstsein, dass jeder Einzelne ein Teil seines ökologischen Subsystems ist und sein Verhalten ein Kennzeichen seiner Beziehung zu wichtigen anderen darstellt“. (S. 176).
In seinem Nachwort verleiht Wilhelm Rotthaus seiner Überzeugung, dass wir uns „neu erfinden müssen und können“, noch einmal nachhaltig Ausdruck. „Es ist notwendig, dass der Mensch ein neues Selbst- und Weltbild erfindet, dessen genaue Konturen noch nicht zu fassen sind … und wir dabei mögliche Irrwege in Kauf nehmen müssen“. (177).
Dieses beachtenswerte Unterfangen, Systemsprünge und ihre Potenziale historisch wie visionär zu beschreiben und für als notwendig erachtete Herausforderung motivational zu nutzen, kommt ohne Paradoxien nicht aus. In seiner Vorbemerkung zum 1. Kapitel weist W. Rotthaus auf das „Korsett der aktuellen Sprache beim Beschreiben einer völlig andersartigen Selbst- und Weltsicht des Menschen“ (S.15) hin, was natürlich ebenso für die Vergangenheits- wie die Zukunftsperspektive gilt. Dieses Korsett ist von unserem aktuellen Weltbild geprägt. „Wir können und wir müssen“… ist begrifflich anschlussfähig an unsere egozentrierte Kultur und soll doch zukunftsweisend ermutigen, ebendiese zu verlassen. „Wir werden und wir können“… würde diesem Dilemma vielleicht gerechter, führt uns aber gleichzeitig in aller Demut vor Augen, dass wir Menschen nicht – und schon gar nicht die westliche Kultur allein – den erwünschten, Leben erhaltenden Systemwechsel intentional herbeiführen können. „Fragen sind das Beste, was man mit einem menschlichen Gehirn machen kann….die helfen, ein Verharren im Bekannten zu überwinden“ (S. 173) und einen Systemwechsel mitzugestalten.
Mit diesem „Weckruf“ nutzt W. Rotthaus sein umfangreiches Wissen und seine vielseitige Erfahrung zu einer systemischen Impulsgebung für eine Transformation des heutigen westlichen Welt- und Selbstbildes hin zu einem wünschenswerten, neuen, planetar verträglicheren. Möge es uns anregen und ermutigen zu vielfältigen weiteren Impuls-gebungen, u.a. in Form von dranbleibenden Hinterfragungen und Narrativen von Visionen, die einem solchen neuen Welt- und Selbstbild eine Chance geben.
« Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden» (Hermann Hesse 1960)
Inhaltsverzeichnis und Einleitung des Buches
Eine weitere ausführliche Rezension von Arnold Schmieder in socialnet.de
Wilhelm Rotthaus (2021): Wir können und müssen uns neu erfinden. Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft. Heidelberg (Carl-Auer)
189 S., Kt.
ISBN: 978-3-8497-0410-0
Preis: 19,95 €
Verlagsinformation:
Das Zeitalter des Individuums scheint zu Ende zu gehen. Was ist zu tun? Der zentrale Ansatz dieses Buches lautet: Was wir heute für selbstverständlich halten, ist das Ergebnis von Entwicklungen, Umbrüchen und Entscheidungen; es versteht sich nicht von selbst. Als Systemiker begnügt sich Rotthaus – anders als viele prominente und weniger prominente „Zukunftsforscher“ – nicht mit starken Behauptungen und scheinbar unbezweifelbaren Visionen. Er geht zuerst der bedeutenden Frage auf den Grund, wie es vom Mittelalter bis zur sogenannten „Neuzeit“ überhaupt dazu kam, dass dem Individuum eine solche Wichtigkeit zugeschrieben wurde und immer noch wird. Die technisch-wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung wurden vielfach als positiv erlebt. Es gibt aber weit mehr dramatische Folgen dieses Wandels. Sie haben zu den massiven Problemen geführt, mit denen wir heute leben und die uns als nahezu unlösbar erscheinen. Unlösbar sind sie aber nur dann, wenn wir sie mit der gleichen Logik angehen, über die wir sie in unsere Welt eingeführt haben. Das heißt: Wir müssen uns von der Ego-Orientierung verabschieden. Wilhelm Rotthaus bringt seine gesamte psychiatrische, wissenschaftliche und historische Expertise in dieses Buch ein. Er zeigt sich dabei nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern bezieht auch wichtige Beiträge und Gedanken von Philosophinnen und Soziologinnen ein, die bislang viel zu wenig Beachtung gefunden haben. Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein neuer Raum des Denkens und Forschens.
Über den Autor:
Wilhelm Rotthaus, Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1983–2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: „Wozu erziehen“ (8. Aufl. 2017), „Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ (5. Aufl. 2021), „Ängste von Kindern und Jugendlichen“ (2. Aufl. 2021), „Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen“ (2017) „Schulprobleme und Schulabsentismus“ (2019), „Ängste von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, lösen“ (2. Aufl. 2022), „Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, vorbeugen“ (2020), „Fallbuch der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen“ (2020).
Diese Rezension habe ich mit großem Interesse gelesen, da das Buch die zentrale Frage aufgreift, wie wir unser Selbstverständnis in der Welt und der Natur gestalten. Es thematisiert offenbar entscheidende Aspekte, wie wir aus dem ganzheitlichen Verständnis der antiken Kosmologie herausgefallen sind und uns zu „Herren und Meistern der Natur“ (Descartes) entwickelt haben. Letztlich ist das eine tragische Geschichte, denn die Entfremdung von der Natur stürzt den Menschen in das existentielle Drama der Getrenntheit und läßt ihn andererseits immer mehr Beherrschungsfantasien entwickeln – beginnend bei der Idee der Naturbeherrschung und -ausbeutung, und meiner Meinung nach endend in der Idee, man könnte durch Einwirkung auf einen Einzelaspekt (CO2) nunmehr die Welt retten. Das ist mE nur die andere Seite der Medaille, die „Selbstüberschätzung des Menschen“ heißt. Im antiken Denken, das den Menschen eingebunden in den Kosmos sieht, wäre Greta Thunberg schwer vorstellbar.
Sehr geehrter Herr Eder,
von den ernshaft bemühten Umweltschützerinnen habe ich so eine Idee, dass alles gut wird, wenn nur der Co2 Ausstoß maximal verringert wird, noch nie gehört. Allenfalls von der greenwashing Ecke – ja das wären wieder so BeHERRschungsfantasien, eine Änderung 1.Ordnung etc.Und deren Idee zu wiederholen, ist eher uninteressant.
Gerade die Frauen von FFF nehmen das böse Wort von Systemwandel in den Mund, das wiollen nur wenige der Herrschenden wie etwa so Menschen wie Putin, Merz, Klöckner, AfD ,oder wie sie alle heißem, hören.
Gerdae wir Systemikeinnen, zumindest die Sozialarbeiterinnen ( Klinische Psychologie ist per se egozentriert…) sind hier wunderbar anschlussfähig (und relevant) und müssen,, werden und können diesen Systemsprung irgendwie anfangen zu händeln.
Ja die Idee einer neuen Sprache … Mutter Erde Gaia stattt Heilig Vaterland,…
Ja Paradoxien aushalten lernen, und das genau beneennen und demütig/traurig sein dürfen…
Ja Fragen eröffnen Räume, aber es braucht auch ernsthafte Antworten, Haltung allein reicht nicht…
und Ja auch „einfache“ Lösungen 1. Ordnung – man holt keinen Sozialarbeiterin wenn das Klo verstopft ist!
Evelyn Schwirkus
Liebe Frau Schwirkus, da gehe ich weitgehend mit, vor allem bei Mutter Erde. Bei der Zuschreibung von Egozentriertheit an die Psychotherapie hätte ich aber erhebliche Einwände …