systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2025 – 20. Lothar Eder

| Keine Kommentare

Waldweisheit

Als Tom Levold einlud, Beiträge zum diesjährigen Adventskalender des systemagazins zu schreiben und den thematischen Rahmen „Umgang mit Ambivalenzen, Widersprüchen …“ vorgab, dachte ich spontan an den Wald als Ort, der alle Ambivalenzen und Widersprüche, alles Übermaß von kognitivem und bewertendem Hin und Her schluckt, wenn ich mich dort aufhalte.

Meine frühesten Erinnerungen haben mit der Natur zu tun. Mit Wiesen und blühenden Pflanzen am Wegesrand und den Bergen zum Greifen nahe. Ich war ein kränkliches Kind und so wurde ich wie viele Kinder in den frühen 1960er Jahren als Dreijähriger zur „Kindererholung“ geschickt. Was mich erwartete und wochenlang dauerte war ein Ausgeliefertsein an zum Teil sadistische Betreuerinnen und eine schwarze Pädagogik, die noch aus der nationalsozialistischen Zeit stammte. „Verschickungskinder“ nennt man uns heute, ein weit verbreitetes Schicksal der damaligen Generationen.

Ich erinnere mich an Ausflüge in die Natur, die wir Kurkinder damals gemacht haben. Es war Sommer in Oberbayern, es war warm und grün und es duftete wunderbar. Die Natur, die Pflanzen waren mein Trost. Die Blüten leuchteten mir entgegen und ein anderes Kind zeigte mir, wie man den Nektar aus bestimmten Blüten saugt. Die Natur war einfach da, sie war überbordend lebendig, ich durfte in sie eintauchen und sie behelligte mich nicht. Da war etwas, das größer war als die Betreuerinnen, die einen schikanierten.

Ich wuchs auf am Fuß des Bayrischen Waldes, die Berge und „da Woid“, wie man in dieser Gegend sagt, waren immer gegenwärtig. Die Eltern waren auf unspektakuläre Weise natur- und heimatverbunden und so waren Fahrten in den Wald und Wanderungen durch die Natur und auf die Gipfel Normalität. Ich lernte, dass der Wald nicht einfach der Wald war. Da gab es dunkle Fichtenwälder und Mischwald, Areale, die wie verschlossen wirkten und solche mit einer überwältigenden Offenheit. Ganz unterschiedliche Stimmungen hielt der Wald bereit. Etwas in mir bemerkte die unverrückbare Präsenz des Waldes, seine Lebendigkeit und etwas, das einen längeren Atem hatte als das Auf und Ab eines menschlichen Alltags. Nach stundenlangem Gehen war man verändert, war das manchmal Schwere des Alltags verwandelt und der weite Blick von den Höhen aus ließ vieles da unten in den Niederungen kleiner erscheinen als es mir ursprünglich erschienen war.

Viele Jahre später kam der saure Regen und der Borkenkäfer und der Sturm, der meinen Namen trug machte aus dem dichten Wald ein Meer von Baumleichen. Das „Waldsterben“ war in aller Munde und viele waren überzeugt, dass der Wald nun aufgrund unserer Umweltsünden stirbt. Lange, sehr lange würde es dauern, dass die Natur, wenn überhaupt, sich regenerieren würde. Zur allgemeinen Überraschung aber wuchs innerhalb von 10, 15 Jahren ein neuer Wald, dort wo man die Natur einfach machen ließ und nicht eingriff. Dort, im ersten Nationalpark Deutschlands, wuchs ein Wald so wie er wachsen wollte. Kein Menschenwald, sondern ein lebendiger, biodiverser und kraftvoller Wald. Es war eine Lehre, eine Demonstration des Lebendigen, das einfach so waltet, wenn wir es lassen. Der Wald erzählte mir von der Kraft des Lebens, die auch in uns existiert, denn wir sind Natur. Ein Denken, das mir im systemischen Kontext wiederbegegnete und das ich aus meiner humanistischen Prägung in den 1970er Jahren bereits kannte: Verzage nicht – auf einen Niedergang folgt ein neues Werden! Bring nicht den Fluss zum Fließen, sondern entferne das, was ihn am Fließen hindert! Und vertrau auf die Kraft, die allem Lebendigen innewohnt! – das war die Lehre des Waldes.

Diese Verbindung mit der Natur scheint mir verwandt mit dem „verinnerlichten Einsgefühl mit der Natur“, von dem Herbert Gruhl im Zusammenhang mit den indigenen Völkern Nordamerikas spricht. Der Biologe und Philosoph Andreas Weber, Schüler von Francesco Varela, spricht davon, dass das Lebendige in mir das Lebendige in der Natur wie selbstverständlich kennt; ein „Kennen“, vielmehr ein „Wiedererkennen“ auf einer archaischen Ebene, mehr auf der Ebene des limbischen Systems, der Intuition als auf der neokortikalen kognitiv-diskursiven Ebene. Die Indigenen Nordamerikas, aber auch die alteuropäischen Völker betrachteten die Erde als Mutter. Der Baum ist mir in diesem Denken, das mehr ein Intuieren als ein Denken ist, brüderlich-schwesterlich verbunden und nicht ein Objekt mit einer bestimmten Anzahl an Festmetern Holz. Mit Andreas Weber lässt sich sagen, dass das Fließen des Chlorophylls im Baum das Fließen des Blutes und der Lymphe in mir „erkennt“; dass ich mir im Kontakt mit der Natur meiner eigenen Lebendigkeit, dem Fluiden in mir, näher komme und meine Lebendigkeit und damit meine Regenerationsfähigkeit angeregt wird. 

Humberto Maturana spricht in diesem Zusammenhang in seinem mit Gerda Verden-Zöller veröffentlichten Buch „Liebe und Spiel“ von der Teilhabe an einer mystischen Naturverbundenheit, einem Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesamtheit alles Lebendigen, welche das Weltgefühl und das Naturverhältnis der frühen europäischen Kulturen prägte. 30 Jahre vor Weber beschreibt Maturana ein Naturverhältnis der indigenen matristischen alteuropäischen Völker, das ebenso wie das der nordamerikanischen Indigenen von dem „Einsgefühl“ geprägt ist, das Herbert Gruhl heraushob. Er folgt damit der Anthropologin Maria Gimbutas; sie beschrieb eine vorindogermanische Donaukultur, deren Verehrung des Mütterlichen und der Natur durch die „große Göttin“ repräsentiert wird. 
Na und, könnte man sagen, was hat das mit uns Heutigen zu tun? Diese matriarchalen Kulturen werden übereinstimmend als friedlich beschrieben; Gewaltsame Unterwerfung – der Natur, der Frauen, der Kinder, von anderen Völkern – war ihnen fremd. Kooperation, Lebenspflege, Ausgleich und Subsistenzwirtschaft waren die Charakteristika dieser Kulturen. Auch Jean Liedloff, die während zweier längerer Phasen bei den indigenen Yequana im Amazonasgebiet lebte, beschreibt in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ dieses einvernehmliche und harmonische Leben im Strom des Lebendigen. 

Ist das nicht alles verklärende Romantik, Wunschtraum, realitätsfern? Das mag jede(r) selbst für sich entscheiden. Es würde aus meiner Sicht schon reichen, wenn wir in Erwägung ziehen könnten, dass der Krieg, das Lebensfeindliche, die Unterwerfung und das Streben nach Kontrolle, um Glück zu erlangen, menschheitsgeschichtlich relativ neu ist und dass sich am Beginn der menschlichen Zivilisation Friedfertigkeit, Ausgleich und Lebensfreundlichkeit (Biophilie) finden.

Mittlerweile hat die Erkenntnis, dass Wälder nicht einfach Baumplantagen mit ein paar Füchsen, Hasen und Rehen dazwischen sind, sondern komplex vernetzte Lebensgemeinschaften, auch bei uns ein breiteres Publikum erreicht (Wohlleben 2015). Über kilometerlange und dicht verwobene Netze von Pilzfäden im Boden kommunizieren Bäume miteinander, sie tauschen Nährstoffe und Information aus (z.B. die Warnung vor Schädlingen). Die Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard fand sogar heraus, dass es im Wald „Mutterbäume“ gibt, die ihre „Nachkommen“ gezielt „großziehen“ und sie unterstützen, wenn sie krank sind (Simard 2022). In  diesem Verständnis sind Wälder nicht nur lebende, organische, sondern vielmehr soziale Systeme. 

Eine Überfülle von Studien zeigt uns, dass der Wald gesund ist. Er fährt unsere Immunabwehr hoch, er macht uns glücklich, weil er die Serotoninproduktion fördert und er bringt uns vom Kopf wieder auf die Füße. 

Dem Wald kann ich alles erzählen und er nimmt es stoisch auf. Er kennt keine Widerrede und kein Abwägen, er ist reine Präsenz. Er kennt auch kein „rechts“ und „links“, keine Parteien und keine Meinungen, die erwünscht oder nicht erwünscht sind. Dialektik ist ihm fremd, Polarität zueigen. All meine Denkerei nimmt er hin, aber es ist so, als ob er mich vom Kopf wieder auf die Füße stellen würde, wenn ich mich ihm anvertraue. Der Wald zeigt mir, dass aus dem „Stirb“ immer wieder ein „Werde“ wird. Der Frühling kommt, egal welche Parteien gerade regieren. Und ich habe den Verdacht, dass er, wenn er könnte, schmunzeln würde über all die Worte, die ich hier über ihn verliere.

Quellen

Eder, Lother (2025). Zuversicht; in: Weiss, Bettina, Trag die Freiheit weit hinaus; kaliope paperbacks, S. 61-66

Gruhl, Herbert (1984). Häuptling Seattle hat gesprochen : der authentische Text seiner Rede mit einer Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit; Erb Verlag

Liedloff, Jean (2005). Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit; becksche reihe.

Maturana, Humberto und Verden-Zöller, Gerda (1993) Liebe und Spiel. Die vergessenen Grundlagen des Menschseins; Carl Auer Verlag.

Simard, Suzanne (2021). Die Weisheit der Wälder. Auf der Suche nach dem Mutterbaum; btb Verlag

Weber, Andreas (2023). Essbar sein. Versuch einer biologischen Mystik; thinkOya Verlag.

Wohlleben, Peter (2015). Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt; Ludwig Verlag.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.