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Stephen Porges über die Polyvagal-Theorie

| 20 Kommentare

Stephen Porges war im Mai 2016, neben Bessel van der Kolk, Beverly Jahn und anderen, Hauptreferent beim zweiten Kongress Reden reicht nicht!? in Heidelberg, den die Carl-Auer Akademie mit organisiert hat. Im Anschluss hat er sich mit Gunther-Schmidt über seine Polyvagal-Theorie unterhalten. Das Gespräch ist nun auf Youtube zu sehen.

20 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    Die Bedeutung des Vagus für positive Selbstregulation und psycho-somatische Gesundheit findet sich in zahlreichen nützlichen Publikationen wieder. Bei allem Respekt für den Auer Verlag und seinem Verdienst, das Thema im systemischen Feld zu implantieren, muss man schon sagen, dass sich viele Professionelle, die nicht systemisch ausgerichtet sind (bzw. es sind, aber es nicht wissen ;-)) schon seit geraumer Zeit mit der Bedeutung des Vagus beschäftigen und dazu Hilfreiches veröffentlicht haben.
    Zu nennen wären u.v.a.:
    Wilfried Ehrmann (ein renommierter österreichischer Atemtherapeut): Kohärentes Atmen (Tao Verlag Bielefeld)
    Stanley Rosenberg: Der Selbstheilungsnerv (VAK Verlag)
    Gerd Schnack: Der Große Ruhe Nerv (Herder)
    Das große Thema dabei ist Selbstregulation, in Verbindung mit Therapie und/oder Beratung bedeutet das, Klienten anzuregen/-leiten, sich selbst positiv zu regulieren und damit zu Autonomie und Wachstum zu finden.

  2. Lothar Eder sagt:

    Sehr dezent plazierte Werbung …

  3. Birgit Weissenbacher sagt:

    Kommentar aus der Praxis: man nehme Systemtheorie, Polyvagaltheorie, Resource Therapie oder was man sonst so gelernt hat, beschäftige sich damit gleichzeitig und freue sich am Ergebnis, das viele neue Beobachtungsräume eröffnet. Für die tägliche Arbeit eine absolute Bereicherung und die Garantie, dass sie spannend bleibt.
    Lieber Gerhard, vielleicht sollten wir mal auf einen Kaffee gehen…

    • Matthias Ohler sagt:

      So zum Beispiel ……

    • Gerhard Hintenberger sagt:

      Ah, liebe Birgit, gerne. Beim Ulrich? Quasi eine Praxismelange ;-).
      Ich bin ja selbst kein Systemiker, kann hier also auch nicht über die systemische Praxis mitdiskutieren. Mir geht es um einen Diskurs, der über die subjektive Evidenz hinausgeht. Hilarion Petzold hat mich vor einiger Zeit auf die Diskussion rund um die Polyvagal-Theorie aufmerksam gemacht. Und ich finde diese Diskussion in mehrfacher Hinsicht spannend. Auch unter dem Aspekt: „Auf der Grundlage welcher Integratoren verwenden wir neue Theorien und Interventionen?“ Aber ich möchte hier auch niemand eine Diskussion aufdrängen.

      • Matthias Ohler sagt:

        Was sind Integratoren?

        • Gerhard Hintenberger sagt:

          Die Frage der Integration stellt sich ja sowohl auf der Ebene der Theoriebildung mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Praxis, aber auch auf einer ganz individuellen Ebene für PsychotherapeutInnen, wenn sie z. B. vor der Aufgabe stehen, neue Erkenntnisse durch Literatur und/oder Fortbildungen, aber auch durch neue Erfahrungen innerhalb ihres Praxisalltags, hinreichend gut zu integrieren. Wenn das nicht unreflektiert erfolgen soll, scheint es sinnvoll, entlang von definierten Integratoren abzugleichen, ob die zu integrierenden Elemente mit den Leitkonzepten der eigenen „Schule“ oder der eigenen „Annahmen“ kompatibel sind. Sonst könnte es passieren, dass Interventionen in die Praxis integriert werden, die z. B. dem eigenen Menschenbild widersprechen.
          Diese Integratoren müsste eigentlich jede therapeutische Orientierung/Schule selbst definieren (zumindest implizit passiert das auch). Integratoren können auf der Metaebene angesiedelt werden (z. B. Konzepte der Intersubjektivität, der diskursiven Ethik, etc.) oder auf der Ebene der realexplikativen Theorien (z. B. Orientierung an einem Entwicklungsparadigma des „Lifespan developmental approach“, etc.) oder auf einer praxeologischen Ebene (z. B. Orientierung an einer methodenpluralen und –multimodalen Vorgehensweise, etc.).
          Das ist ein Rahmenmodell, wie es Petzold für die Integrative Therapie entwickelt hat. Es gibt hier sicher auch noch andere Ansätze. Ich glaube, es geht in erster Linie um eine nachvollziehbare, bewusste Art und Weise des Integrierens.

          Bei Interesse hier zwei Artikel:
          http://www.fpi-publikation.de/images/stories/downloads/polyloge/Petzold-Kernkonzepte-Polyloge-02-2002.pdf (hier vor allem Kapitel 2.4)

          https://rdcu.be/38rr

          Oder hier auch in einem „Erklärvideo“:

          • Matthias Ohler sagt:

            Offen gesagt klingt mir das eben gerade zu kirchlich. Wie könnte man stattdessen mit Inkompatibilitäten und Widersprüchen kreativ umgehen, wo es die aktuelle Situation, das Problemerleben usw. erfordern?
            Das Menschenbild scheint mir dabei eine besonders problematische Rolle zu spielen. Brauchen wir eines, das den ganzen Menschen als wirklich ganzen Menschen (mit all den philosophisch-erkenntnistheoretischen Traditionen des christlichen Abendlandes) beibehält?
            Hier hat ja die Neuere Systemtheorie viel sehr wichtigen Zündstoff geliefert, siehe bspw. Fritz B. Simons aktuelles Buch: Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen. Umstritten natürlich …
            Aus dem Beschreibungstext:
            „Biologische, psychische und soziale Prozesse oder Systeme stehen wechselseitig in System-Umwelt-Relationen zueinander. Das heißt, in der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf psychische Systeme sind soziale und biologische Systeme jeweils Umwelten. Umgekehrt bilden, in der Fokussierung auf soziale Systeme, psychische und biologische Systeme Umwelten. Hochrelevant und teils sehr eng gekoppelt – aber Umwelten. Es ist nicht möglich, eine Unterscheidung zu fassen, die allen anderen Unterscheidungen zugrunde liegt oder diese von ihr herleiten lassen – außer eben der formalen und allgemeinen zwischen System(en) und Umwelt(en).
            Dieser Ansatz wird häufig als Provokation erlebt, scheint er doch die Idee des ganzen Menschen und einer menschlichen Identität aufzugeben oder aktiv zu unterlaufen. Welche großen Chancen zu hilfreichen Einsichten und welche enormen Grade an Eigenwirksamkeit aber gerade in dieser methodischen Fragmentierung liegen, wird von Fritz B. Simon in diesem Buch wünschenswert klar und transparent herausgearbeitet.“
            https://www.carl-auer.de/programm/artikel/titel/formen/

  4. Matthias Ohler sagt:

    Wenn eine Theorie umstritten ist, ist das für mich eher eine Auszeichnung. Sie scheint interessant zu sein und herauszufordern. Die Frage ist eher: Wie organisiert sich der Streit? Doch hoffentlich eher nach Regeln der Scientific Community (von mir aus auch der Practitioners Community bzw. beider)? Oder mit Diffamierungen und ähnlichem? Die katholische Kirche hat ja nicht gerne gehabt, wenn man ihre Grundannahmen bestritt. Viele derer, die das dennoch taten, waren entsprechend umstritten – und erfolgreich. Von der Gründung zB einer systemischen Kirche ist mir bislang nichts bekannt.

  5. Gerhard Hintenberger sagt:

    Andererseits muss man aber auch erwähnen, dass die Polyvagaltheorie ziemlich umstritten ist.

    https://www.researchgate.net/project/Examining-Porges-Polyvagal-suppositions

    • Lothar Eder sagt:

      Nun, Herr Grossman zweifelt sie an, das ist etwas anders als „ziemlich umstritten“. Er bezieht sich auf sehr eng umschriebene Teilaspekte. Ob dies nun wiederum so zu interpretieren ist, dass damit die Theorie insgesamt als Rahmung für das Verständnis von z.B. traumatischen Pathologien nicht in Frage kommt, kann man wiederum stark bezweifeln.

      • Gerhard Hintenberger sagt:

        Hm, Grossman sieht die Grundlagen dieser Theorie nicht durch Studien belegt und verweist sie deshalb ins Reich der Spekulationen. Diese „ eng umschriebenen Teilaspekte“ sind also die Voraussetzung für das Funktionieren dieser Theorie. Aber wie gesagt, ich finde diesen Diskurs spannend, da die Polyvagal-Theorie hervorragend für die Praxis zu verwenden wäre. Sie bräuchte halt eine empirische Fundierung. Eine ausführlichere Diskussion zu diesen Aspekten gibt es übrigens hier:

        https://www.researchgate.net/post/After_20_years_of_polyvagal_hypotheses_is_there_any_direct_evidence_for_the_first_3_premises_that_form_the_foundation_of_the_polyvagal_conjectures/amp

        • Lothar Eder sagt:

          Die Grundfrage lautet einmal mehr: in der Praxis funktioniert es, funktioniert es auch in der Theorie?

          • Gerhard Hintenberger sagt:

            Naja, damit wird dann natürlich jeder wissenschaftliche Zugang obsolet ;-). Die spannendere Frage ist doch: Funktioniert es in der Praxis? Welche Wirkfaktoren stehen dahinter? Gibt es (unerwünschte) Nebenwirkungen? Wie schaut es mit den Non-Responder aus? usw.
            Hilfreich wären als Studien zu „Somatic Experiencing“ als Behandlungspraxis. Hier gibt es zumindest erste Ansätze (https://researchontrauma.com/de/forschung/). Aber die Ergebnisse sind noch weit weg von „evidenzbasiert“.
            Was mich übrigens auch irritiert ist, wenn psychotherapeutische Methoden bzw. Behandlungsansätze Somatic Experiencing® als Marke eingetragen werden.

          • Lothar Eder sagt:

            zu Gerhard Hintenberger 4.2. 10.44h: ich verwende konsequent alles, was bei mir selber funktioniert. Manchmal ist es sogar wissenschaftlich bestätigt.

        • Pamina sagt:

          Das Problem mit der empirischen Fundierung ist, dass sie die Wirkung in Einzelfällen einfach nicht wertschätzt. Nehmen wir folgendes (konstruiertes) Beispiel: 99 von 100 Klienten sprechen auf eine empirisch fundierte Therapie sehr gut an. Doch die Klientin 100 nicht. Ihr Therapeut versucht etwas anderes, weniger gut empirisch Fundiertes. Es funktioniert. Was rät man nun werdenden Therapeuten? Verwenden Sie nur wissenschaftlich Fundiertes?

          Klar, es ist etwas überspitzt. Aber nach einer jahrelangen Sozialisation in der Hochburg der Quantitativen Methoden (Uni Mannheim), bin ich trotz erheblichen inneren und äußeren Widerstands zum Schluss gekommen, dass am Ende zählt, was diesem einen Klienten hilft und nicht, was 10000 anderen geholfen hat. Und dafür braucht man mehr als quantitative Methodenlehre.

          • Wolfgang Loth sagt:

            Ja, so isses. Danke für den Beitrag. Und ich denke, dass es darüber hinaus auch noch etwas mehr braucht. Dieses „mehr“ besteht aus meiner Sicht in Rahmenbedingungen, die einen offenen, zugewandten und redlichen Austausch zwischen denjenigen fördern, die sich um das Passen im Einzelfall kümmern und denjenigen, die versuchen, orientierende Heuristiken für ein allgemeines Verständnis zu erfassen. „Drinnen“ – im unmittelbaren Kontakt – sieht es meist anders aus als „draußen“ – in der Welt der Theorien und Konzepte. Damit dies keine jeweils ausgrenzende Wirkung entfaltet, sondern den wechselseitigen Anregungsreichtum freilegt, braucht es die Bereitschaft zur Anerkennung (auch kritisch-solidarischer Anerkennung), jenseits kommerzieller und machtaffiner Interessen.

  6. Lothar Eder sagt:

    Es ist sehr zu begrüßen, dass mit dem Ansatz von Porges nun endlich auch die leibseelischen Aspekte, die unserem Erleben zugrunde liegen und dieses wesentlich regulieren, Eingang ins systemische Denk- und Handlungsfeld finden. Im Feld der praktischen therapeutischen Arbeit sind diese Aspekte seit langem etabliert – gut, dass das, was in weiten Teilen der Praxis seit langem bekannt ist und funktioniert, nun auch Eingang in die Theoriebildung und Verlagshäuser findet. Der Ansatz von Porges ist dabei eine Bereicherung, die über bisher bekanntes hinausweist. Es ist ihm zu wünschen, dass er, nicht nur im systemischen Feld, breit rezipiert wird.

  7. Matthias Ohler sagt:

    Die Schweizer Psychotherapeutin Silvia Zanotta ist m.W. die erste, die diese Theorie – neben anderen Beiträgen wie z.B. Somatic Experiencing, Resource-Therapie, Ego-State Therapie, Hypnotherapie, systemische Ansätze – so dezidiert, nachvollziehbar und praktisch in ihren therapeutischen Ansatz integriert hat. Vgl. ihr Buch aus dem Herbst 2018: „Wieder ganz werden“ (Carl-Auer)

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