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systemisch – was fehlt? Eine systemische Prüfungstheorie

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Silvia Puhani, Braunschweig:

16adventAls Vertreterin eines aus meiner Sicht vom Systemischen Ansatz noch vernachlässigten Anwendungsgebiets, spüre ich die Unzulänglichkeiten der dort noch vorherrschenden linear-kausalen Denkansätze in meiner täglichen Arbeit.

Mein Beruf lässt sich ziemlich treffend mit der Aufgabe eines Hofnarren in einem Herrscherhaus vergleichen, der das Herrschaftsgebiet inkl. der Untertanen zu beobachten und dem Herrscher über dessen Einflussbereich Bericht zu erstatten hat. Dies stellt jeden Hofnarren vor verschiedenste Herausforderungen: Im Wesentlichen hat er

  • Informationen zu sammeln, und zwar auf eine Weise, durch die diese möglichst wenig verzerrt werden. Auch soll dies zukünftig möglich bleiben, ohne Qualität und Vollständigkeit zu beeinträchtigen.
  • Informationen zu bewerten, und zwar möglichst objektiv und richtig.
  • eventuell vorhandene Unzulänglichkeiten oder Mängel nachzuweisen, deren Ursachen zu erklären und jeweils Maßnahmen vorzuschlagen bzw. zu vereinbaren, um den Mangel zu beheben.
  • Bericht zu erstatten, wobei die meist unliebsamen Nachrichten dem Herrscher so zu übermitteln sind, dass der eigene Kopf möglichst dran bleibt.

Der Beruf nennt sich übrigens „Interner Revisor“ bzw. die Berufsgruppe ganz allgemein „Prüfer“.

Silvia Puhani

Silvia Puhani

Die Aufgabe ist aus einer linear-kausalen Denkrichtung definiert und gestellt. Sie enthält folgende Annahmen bzw. Anforderungen an unsere Berufsgruppe:

  • Ein Revisor muss per Definition unabhängig sein.
  • Der Revisor muss die objektive Wahrheit kennen.
  • Der Revisor muss alles (fachlich) besser wissen und es beurteilen können.
  • Für jede Berichtsaussage, seien dies nun Mängel oder Ursachen, müssen eindeutige Beweise vorliegen.
  • Für jeden festgestellten Mangel kann und muss eine Maßnahme festgelegt werden, deren Umsetzung diesen Mangel behebt.
  • Die Berichterstattung an die Geschäftsleitung hat vollständig zu erfolgen.
  • Diese Erfordernisse zielen darauf ab, ein Machtgleichgewicht aufrechtzuerhalten, d.h. die Revision nicht zu mächtig werden zu lassen. Denn bei vollem Vertrauen des Geschäftsführers, könnte die Revision sonst zu leicht durch unbedachte oder gezielt negative Kommentare oder Unwahrheiten bzgl. anderer Unternehmensbereiche den Geschäftsführer dazu animieren, übertrieben hart und ungerechtfertigt gegen Mitarbeiter oder Unternehmensbereiche durchzugreifen. Die Macht der Revision zu begrenzen ist also wichtig und richtig.

Bewegt man sich nun unter Revisoren, erkennt man, dass unter ihnen viel Frustration und Resignation herrscht. Viele bekommen die negativen Folgen davon zu spüren, dass die oben genannten Annahmen und Erfordernisse in der Realität oftmals an Grenzen stoßen:

  • Die 100%ige Unabhängigkeit ist nicht gegeben, schließlich ist man auf seinen Job angewiesen, hat ein Haus abzubezahlen, ist wegen Familie und Kinder gebunden, usw. und kann nicht wirklich alles hinschmeißen oder eine Kündigung in Kauf nehmen.
  • Die Interne Revision wird in vielen Häusern als (vorgeschriebenes) notwendiges Übel betrachtet. Die möglichen Mehrwerte eines Sparringpartners auf Augenhöhe werden zu wenig erkannt und genutzt. So findet sich die Revision in der Hackordnung der Unternehmensbereiche oft am untersten Ende.
  • Das allumfassende fachliche Know-how ist eine fälschliche Annahme, was meist sogar von uns selbst als liebste Ausrede oder Erklärungsansatz genutzt wird, wenn es nicht so lief, wie man wollte. Hätte dem Revisor nicht an Know-how gemangelt, wäre die Beurteilung und Berichterstattung bestimmt ein Kinderspiel gewesen. In der Welt der Zahlen, Daten und Fakten existiert nun mal kein nicht-rationales Verhalten, wie z.B. Machtspiele, Tricks oder persönliche Interessen.
  • Dass es die objektive Wahrheit nicht gibt, muss ich Systemikern nicht erläutern, denn allein die Ankündigung unserer baldigen Anwesenheit bzw. eine Befragung führt zur Veränderung der bisherigen Situation in der zu prüfenden Organisationseinheit.
  • Auch gibt es Situationen, in denen keine linear-kausale Maßnahme existiert, die den SMART-Kriterien entspricht und deren Umsetzung zur Problemlösung führt: wenn z.B. zwei Führungspersönlichkeiten derartige Differenzen haben, dass sie nicht miteinander sprechen oder sich sogar weigern, sich beide in einem Raum aufzuhalten oder gemeinsam an einer Sitzung teilzunehmen.
  • Ferner ist es problematisch, wenn die Geschäftsführung den Revisor bei wichtigen Angelegenheiten zu wenig oder gar nicht als Sparringpartner nutzt. Wenn die Geschäftsführung nicht zuhört oder sowieso nicht reagiert, verliert die eigene Arbeit ihren Sinn. Dann wird die restliche Berufszeit üblicherweise nach der Devise strukturiert, nur nicht aufzufallen, damit der Kopf auch dran bleibt und das Rentenalter überhaupt erlebt werden kann. Hierzu bietet sich reichliche Bürokratie an, um sich z.B. allein über die Anzahl der Berichte, inhaltsloser Aktivitätsbeschreibungen oder sonstige „Qualitätsmerkmale“ zu profilieren, die mit der eigentlichen inhaltlichen Qualität der Arbeit – analog der „Präsentitis“ – nichts aber auch gar nichts gemein haben.

Begibt man sich nun als Hofnarr in die Welt der Systemtheorie, führt das Verlassen der linear-kausalen Denkweise zu neuen Möglichkeiten der Berufsausübung, jedoch mit dem gleichen übergeordneten Ziel: die Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit der Organisation. Denn allein die Aufmerksamkeitsfokussierung der Internen Revision auf ein bestimmtes Thema, („hierauf werden wir als Revision zukünftig besonders achten“) bewirkt manchmal schon mehr als eine herkömmliche Prüfung. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass neue Zielkonflikte entstehen und liebgewonnene Denkweisen und Gewohnheiten aufzugeben sind. Jeder muss sich folgende Fragen stellen:

  • Wenn ich nicht wirklich unabhängig bin, wie kann ich mich in diesem Umfeld bewegen, meiner Arbeit nachgehen und diese als sinnvoll erleben?
  • Wenn ich die (absolute) Wahrheit nicht kennen kann, wie gelange ich dennoch zu möglichst objektiven Aussagen?
  • Wie verhalte ich mich, damit ich von den Informationsflüssen nicht abgeschnitten werde?
  • Wie gehe ich an mir unbekannte Themenstellungen heran, so dass ich dennoch ein gern genutzter Sparringpartner werde bzw. bleibe?
  • Wie kann ich über wichtige Themen Bericht erstatten, für die es keine objektiven Beweise gibt?
  • Wie kann ich damit umgehen, dass es für eine bestimmte Sache keine „SMARTe“ Maßnahme gibt? Was mache ich dann? Gibt es andere Möglichkeiten?
  • Will ich mich tatsächlich von der bisherigen Denkweise lösen, die unserer Berufsgruppe weiterhin dogmatisch gepredigt wird?

Bisher hinkt die Prüfungstheorie der Management- bzw. Führungstheorie zeitlich hinterher. Erst wenn eine neue Management- bzw. Führungstheorie in der Praxis angewandt wurde, bestand für den Prüfer die Notwendigkeit, sein bisheriges Vorgehen anzupassen. Doch wieso sollte man auf die Implementierung in der Praxis warten, wenn neue Theorien und Ansätze bekannt sind bzw. der Ruf nach diesen bereits laut geworden ist? Neue Erwartungen, die diese Theorien und Ansätze beinhalten, könnten bereits jetzt als „Ideal-Soll“ genutzt werden.

Meine Suche nach Lösungen und Alternativen hat mich über die Mediation zur Systemtheorie geführt. Mir hat es sehr geholfen, zu erkennen, dass

  • ich nur die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen, aber nicht den Erfolg sicherstellen kann.
  • die zugrundeliegenden Interessen – auch jenseits des rationalen Denkens – beachtet werden müssen.
  • es nicht nötig ist, allwissend zu sein, und ich dennoch als Sparringspartner wertvolle Beiträge liefern kann.
  • mittels der Fokussierung und Lenkung von Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen viel bewegt werden kann. Schon eine Prüfungsankündigung wirkt manchmal Wunder.
  • ich über geschickte Kommunikation mit dem Geschäftsführer auf Strukturen und Programme der Organisation Einfluss nehmen kann.
  • es nicht ausschließlich an mir liegen muss, wenn es nicht so läuft, wie ich es gerne hätte.
  • verschiedenste Wechselwirkungen zu beachten sind.
  • es Möglichkeiten gibt, mit gegebenen Restriktionen gut umzugehen.
  • Nicht nur ich mich in dieser Situation befinde.

Aus diesem Grund habe ich den Kontakt zu anderen Prüfern gesucht, die sich ebenfalls für die Systemtheorie interessieren. Gemeinsam wollen wir uns unterstützen, die Systemtheorie mit der Prüfungstheorie vereinen und neue Wege und Möglichkeiten ableiten, generieren und ausprobieren. Noch sind wir eine sehr kleine Gruppe. Wer sich uns anschließen möchte, kann dies gerne tun und sich bei mir melden (info@puhani.com).

Für mich befindet sich die Systemische Prüfungstheorie bzw. Systemische Revision erst im Entstehen. Sie fühlt sich an wie ein Silberstreif am Horizont – oder vielleicht wie eine Art „Stern von Bethlehem“ der mir die Richtung weist und dem ich folge. Ich bin gespannt, was es auf dieser Reise alles zu entdecken gibt.

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