Apropos Unterschied Patriotismus/Nationalismus
neben den alltäglichen Unterschieden, die es uns bekanntlich ermöglichen, am Leben zu bleiben, habe ich in meinem mittlerweile recht langen Leben einige mich prägende oder zumindest verunsichernde Situationen erlebt, weil sie einen Unterschied zum Üblichen und Bisherigen machten. Heute wähle ich zum Thema des diesjährigen Adventskalenders davon die Folgende:
Sie geschah, als ich Anfang der 1960er Jahre für zwei Jahre in Los Angeles, Kalifornien, lebte. Als junger eingewanderter Chilene schloss ich mich einer Gruppe von ebenfalls eingewanderten jungen Menschen an, die aus England, Argentinien und aus dem Westen des damals geteilten Deutschlands stammten.
Neben den vielen Aktivitäten, denen junge Menschen üblicherweise miteinander nachgehen, nahmen einige unter uns, die Liebhaber der klassischen Musik waren, das Angebot des malerisch gelegenen Amphitheaters Hollywood Bowl an und besuchten dort gemeinsam die sommerlichen open air Konzertabende. Es spielte die Los Angeles Philharmonic Orchestra unter dem damals noch jungen indischen Dirigenten Zubin Mehta.
An einem dieser Abende spielte das Orchester zu Anfang – wie in USA üblich bei allen möglichen Veranstaltungen – die US-amerikanische Nationalhymne. Wer die USA bereist hat, wird sicherlich wahrgenommen haben, wie dort die Zuneigung zum eigenen Land offenbar etwa durch Aufstellen der Nationalflagge vor dem Haus ausgedrückt wird, und zwar nicht nur an besonderen nationalen Feiertagen, sondern durchgängig. Kaum ein Football-Spiel oder ein Rodeo beginnt ohne das Vorspielen der Nationalhymne. Vermutlich verstärkt diese als patriotisch bedachte Sitte das Gefühl von Zugehörigkeit, vor allem in den Ländern der sog. Neuen Welt, die zu einem wichtigen Teil von Einwanderern aus unterschiedlichen Kulturen bevölkert wurden. Dies gilt auch für mein Heimatland Chile. Auch dort ist ein patriotisches Gefühl ein wichtiges verbindendes Element der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit. Daran aus eigenen Erfahrungen gewöhnt, erhob mich geradezu automatisch, als die Nationalhymne der USA angestimmt wurde. Gleiches tat ein Großteil der vielen Besucher des Hollywood Bowls.
Bei einem zufälligen Blick zur Seite erkannte ich aber, dass eine aus unserer Gruppe entgegen allen Gepflogenheiten als einzige sitzen geblieben war. Es war Helga, eine junge Bremerin, die nach den USA ausgewandert war und in Los Angeles als Angestellte arbeitete. Ich konnte ebenfalls feststellen, dass einige der Anwesenden sich zu ihr hindrehten und sie anschauten. In einer ersten Einschätzung fand ich diesen Unterschied im Vergleich zu allem anderen um sie herum als schlicht ungehörig und als Zeichen von Respektlosigkeit.
Dieses Verhalten, das für mich einen verstörenden Unterschied ausmachte, war so außerhalb des Erwartbaren, dass ich mich nicht einmal getraut habe, sie nach dem Grund zu fragen. Statt dessen fragte ich ihre Freundin, mit der sie eine Wohnung teilte. Die Erklärung, die ich bekam, war irgendwie einleuchtend und dennoch verunsichernd: Sie stamme aus Deutschland, wo sie in ihrer Kindheit nach dem Weltkrieg gelernt habe, alles Nationalistische abzulehnen oder zu umgehen.
Statt meine Neugier zu befriedigen, löste diese Erklärung in mir eine Reihe von Fragen aus, die mich aus dem wohligen Nest des ungefragt Selbstverständlichen herausstieß. Hatte sie Recht und deshalb auch die Courage, derart öffentlich gegen den Strom zu schwimmen? War jede Form patriotischer Ergebenheit ein Ausdruck von verinnerlichtem Nationalismus, der sich bei passendem Ansporn als solcher entlarven und Schlimmes ausrichten könnte? War ich eben im Recht, als ich unbedacht die Elemente des Nationalen respektierte? Oder war sie im Recht, wenn sie dieses Ganze ignorierte? Ganz sicher bin ich mir heute nicht, wie ich auf diese Fragen mit einem überzeugten Gefühl antworten sollte. Auf der Suche nach innerer Klarheit habe ich sogar beim nächsten Konzert versucht, während der Nationalhymne sitzen zu bleiben, hielt aber die fragenden bis bösen Blicke meiner Umgebung nicht stand und erhob mich.
Wie einfach es ist, im sanften Strom des Selbstverständlichen zu schwimmen, wie schwierig es wiederum ist, sich dagegen aufzulehnen und in der eigens gewählten Richtung zu schwimmen, besonders dann, wenn man sich dabei sozial isoliert.
Helgas Sitzenbleiben hat einen Unterschied erzeugt, der meinen bis dahin unbelasteten, fast niedlichen Patriotismus dauerhaft erschütterte und mir die kniffliche Frage auferlegte zu prüfen, wie sehr in mir ein Nationalismus schlummerte, der nicht nur die patriotische Liebe zum Eigenen, sondern auch die Ablehnung und Abwertung des Anderen beinhaltet.
Insofern war dies also ein Unterschied, der einen bedeutsamen Unterschied ausmachte!
Vielen Dank für diesen schönen Beitrag, der mich sehr berührt.
Ja, und wenn ich an all die Rituale in der Kirche denke, die man auch anlässlich von Beerdigungen, Weihnachsfeiern.. mitmacht, oder eben nicht – aus welchen Gründen auch immer..
Schöne Feiertage, lieber Kurt
Martin
Lieber Kurt Ludewig, ich frage mich, ebenfalls aus dem Osten der Republik stammend, den Dannebrog auf den Dänischen Küchlein steckend sehen, seit Jahrzehnten dasselbe. Da muss man gar nicht so weit fahren von Kiel aus. Und zwischen Ost und West und Nord und Süd gäbe es diesen Unterschied ebenfalls zu bestaunen und zu bedenken. Ein schöner Anstupser in meinem Kopf.
Danke dass du immer noch auf der Suche bist
Sabine
Und dann noch die Frage, inwieweit ein „gesunder“ Patriotismus (Stolz auf Land und Leute – verbindend) vielleicht sogar vor Nationalismus (Mein eigenes Land first, alle blöd außer ich und mein Land – ausgrenzend) schützen kann. Danke für diesen Beitrag und Grüße aus Schwerin