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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis 

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Wenn es darum geht, Systemische Therapie konzeptionell und methodologisch kohärent als eigenständigen Ansatz zu beschreiben, gehört Kurt Ludewig zu denjenigen, die in den letzten Jahren dazu entscheidende Vorarbeiten geleistet haben. Mit dem vorliegenden Buch präsentiert er nun das Ergebnis seiner fast fünfzehnjährigen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Mein Eindruck ist – um es vorweg zu sagen -, dass damit eine wegweisende Grundlage für die weitere Diskussion zur Verfügung steht.

Schon im Vorwort findet sich ein programmatischer Hinweis auf Ludewigs Verständnis von Systemischer Therapie. Er versteht darunter, „die Praxis an Systemtheorie und konstruktivistischer Erkenntnistheorie zu orientieren. Wesentlich ist, dass dieser geistige Hintergrund es erlaubt, Therapie als Hilfe für autonome Menschen zu begreifen, um mit minimaler Einmischung optimale Veränderungen zu ermöglichen.“ (S. 11). Was diese Definition andeutet, arbeitet Ludewig im weiteren Text mit staunenswerter Präzision und Stringenz heraus.

Den Auftakt bildet ein kurzer ideengeschichtlicher Abriss „Heilen im Kontext“, der in die Beschreibung von vier idealtypischen Grundformen des Heilens mündet, die sich aus den Dimensionen Sein/Werden und Heteronomie/Autonomie ableiten lassen. Kurz und prägnant werden anschließend die wesentlichen traditionellen Konzepte skizziert, die „Heilen durch das Wort“ zu ihrem Anliegen machen (psychoanalytische, Verhaltens-, humanistische, Familientherapien). Auf der Basis der unterschiedlichen Aussagen zu Problemverständnis und Therapiekonzept gelingt dem Autor dann eine sinnvolle Abgrenzung zu Systemischer Therapie.

Als Grundlagen eines systemischen Therapieverständnisses betrachtet Ludewig die Theorien Maturanas (zur Biologie der Erkenntnis) und Luhmanns (zur kommunikativen Basis sozialer Systeme). In jeweils eigenen Kapiteln stellt er diese Theorien in Grundzügen dar und erarbeitet die Anschlusspunkte, die für die weitere Konzeptualisierung Systemischer Therapie grundlegend erscheinen.

Der zentrale Beitrag Ludewigs wird im 3. Teil des Buches deutlich, der sich mit den theoretischen Grundlagen und praktischen Konsequenzen einer systemisch begründeten klinischen Theorie beschäftigt. Ausgangspunkt ist die Anforderung an eine klinische Theorie, Auswege aus dem Therapeutendilemma aufzuzeigen: „Handle wirksam, ohne zu wissen, was Dein Handeln auslöst“ (S.107). Aufbauend auf den dargelegten theoretischen Grundlagen beschreibt der Autor das Konzept des Mitglieds als einen Ansatz, der „sowohl den Menschen in seiner körperlichen und psychischen Dynamik berücksichtigt, als auch einbezieht, dass soziale Systeme sinnstiftende, ereignishafte und kommunikative Gebilde sind“, (S. 110). Um dieses Ziel zu erreichen, unterscheidet Ludewig konsequent zwischen „Mensch“ und „Mitglied“. Menschen (als Lebewesen) können Mitglieder „verkörpern“. Das Wort „Mitglied“ wirkt nun zunächst etwas irreleitend, weil es im herkömmlichen Sprachgebrauch personenhafte Identität suggeriert. Ludewig benutzt es jedoch zur Kennzeichnung „operatitionaler Kohärenzen“, in diesem Fall zur Kennzeichnung sozialer Systeme. „Operational kohärent aufgefasst, stehen Mitglieder jederzeit den aktuellen Zustand einer wandelbaren sozialen Einheit dar“, lassen sich betrachten „als Momentaufnahme einer Sequenz kommunikativer Interaktionen“ (S.112). Auf dieser Grundlage lassen sich soziale Systeme eingrenzen als „Komplexe von Mitgliedern, die einen thematisch gefassten Sinn verwirklichen“ (S.113).

Diese Definition ermöglicht zweierlei: Zum einen können kommunikative Prozesse mit Hilfe thematischer Zuordnungen analytisch getrennt werden. „Probleme“ können so beispielsweise als thematische Klammer bestimmter sozialer Systeme aufgefasst werden, die sich dann als Problemsystem beschreiben lassen. Als „Problem“ gilt dabei „jedes Thema einer Kommunikation, die etwas als unerwünscht und veränderbar wertet“ (S.116).

Die zweite Möglichkeit, die sich aus der von Ludewig vorgeschlagenen Position eröffnet, besteht in der „Entlastung von der paradoxen Aufgabe, prinzipiell undurchschaubare Menschen deuten oder ‚verstehen‘ zu müssen“ (S. 112), bzw. in der „Befreiung von der Annahme, die Therapie müsse Menschen verändern“ (S. 114). Stattdessen ergibt sich als Perspektive, „leidvolle Mitgliedschaften in Problemsystemen zu beenden und das betreffende ‚Mitglied‘ aufzulösen. Dafür muss man weder die Strukturen der beteiligten Menschen noch die des jeweiligen Systems in allen Einzelheiten kennen“ (S.114).

Als Gegenstand klinischer Theorie arbeitet Ludewig anschließend 4 unterschiedliche, sich ablösende Phasen heraus: Problemsystem (s.o.), Hilfesuchendes System, klinisches System (Klären der Situation im Sinne einer „Förderdiagnostik“ und Erarbeiten eines Kontraktes), und schließlich Hilfssystem.
Der Autor unterscheidet dabei 4 idealtypische Formen klinischer Hilfssysteme: Anleitung, Beratung, Begleitung und Therapie. Sie unterscheiden sich je nach angenommenem Grund des Leidens, der Art der Hilfestellung und der Dauer. Ausgehend von der Annahme, dass es autonome Menschen sind, deren Anliegen sich treffen (können), bestehen klinische Hilfsangebote im Sorgen für günstige Rahmenbedingungen, „in denen sich die Kunden ihren Wünschen gemäß verändern können“ (S. 125). Therapie wird somit als „Hilfe zur Selbsthilfe“ kenntlich.

Aus der Vielzahl der von Ludewig in diesem Zusammenhang diskutierten methodologischen Gesichtspunkte möchte ich das Unterscheiden zwischen Anliegen und Auftrag herausgreifen. Als Anliegen von Kunden gilt die Suche nach Hilfe, als Anliegen von Helfern das Ermöglichen von Hilfe. Wesentlich für das Gelingen dieser beiden Anliegen ist, dass Kunden und Helfer sich auf einen Auftrag verständigen können, definiert als „operables“, handhabbares Thema der Hilfestellung. Ohne diese Unterscheidung und deren Berücksichtigen lässt sich leicht eine Fülle von bestenfalls irrelevanten „Ergebnissen“ therapeutisch gemeinten Handeins aufzählen. Das Herausarbeiten eines Auftrags ermöglicht dagegen klare Kriterien zur Evaluation der beschriebenen Prozesse.

Es würde den Inhalt dieser Besprechung sprengen, wenn ich versuchte, der Fülle der Gesichtspunkte, Anregungen, Definitionsleistungen, Unterscheidungen gerecht zu werden, die Ludewigs Buch enthält. Stichwortartig seien noch genannt: Überlegungen zur Setting-Frage, zu Supervision und Selbsterfahrung, zu Evaluation, sowie zu ethischen Implikationen und Respekt. Desweiteren demonstriert Ludewig die Anwendung der beschriebenen Überlegungen auf 3 klinische Konstellationen: kindliche Unruhe, Magersucht und psychotische Krisen.

Insgesamt gesehen beinhaltet Ludewigs Buch einen beeindruckend klar herausgearbeiteten Vorschlag, Systemische Therapie sinnvoll von anderen Ansätzen abzugrenzen, sie kohärent zu begründen und nachvollziehbar zu verwirklichen. Nicht nur für die Praxis ergeben sich daraus weitreichende Anregungen, sondern auch wichtige Impulse für die Forschung. Dies erscheint umso bedeutsamer als sich die Diskussion um die wissenschaftliche Anerkennung Systemischer Therapie bislang nur bedingt optimistisch entwickelt (vgl. „Forschungsgutachten“). Ein wichtiges und sehr empfehlenswertes Buch!

(Erstveröffentlichung 1992 in systhema 6(3): 78-81)

Kurt Ludewig (2015/1992) – Systemische Therapie. Grundlagen, Klinische Theorie und Praxis. Heidelberg, Carl-Auer

Mit Vorworten von Helm Stierlin und Heinz von Foerster
299 Seiten, Kt
ISBN: 978-3-8497-0060-7
Preis: 29,95 €

Verlagsinformation:

Kurt Ludewig, einer der Pioniere der systemischen Therapie, schrieb 1992 die erste Monografie zu diesem neuen Psychotherapieverfahren. Sie liegt nun in einer vollständig überarbeiteten und aktualisierten Neuauflage vor. Nach einer kurzen Einbettung der systemischen Therapie in die Geschichte des Heilens folgt im zweiten Teil eine gründliche Darstellung der biologischen und sozialwissenschaftlichen Voraussetzungen des Verfahrens. Die erkenntnistheoretischen Auffassungen Humberto Maturanas und die kommunikationstheoretischen Konzepte Niklas Luhmanns stehen dabei im Vordergrund; sie werden durch neuere Gedanken des Autors zu psychischen Systemen ergänzt. Aufbauend auf diesen theoretischen Grundlagen behandelt der dritte Teil des Buches die Theorie der Praxis (Interaktionssystem, Problemsystem, Hilfesysteme) sowie den methodologischen Rahmen und die unterschiedlichen Settings, in denen das Verfahren Anwendung findet. Dieser Rahmen wird durch die ausführliche Darstellung von drei klinischen Konstellationen (kindliche Unruhe, jugendliche Magersucht und psychotische Krise) illustriert. Eine Auseinandersetzung mit der Problematik systemischer Evaluation rundet das Buch ab.

Inhalt: 

I. Ursprünge

1. Heilen im Kontext

Der kulturelle Rahmen
Der geistige Rahmen
Resümee

2. Heilen durch das Wort

Driftende Psychologien
Psychotherapie im Wandel
Resümee

II. Systemisches Denken

3. Biologische Grundlagen

Was heißt „systemisch“?
Biologie und Erkenntnis
Das Humane
Menschenbild und Ethik
Kritik am systemischen Denken
Resümee

4. Sozialwissenschaftliche Grundlagen

Umgang mit Komplexität
Die Theorie sozialer Systeme
Resümee

III. Klinische Theorie

5. Theoretische Grundlagen

Was heißt „klinische Theorie“?
Therapie und soziale Systeme
Das Mitglied-Konzept
Der Gegenstand klinischer Theorie
Problemsysteme
Klinische Systeme
Hilfssysteme
Therapiesysteme
Resümee

6. Klinische Praxis

Der methodologische Rahmen
Die Praxis der Therapie
Von Systemen und Personen
Ausbildung, Selbsterfahrung, Supervision
Resümee

7. Klinische Konstellationen

Kindliche Unruhe
Jugendliche Magersucht
Psychotische Krise
Resümee

8. Evaluation

Evaluation in der Psychotherapie
Evaluation aus systemischer Sicht
Erste Ergebnisse
Resümee

Anhang 1

Fallbeispiele für kindliche Unruhe

Anhang 2

Auszüge aus Gesprächen mit einem magersüchtigen Mädchen

Über den Autor:

Kurt Ludewig, Dr. phil., Diplom-Psychologe; systemischer Therapeut und Supervisor. 1974–2004 klinische Tätigkeit an den Unikliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg und Münster. Seit 2008 selbstständige Tätigkeit als Supervisor und Lehrer. Gründungsvorsitzender des Instituts für systemische Studien Hamburg (1984-1996) und der deutschen Systemischen Gesellschaft (1993-1999). 2001–2005 Vorstandsmitglied der Kammer der Nationalen Organisationen an der European Family Therapy Association (EFTA). Publikationen u. a.: „Einführung in die theoretischen Grundlagen der Systemischen Therapie“ (4. Aufl. 2021) und „Entwicklungen systemischer Therapie“ (2013). Schwerpunkte: Systemische Therapie, Beratung und Supervision mit Einzelnen, Paaren und Familien.