Schon 2009 war das Jubiläum des Mauerfalls Thema im systemagazin-Adventskalender (meine persönlichen Erinnerungen muss ich daher hier nicht mehr wiederholen, sie kann man hier nachlesen.
Bemerkenswert erscheint mir, dass im öffentlichen Diskurs der Unterschied zwischen Ost und West in den vergangenen 10 Jahren nicht kleiner, sondern eher größer geworden zu sein scheint. Der Optimismus, dass „zusammenwächst, was zusammen gehört“, ist nicht das Leitmotiv in der aktuellen Debatte. Allenthalben liest man Nachrichten und Geschichten, die deutlich machen, dass die Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern keineswegs aufgehoben sind, sondern sich in den unterschiedlichsten Feldern bemerkbar machen, ja sogar zuspitzen. Am augenfälligsten zeigt sich dies im Zulauf zu PEGIDA und AfD in den neuen Bundesländern und den damit verbundenen Wahlergebnissen der letzten Landtagswahlen.
Nun sind auch die Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland keineswegs gering zu schätzen, die unterschiedlichen Landsmannschaften pflegen diese Unterschiede (und wechselseitigen Negativ-Zuschreibungen) nach wie vor seit Jahrzehnten mit Hingabe. Der Ost-West-Unterschied scheint aber anders gebaut zu sein. In jedem Fall ist er ein Unterschied, der fortwährend neue Unterscheidungen erzeugt, die das Gefühl der Einheit konterkarieren.
Die alten westlichen Bundesländer teilten seit 1949 auf der Basis des Grundgesetzes die Struktur der staatlichen Institutionen (Legislative, Exekutive, Jurisdiktion) mit letztlich vernachlässigbaren Unterschieden, achten extrem auf Proporz bei Mittelzuteilungen (Finanzausgleich) und Postenvergabe bis hin in die Parteiengliederungen etc., waren daher wesentlich auf Symmetrie – und Ausgleich bei allzu deutlichen Unterschieden – ausgerichtet.
Die früh von Adenauer und der CDU durchgesetzte Westbindung der Bundesrepublik bei bloß semantischer Solidarisierung mit den „Brüdern und Schwestern in der Sowjetischen Besatzungszone“ trug maßgeblich zur deutschen Spaltung entlang des eisernen Vorhangs bei, die sich nicht nur in den unterschiedlichen politischen und ökonomischen Systemen manifestierte, sondern auch die grundlegenden Formen des Alltagslebens, der Bildung, der Kultur und Sprache, kurz der Habitusformation (Bourdieu) betraf. Wie wir wissen, ist Habitus nicht das Ergebnis von bewussten politischen, ökonomischen oder anderen Entscheidungen zu Lebensführung (und insofern leicht revidierbar, wenn sich andere Umstände ergeben), sondern die Verinnerlichung kollektiver Dispositionen der Lebenspraxis, die sich aus der Verfügung über ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Kapitalien ergeben. Sie sind verkörperlicht und daher nicht nur nicht beliebig veränderbar, sondern werden auch transgenerational weitergegeben. Bei allen individuellen familiären Verbindungen, die durch die politischen Systeme und den Mauerbau zertrennt wurden und nur durch aufwendige kommunikative Anstrengungen aufrechterhalten werden konnten, führte das im Laufe der 40 Jahre getrennter Systeme zwangsläufig zu einem gewissen Fremdheitserleben im wechselseitigen Kontakt, das auch heute noch virulent zu sein scheint. Mit der Übernahme neuer Formen der Lebenspraxis ist daher noch nicht gleich eine Veränderung des Habitus verbunden – die Frage der Zeiträume, dies es braucht, um politische, ökonomische und kulturelle Differenzen einzuebnen, ist also eng mit der Frage verbunden, inwiefern und auf welche Weise die deutsche Teilung tatsächlich so aufgehoben werden kann, dass sie auch auf der Ebene des Habitus, der Einstellungen und Präferenzen in der Bevölkerung nicht mehr als trennend erlebt wird.
Spaltungsprozesse in Systemen werden selten vom Motiv getrieben, eine stabile Symmetrie der getrennten Teilsysteme herzustellen, sondern eher vom Dominanzanspruch eines der Teilsysteme, der sich im Gesamtsystem nicht realisieren lässt. Aufgrund der Einbindung der deutschen Teilstaaten in den weltweiten Ost-West-Konflikt des kalten Krieges kam es zu einer relativ stabilen politischen Symmetrie, während die sehr unterschiedliche ökonomische Entwicklung und Ressourcenlage schon früh zu einer massiven wirtschaftlichen Asymmetrie führte, die letztlich auch zum Verhängnis für die DDR wurde.
Für die sogenannte Wiedervereinigung stellte sich daher die Frage, ob es sich dabei um die Vereinigung zweier symmetrischer Systeme handeln oder ob es primär um einen komplementären Akt des Anschlusses des Schwächeren an den Stärkeren gehen sollte. Diese Optionen wurden damals auch diskutiert.
Im „10-Punkte-Programm“, das der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl dem Bundestag am 28.11.1989 vorschlug, hieß es: „Punkt 4 – Vertragsgemeinschaft: Es ist zunächst eine Vertragsgemeinschaft anzustreben. Diese beinhaltet ein dichtes Netz von Vereinbarungen und in naher Zukunft auch gemeinsame Institutionen. Bereits bestehende oder neu gegründete Kommissionen könnten neue Aufgaben in Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit oder Kultur übernehmen. Punkt 5 – Schaffung konföderativer Strukturen:
Es ist sogar denkbar, konföderative Strukturen zu erschaffen, um in Deutschland eine bundesstaatliche Ordnung zu errichten. Voraussetzung für einen solchen Schritt ist allerdings eine vom Volk legitimierte und demokratisch gewählte Regierung der DDR. Vorstellbar sind in diesem Rahmen ein gemeinsamer Regierungsausschuss zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, gemeinsame Fachausschüsse, ein gemeinsames parlamentarisches Gremium. Sogar eine deutsche Einheit ist greifbar, wenn dies im Sinne der Entwicklung in der DDR ist.“
Eine Vertragsgemeinschaft hätte die deutsche Einheit über Verhandlungen über eine gemeinsame Verfassung, gemeinsame Institutionen usw. herstellen sollen, d.h. unter Anerkennung einer gegebenen politischen Symmetrie beider Staaten. Wie wir wissen, kam es anders.
Denn die Schwesterparteien der CDU-FDP-Regierung unter Kohl traten als „Allianz für Deutschland“ und „Bund Freier Demokraten“ im folgenden DDR-Volkskammer-Wahlkampf für eine schnelle Vereinigung durch Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz ein – und gewannen die Wahl mehr als deutlich. Am 20. 9.1990 wurde der Einigungsvertrag und damit die Vereinigung „durch Beitritt“ in der Volkskammer mit 299 gegen 80 Stimmen angenommen.
Der alte Artikel 23 des Grundgesetzes hatte den Haken, dass die Anwendung des Grundgesetzes nur durch die Zustimmung der Bundesländer Geltung erlangen konnte, der Beitrittsvertrag jedoch von der Regierung der DDR ausgehandelt wurde. Die Länder in der DDR besaßen noch keine demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen, da die Landtage erst nach dem Vollzug des Beitritts gewählt wurden. Die Wiedervereinigung ist also nicht das Ergebnis von Verhandlungen zweier autonomer Vertragspartner in symmetrischer Position gewesen, sondern der Anschluss eines schwächeren an den stärkeren Partner, bei dem von den institutionellen Strukturen der DDR, auch jenen, die nicht viel mit dem sozialistischen Erbe des kalten Krieges zu tun hatten, nicht mehr viel übrig blieb. Das betrifft viele Aspekte des Ausbildungssystems, der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung wie auch anderer alltagspraktischer Verfahren und Regelungen, die von einem auf den anderen Tag bedeutungslos wurden.
Kohl hatte seinen Wahlkampf mit dem Versprechen „blühender Landschaften“ im Osten geführt. Auch wenn heute in vielen Regionen Ostdeutschland eine Verödung und Ausblutung lebenswichtiger Infrastrukturen festzustellen ist, sind der Transfer von Kapital von West nach Ost innerhalb eines Landes und die damit verbundenen ökonomischen Entwicklungen im Weltmaßstab nach wie vor einzigartig. Dieses Argument taucht immer wieder auf, wenn darauf hingewiesen wird, dass es den Ostdeutschen wesentlich besser geht als ihr Gefühlszustand ihnen signalisiert. In der Tat vermittelt ein Gang durch die Innenstadt von Oberhausen heutzutage das Gefühl, dass die Wiedervereinigungsverlierer auch im Westen zu finden sind. Offensichtlich beziehen sich diese Argumente allerdings eher auf feststellbare volkswirtschaftliche Daten als auf die gefühlten Unterschiede zwischen Ost und West (auch wenn die AfD in den abgehängten Regionen des Ruhrgebietes Stimmengewinne einheimsen konnte).
Mit der Übernahme staatlicher Strukturen und Institutionen der alten BRD ist die Veränderungslast der Wiedervereinigung im Grunde den ostdeutschen Ländern aufgebürdet worden. Was sich für mich in Köln, also am westlichen Rand der Republik, nach 1989 gefühlt verändert hat, ist der Soli und die Rechtsabbieger-Ampel. Mein Leben war also keinen großen Veränderungen unterworfen. Das mag für Westberliner oder anderer Menschen in größerer Nähe zur DDR anders gewesen sein, aber strukturell brauchten Westdeutsche keine Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse zu befürchten.
Die Chance, sich für die Herstellung einer „Vertragsgemeinschaft“ Zeit zu nehmen, auf Augenhöhe eine gemeinsame Verfassung zu entwerfen und auf dieser Grundlage auch bewahrenswerte Elemente der DDR (z.B. im Gesundheitswesen u.ä.) in ein neues Deutschland einzubringen, wurde nicht genutzt. Statt dessen führte der schnelle – und von Entscheidungsträgern beider Seiten präferierte – Anschluss an die BRD und die als Beitrittsgeschenk gedachte eins-zu-eins-Währungsumstellung von Ost- auf Westmark zur Abwicklung von tausenden nun vollends konkurrenzunfähig gewordenen Betrieben durch die Treuhand, die wohl unter diesen Bedingungen ökonomisch unvermeidbar war, aber für die Entwicklung eines Gefühls der Gemeinsamkeit von West und Ost bis heute eine schwere Bürde darstellt. Hinzu kommt, dass die Abschaffung aller Institutionen der DDR und der Aufbau neuer Strukturen nur durch den massenhaften Import westlicher Verwaltungsexperten vollzogen werden konnte. Noch 2017 waren 74 % der höheren Posten in den Ministerien der neuen Länder mit JuristInnen aus Westdeutschland besetzt, der Westanteil an den Regierungen der neuen Länder ist ebenfalls bemerkenswert. Ostdeutsche sind in den bedeutenden Entscheidungspositionen der Republik immer noch nicht angemessen vertreten, auch wenn wir eine Bundeskanzlerin aus Ostdeutschland haben – die aber offensichtlich nicht wirklich als Repräsentantin Ostdeutschlands wahrgenommen wird.
Die Einheit der gesellschaftlichen Funktionssysteme ist längst vollzogen, niemand wünscht sich ernsthaft DDR-Verhältnisse zurück, aber dennoch zeigen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse, wie tief die mentale Spaltung in Deutschland offenbar immer noch ist. Die Ereignisse der letzten Jahre deuten darauf hin, dass sich die Gräben eher vertieft haben.
Wie steht es denn nun um die empfundene Einheit, die doch laut der Neufassung der Präambel des Grundgesetzes 1990 „in freier Selbstbestimmung … vollendet“ wurde? Was ist überhaupt Einheit – und wovon muss sie unterschieden werden? Jede begriffliche Bestimmung ist auf eine Unterscheidung angewiesen und damit auf eine Nicht-Einheit, wusste schon der Neoplatoniker Plotin, ein sehr moderner differenzierungstheoretischer Gedanke. Als Gegenbegriff der Einheit setzte er aber nicht den Begriff der Vielheit (oder moderner: Vielfalt), sondern den Begriff der Andersheit. Einheit als Wurzel der Identität existiert nicht ohne das Andere, Fremde: Einheitserleben und Andersheit bedingen sich wechselseitig.
Betrachtet man Einheit und Andersheit nicht als ontologische Kategorien, sondern als beobachterabhängige Konstruktionen, kommen wir der Frage näher, wieviel Fremdheit brauchen wir, um Einheit und Identität zu erzeugen? Und wer oder was ist dann jeweils das Andere? Hat die Wiedervereinigung die innerdeutsche Entfremdung in den 40 Jahren der Teilung trotz aller familiärer, biografischer und unternehmerischer Verbindungen und Neu-Verknüpfungen so umfassend aufheben können, wie es 1949 angedacht war? Wie fremd (anders) sind sich Ossis und Wessis immer noch? Offensichtlich sind die Laufzeiten für habituelle und kulturelle Veränderungen deutlich länger als die für politische und ökonomische Transformationen. Offensichtlich unterscheidet sich auch das Interesse und die Toleranz für das Fremde entscheidend zwischen Ost und West. Der Versuch, Identität durch Abwertung und Ausgrenzung des Fremden zu schaffen, ist offensichtlich im Osten erfolgreicher als im Westen. Das ist sicher auch die Folge der radikalen Abschottung der DDR-Bevölkerung vor Fremdbegegnungen, selbst mit den Fremdarbeitern aus den sozialistischen Brüderländern im eigenen Land – von der mangelnden Möglichkeit, Erfahrungen mit dem Fremden durch eigene Reisetätigkeit zu erwerben, einmal ganz abgesehen. Aber mir scheint, dass es darüber hinaus auch etwas damit zu tun haben könnte, in bestimmten Hinsichten immer noch mit der neuen Republik zu „fremdeln“ und sich das Erleben, „ein Volk“ zu sein, nur über die Ablehnung und Ausgrenzung derjenigen zu verschaffen, die nun das wahre Andersheit verkörpern: Migranten und Flüchtlinge, also Ausländer.
Integration ist das Zauberwort im Umgang mit der Differenz von Einheit und Andersheit. „Integrare“ bedeutet ursprünglich wiederherstellen und ergänzen, aber auch hineinnehmen, aufnehmen etc. Integration bedeutet also nicht die Aufgabe von Unterschieden, um Einheit zu erzeugen, sondern vielmehr, die Differenz von Einheit und Andersheit in eine neue Form der Einheit zu überführen.
Das Ergebnis gelungener Integration wäre dann ein Konzept von Einheit, das nicht nur ausreichend Platz für Unterschiede der Herkunft, Kultur und Lebensweise der Mitglieder einer Gesellschaft lässt, sondern auch das Interesse füreinander, die Entwicklung von hybriden und amalgamen Lebensformen und die Geduld für ein zunehmendes Vertrautwerden einschließt und fördert, um die vorhandenen Unterschiede nicht als trennend, sondern vielleicht als amüsant, tolerierbar und anregend zu erleben. Das ist wohl mit dem Begriff des Melting Pots gemeint, der die Schlüsselmetapher der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft dargestellt hat. Womöglich hängt die Schwierigkeit der Integration von Flüchtlingen und Migranten in Deutschland, vor allem Ostdeutschland, mit einer unzureichenden Integrationsleistung im Zuge der Wiedervereinigung zusammen?
Wir beobachten gegenwärtig (nicht nur in Deutschland), wie diese Integrationsidee zunehmend unter dem Druck aggressiver identitärer, nationalistischer und rassistischer Bewegungen ins Hintertreffen gerät: Die Mauer (nicht nur) in den Köpfen feiert wieder fröhliche Urständ. Das mag auch ein Reflex auf die wachsende Bedrohungslage durch die Klimaveränderungen und die undurchschaubaren Globalisierungsfolgen sein. Einen Ausweg sehe ich momentan nicht, das stimmt mich pessimistisch, was einen Tag vor Heiligabend keine frohe Botschaft ist.
Da hilft vielleicht nur Humor: Die Kabarettisten Jürgen Becker und Rüdiger Hoffmann haben ein Buch darüber verfasst, dass Nordrhein-Westfalen vielleicht ein gutes Modell für Integration abgeben könnte: „Ein Skandal, der zum Himmel schreit: Da wurden Rheinländer und Westfalen vor fast einem halben Jahrhundert zwangsweise zu einem Bundesland vereinigt, und kein Mensch spricht über die unzähligen und gewaltigen Probleme, die das aufwirft.“ Und: „Es ist furchtbar, aber es geht.“