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systemagazin Adventskalender 2022 – 12. Kurt Ludewig

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Otro sueño … ein weiterer Traum

Das Thema des Adventskalenders 2022 – „systemische Zuversicht“ – rief in mir verschiedene Assoziationen hervor, von denen ich hier über eine berichten möchte. Sie betrifft ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren mit einer relativ jungen Frau führte. Sie hatte sich in einen wesentlich älteren Mann verliebt und wollte ihn heiraten. Unter anderem damit konfrontiert, dass er vermutlich lange vor ihr sterben und sie verlassen würde, antwortete sie in aller Gelassenheit, dass sie gerade deshalb vorhabe, ihre gemeinsamen Jahre besonders intensiv zu gestalten, denn wer könnte sagen, wie lang dieser Zeit tatsächlich sein würde. Ich fasste diese Antwort als resignativen Optimismus auf, als eine Form von widersprüchlicher Zuversicht angesichts des vermutlich Unveränderbaren.

Während ich mit diesem Thema befasst war, hörte ich von einer jungen Klimaaktivistin im Fernsehen, die wegen der protestierenden Beschmutzung von Bildern in Museen scharf kritisiert wurde, dass sie auch die Kunst schätzte und sich deshalb wünsche, dass auch ihre Kinder später einmal in der Lage sein könnten, schöne Bilder in Museen zu betrachten. Angesichts aber der unmittelbar bedrohlichen klimatischen Veränderungen sei es gar nicht sicher, dass sie bis dahin überleben und die schönen Künste würden genießen können. Deshalb würde sie ihre ganze Kraft daraufsetzen, den Klimakollaps aufzuhalten. Wenn man es so will, könnte man diese Äußerung als widerstrebenden Pessimismus verstehen und so auch als eine Form von widersprüchlicher Zuversicht.

Beide Situationen wirkten auf mich beispielhaft für zwei der Möglichkeiten, die wir haben, mit der aktuell vielfältig bedrohlichen Lage umzugehen. Denn für beide Frauen ging es um den Umgang mit einem befürchteten Ende und um Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Die eine akzeptierte zwar den anscheinend unweigerlichen Endzustand, war aber entschlossen, die verbleibende Zeit möglichst intensiv zu nutzen. Die andere war nicht bereit, das bedrohliche Ende kampflos hinzunehmen, sondern wollte mit allen Mitteln versuchen, es aufzuhalten. 

Beim Nachdenken über diese beiden Strategien, die auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, offenbarte sich mir jene sehr menschliche Art der Auseinandersetzung mit existenzieller Bedrohung, die weit über ein bloßes Leugnen hinausreicht und als ein “Dennoch” bzw. ein letzten Endes optimistischer Trotz auftritt. Frage ich mich nun, was dem zu Grunde liegt, fällt mir die wohl menschlichste aller Haltungen, nämlich die der Liebe, ein.

Die eine Frau hält trotz allem aus Liebe zu ihrem Lebenspartner, die andere ist um die Liebe zu den Menschen und dessen Habitat besorgt, mitunter auch um die eigene Nachkommenschaft. Nicht zuletzt geht es beiden auch um die Liebe zu sich selbst und den ihren.

Es bleibt zu fragen, ob diese beiden Bewältigungstrategien beim allem vordergründigen Widerspruch sinnvollerweise zu vereinbaren sind.

Es muss uns doch möglich sein, unsere Lebensspanne möglichst intensiv und liebevoll zu gestalten und erleben, zugleich aber bereit zu sein, die für die fortdauernde Existenz unserer Welt notwendigen Veränderungen auch dann anzugehen, wenn sie mitunter Verzicht und spürbare Einschränkungen beinhalten.

Sind wir Menschen weise genug, diese beiden Strategien sinnvoll zu vereinbaren, ohne die eine gegen die andere auszuspielen oder zu missachten? Lieben wir uns und unsere Umwelt so sehr, dass wir gegenüber der klimatischen Bedrohung bereit sind, der bequemen Lethargie des Leugnens und Verdrängens zu trotzten und so tatkräftig zu überwinden?

Persönlich will ich die Hoffnung auf die menschliche Weisheit nicht aufgeben, auch dann nicht, wenn dies nicht viel mehr als ein Traum wäre.

In diesem Sinne möchte ich an die Worte meines Landsmanns Pablo Neruda anschließen, der schrieb:

Así traigo cada mañana de mi vida del sueño otro sueño

 <So bringe ich an jedem Morgen meines Lebens aus dem Traum einen weiteren Traum>

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3 Kommentare

  1. Dörte Foertsch sagt:

    Lieber Kurt, als ich Deine Worte lesen konnte, kamen so viele Erinnerungen an Begegnungen mit Dir. Das Wort der Bewältigungsstrategien mag ich nicht.
    Ich habe in diesen Tagen die Musik von Viktor Jara wieder gehört, und Violetta mit dem wunderschönen Lied “Gracias a la Vida”, das gibt mir Kraft. Vielen Dank für Deine Gedanken, Dörte

  2. Sabine Klar sagt:

    Ja danke, lieber Kurt – es tut mir sehr gut zu hören, dass du selbst noch aufrecht da stehst und für die Liebe sprichst. Möge es dir gut gehen durch alles Schwere hindurch. Sabine

  3. Martin Rufer sagt:

    Danke, lieber Kurt, für die weisen Worte zum neuen Tag!
    Mit liebem Gruss in die Weihnachtstage
    Martin

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