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systemagazin Adventskalender – Ich muss nicht, aber ich kann, wenn ich will: nach Möglichkeiten suchen

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Hinter diesem Adventskalender gibt es heute eine Neuigkeit, nämlich eine direkte Antwort auf den Kalender-Eintrag von Ewald Johannes Brunner am 10.12., verfasst von Johannes Herwig-Lempp – ein schönes Beispiel für Interaktivität und Rückbezüglichkeit im Advent 🙂

Johannes Herwig-Lempp, Halle: Ich muss nicht, aber ich kann, wenn ich will: nach Möglichkeiten suchen

Lieber Herr Brunner,

vielen Dank für Ihren Adventskalender-Beitrag vom 10. Dezember 2017. So wie Ihnen ergeht es vielen von uns – und immer wieder: in der Sportgruppe, in der Nachbarschaft, unter KollegInnen, mit KlientInnen, in der Familie und auf Familienfesten. Wenn man sich umhört, kann man viele ähnliche Beispiele sammeln. Wir alle sind oft genug zunächst ratlos, wie wir angemessen auf fremdenfeindliche, sexistische, rassistische oder auch oft genug auf unglaublich einfältige Bemerkungen und Situationen reagieren können.

Sie haben das Gefühl, keine systemisch vertretbaren Handlungsalternativen zu haben. Und da möchte ich Ihnen doch wiedersprechen. Sie hatten sehr wohl einige Reaktionsweisen zur Hand, und Sie haben sie auch angewandt: Nachdem Sie zunächst vermutlich einfach nur zugehört haben, vielleicht auch geschwiegen und sich geeignete Reaktionen überlegt haben (das sind ja auch schon durchaus vernünftige Handlungsoptionen), riefen Sie: „Hört doch endlich auf damit“, und Sie sind schließlich nicht mehr in die Sportgruppe gegangen – alles Reaktionsweisen, die sinnvoll sind, verständlich, nachvollziehbar. Und auch „systemisch vertretbar“.

Johannes Herwig-Lempp

Dass Sie trotzdem unzufrieden mit sich sind, kann ich ebenfalls gut verstehen, weil ich es mit mir nach solchen Situationen auch manchmal bin. Andererseits: Was erwarten und erhoffen wir uns eigentlich von unserer Reaktion, wann wären wir zufrieden mit uns? Geben wir uns dafür überhaupt eine Chance? Oder wollen wir vielleicht einfach zu viel? Wollen alles zugleich: uns selbst treu sein, unserer Meinung Ausdruck geben, Kante zeigen, andere kurzfristig wirkungsvoll in ihrem Verhalten oder besser noch auch in ihrer Meinung grundsätzlich verändern, uns trotzdem noch mit ihnen gut verstehen, mit ihnen in einem Dialog auf Augenhöhe bleiben – und schließlich am liebsten weiterhin (wie in Ihrem Fall) an der Sportgruppe teilnehmen? Und halten wir „systemisch“ für eine Wunderwaffe, mit der wir die Welt mit wenigen Interventionen so verändern können, wie wir das wollen – so dass anschließend wir selbst zuerst und dann alle anderen vielleicht auch zufrieden sind?

Möglicherweise haben wir in solchen Momenten einfach zu hohe Erwartungen – an uns und an die Wirkung unseres Handelns – wollen zu schnell endgültige Lösungen (und zwar solche Lösungen, die vor allem wir selbst für richtig halten). Und vielleicht erinnern uns nicht daran, dass wir in vielen, vielen anderen Situationen auf andere Meinungen und Ansichten, Störungen und Belästigungen keineswegs immer besonders rigoros und perfekt, mit durchschlagender Wirkung in unserem Sinn, sondern durchaus je nach Situation unterschiedlich, auch gelassen, humorvoll, abwartend, konstruktiv nachsichtig etc. reagieren – und das auch in Ordnung ist, für uns selbst und auch für andere.

Vielleicht gibt es nicht die eine, die richtige Reaktion – und vielleicht behindern wir uns selbst, wenn wir sie finden wollen. Ich selbst suche in solchen Fällen dann (sofern ich es merke und dran denke, aber manchmal erinnert mich auch jemand) nach möglichst vielen unterschiedlichen Reaktionen (lustige, aggressive, bequeme, provokative, zynische, mitleidige, unterstützende – aber auf keinen Fall: die perfekte!) – und finde dabei in der Regel auch welche, die mir Lust darauf machen, mich wieder weiter damit auseinanderzusetzen und nicht allzu frustriert zu sein, dass ich meine Umwelt nicht ganz alleine gestalten kann. Ich werde ein bisschen gelassener – und kann so leichter angemessene Handlungsweisen für mich finden. Und wenn mir gar nichts einfällt, frage ich andere nach ihren Ideen.

Ich möchte gerne noch mal hervorheben: Ihnen sind schon einige systemisch vertretbare Handlungsalternativen eingefallen. Und ich bin sicher, Ihnen (und uns allen) fallen noch viele mehr ein – wenn Sie (und wir) danach suchen. Man muss ja nicht danach suchen, aber man kann, oder könnte zumindest. Denn nicht immer will man sofort suchen – aus Wut, aus Ärger, aus Enttäuschung. Mit ein bisschen Abstand fällt einem dann vielleicht auf, dass Wut, Ärger und Enttäuschung, dass auch der Wille, dass es anders sein soll, alleine nicht reicht – und wir ein bisschen unseren systemischen Grips anstrengen können, um auf noch mehr Handlungsoptionen zu kommen, als uns zunächst einfallen. Und das wäre ja dann schon wieder „systemisch engagiert“.

Herzliche Grüße
Ihr
Johannes Herwig-Lempp

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Ein Kommentar

  1. Kajo Aicher sagt:

    Beim Lesen des heutigen Adventskalendereintrags (11.12.2023) bin ich auf die sehr interessanten Beiträge von Ewald Johannes Brunner und Johannes Herwig-Lempp gestoßen, die mich zum Nachdenken aber auch zum Kommentieren veranlassen.
    Mir geht es nämlich oft auch wie Herr Brunner. Letztendlich verlasse ich den Raum, die Gruppe usw. und bin mit mir unzufrieden, wenn ich nicht mehr weiter weiß.
    Die systemischen Lösungs- bzw Handlungsvorschläge von Herr Herwig-Lempp sind durchaus alle gut und richtig. Aber: Das Grundbedürfnis von Herr Brunner: Den “Kurs zum Kraft- und Balance-Training” zu besuchen um eben Kraft und Balance zu finden und/oder zu bekommen, der wird nicht (mehr) erfüllt. Und darum geht es. Somit ist Herr Brunner Verlierer im doppelten Sinn. Die Populisten können weiterhin ihre Meinung kundtun und auch weiter trainieren. Er kann es nicht. Zumindest nicht in dem Kurs.
    Das finde ich sehr schade und ich sehe auch keine Lösung für dieses Dilemma. Vielleicht kann mir das jemand weiterhelfen. Bez. nach 6 Jahren… wie ging es aus für Herr Brunner?
    Viele Grüße und weiterhin einen besinnlichen Advent
    Kajo Aicher

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