systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Soziale Systeme 2007

Stichweh, Rudolf (2007): Editorial: Zehn Jahre danach. Niklas Luhmanns “Die Gesellschaft der Gesellschaft”. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 5-6

Bommes, Michael & Veronika Tacke (2007): Netzwerke in der Gesellschaft der Gesellschaft. Funktionen und Folgen einer doppelten Begriffsverwendung. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 9-20

abstract: Der Artikel unterscheidet und entfaltet zwei Verwendungsweisen des Netzwerkkonzepts in Luhmanns “Die Gesellschaft der Gesellschaft”. Das erste und extensivere Netzwerkkonzept Luhmanns richtet sich auf einen Aspekt der Operation der Kommunikation und unterstreicht damit ein Merkmal der Selbsterzeugung sozialer Systeme. In dieser Fassung sind nicht soziale Systeme selbst Netzwerke, sondern der operative Modus der Verknüpfung kommunikativer Ereignisse wird als netzwerkartig beschrieben. Jenseits dessen nimmt Luhmann in einer zweiten Fassung die empirische Existenz sozialer Netzwerke an, allerdings nur als regionales Sonderphänomen in der Weltgesellschaft und ohne daraus theoretische Schlussfolgerungen zu ziehen: Ein soziales Netzwerk kann sich nur reproduzieren, wenn es Grenzen zieht, d. h. als Sozialsystem operiert. Der Artikel diskutiert einige Funktionen und Folgen der (Unterscheidung der) beiden Netzwerkbegriffe, die sich wechselseitig nicht aufeinander zurückführen lassen.

Greve, Jens (2007): Zur Reduzibilität und Irreduzibilität des Sozialen in der Handlungs- und der Systemtheorie. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 21-31

abstract: Während die Systemtheorie mit der Annahme verbunden ist, dass sich Soziales nicht auf Individuelles reduzieren lässt, wird in der Handlungstheorie in der Regel unterstellt, dass eine solche Reduktion möglich ist. Der Beitrag setzt sich mit der Position eines nicht-reduktiven Individualismus auseinander, der quer zu dieser Einschätzung liegt, da seine Vertreter davon ausgehen, dass es trotz einer individualistischen Basis des Sozialen nicht-reduzierbare soziale Eigenschaften gibt. Mittels eines Argumentes, das Kim in der Philosophie des Geistes an einer analogen Position vorgebracht hat, lässt sich nachweisen, dass der nicht-reduktive Individualismus keine widerspruchsfreie Position ist. Es wird dann gezeigt, dass die Kritik an der Irreduzibilitätsthese im nicht-reduktiven Individualismus nicht dazu führt, die Irreduzibilitätsthese der Systemtheorie ebenfalls zurückweisen, da diese den individualistischen Ausgangspunkt des nicht-reduktiven Individualismus nicht teilt. Luhmanns Fassung des Verhältnisses von psychischen und sozialen Systemen steht aber vor der Herausforderung zu zeigen, dass es keinen substantiellen Dualismus oder Parallelismus enthält. Es wird abschließend ausgeführt, dass Luhmanns Ausführungen keine hinreichend bestimmte Antwort auf diese Herausforderung geben.

Hutter, Michael (2007): Are markets like protest movements? A theoretical appraisal of valuation systems. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 32-45

abstract: Protestbewegungen sind einer der vier Typen von gesellschaftlicher Differenzierung, den Luhmann in Die Gesellschaft der Gesellschaft diskutiert. Der Aufsatz argumentiert, dass Protestbewegungen eine Unterart eines allgemeineren Typs von sozialem Systemen sind, sogenannten »Wertungssystemen«. Diese Systeme betreiben ihre Selbstreproduktion über Aufführung / Publikum-Ereignisse, die durch Rangbildungen entlang einer systemspezifischen Wertskala kommunikativ verknüpft sind. Neben Protestbewegungen werden noch zwei weitere Unterarten identifiziert, nämlich Applaussysteme und Tauschsysteme. Beispiele für alle drei Arten werden diskutiert. Sie werden nach Arenen, Welten und Sphären unterschieden, je nach ihrem Grad operativer Schließung. Schließlich wird das theoretische Konstrukt mit den Wertungsdisziplinen, insbesondere den Arenen, verglichen, die in Harrison White’s Identity and Control modelliert sind.

Michael Hutter, Are markets like protest movements? A theoretical appraisal of valuation systems: Protest movements are one of the four types of societal differentiation discussed in Luhmann’s Die Gesellschaft der Gesellschaft. The paper argues that protest movements are a subspecies of a more general type of social system, called „valuation system“. These systems drive their self-reproduction through performance/audience events, communicatively connected through rankings along system-specific value scales. Besides protest movements, two other subspecies are identified, namely applause systems and exchange systems. Examples for all three types of valuation systems are discussed, and they are distinguished into arenas, worlds and spheres, depending on their degree of operative closure. Finally, the theoretical construct is compared to the valuation disciplines, particularly arenas, as modelled in Harrison White’s Identity and Control.

Jost, Jürgen & Eckehard Olbrich (2007): Luhmanns Gesellschaftstheorie: Anregung und Herausforderung für eine allgemeine Theorie komplexer Systeme. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 46-57

abstract: Ein einflussreiches Paradigma in der Untersuchung komplexer Systeme versucht biologische und soziale Systeme als »quasi-physikalische« Systeme zu verstehen, d. h. Systeme, in denen die Elemente nach Regeln interagieren, die wie physikalische Gesetze behandelt werden können, und die durch Prozesse der Selbstorganisation zur Emergenz von Strukturen auf höheren Ebenen führen. Dabei bleibt aber unklar, worin das spezifisch Biologische oder Soziale dieser Systeme besteht. Für soziale Systeme bietet Luhmanns Theorie eine Alternative, welche von Kommunikationen als grundlegenden Elementen ausgeht, die durch ihr selbstreferentielles Operieren soziale Systeme konstituieren. Mit dem Ziel einer mathematischen Formalisierung dieser Konzepte quantifizieren wir in diesem Beitrag den Luhmannschen Komplexitätsbegriff und formalisieren Kommunikation als Operation auf Erwartungen, die durch parametrisierte Wahrscheinlichkeitsverteilungen repräsentiert werden. Wenn sich dann diese Erwartungen wieder auf derartige Parameter statt direkt auf Fremdreferenzen beziehen, ermöglicht dies eine Komplexitätsreduktion durch eine Ausmittelung und Erfassung von Regularitäten über eine längere Zeitskala. Wenn gemeinsame Bedeutungen etabliert sind, kann dies wiederum zur Bildung eines kommunikativen Systems durch selbstreferentiellen Anschluss führen.

Qvortrup, Lars (2007): Meaning as society’s transcendental subject: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Computers and Theology. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 58-69

abstract: Niklas Luhmanns abschließende Analyse der Gesellschaft, Die Gesellschaft der Gesellschaft (GdG), beginnt mit einem Spinozas Ethica entnommenem Motto: »Id quod per aliud non potest concipi, per se concipi debet.« Die Leitfrage dieses Beitrags lautet, worin die »geheime Botschaft« dieses Mottos besteht. Folgende Annahmen werden getroffen: »Sinn« ist in GdG ein Äquivalent zu »Gott« in Spinozas Ethica. Die Struktur der fünf Kapitel der GdG kann mit einer ähnlichen fünfteiligen Struktur von Spinozas Ethica verglichen werden. Dies weist auf eine »metatheologische« Theoriearchitektur von Luhmanns Theorie der Gesellschaft hin, dank derer sich GdG in die europäische Tradition der Transzendenzphilosophie einschreibt. Und dies beeinflusst Luhmanns Anregung der Untersuchung einer »nächsten Gesellschaft«, der Computergesellschaft, für die Luhmann eine duale Struktur von Oberfläche und Tiefe annimmt, eines Computerbildschirms und einer »unsichtbaren Maschine«. Unter Bezugnahme auf die »metatheologische« Struktur von Luhmanns Theorie kann man diese Maschine als Inkarnation des Gottes der nächsten Gesellschaft verstehen. Unter einer weniger radikalen Annahme spiegelt der Dualismus der nächsten Gesellschaft nur die Beziehung zwischen Luhmanns Soziologie und der Transzendentalphilosophie wieder.

Lars Qvortrup: Meaning as society’s transcendental subject: Die ‘Gesellschaft der Gesellschaft’, Computers and Theology: Niklas Luhmann’s final analysis of society, Gesellschaft der Gesellschaft (GdG), starts with a motto taken from Spinoza’s Ethica: “Id quod per aliud non potest concipi, per se concipi debet”. The guiding question of this article is, what the “secret message” of this motto is. The assumptions are the following: “Sinn” in GdG is an equivalent to “God” in Spinoza’s Ethica; the basic five-part structure of GdG can be compared with the similar five-part structure of Spinoza’s Ethica; this points towards a “metatheological” theory architecture in Luhmann’s theory of society, GdG inscribing itself into the European tradition of transcendental philosophy. And this also influences Luhmann’s suggestion for the study of the “next society”, the computer society, for which Luhmann suggests a dual structure of surface and depth, of computer screens and “the hidden machine”. Referring to the “metatheological” structure of Luhmann’s theory the latter may be interpreted as the incarnation of the next society’s God. With a less radical assumption the dualism of the next society just reflects the basic relationship between Luhmann’s sociology and transcendental philosophy.

Stäheli, Urs (2007): Die Sichtbarkeit sozialer Systeme: Zur Visualität von Selbst- und Fremdbeschreibungen. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 70-85

abstract: Obgleich Selbst- und Fremdbeschreibungen von Funktionssystemen zu einem wichtigen Teil auf visuellen Semantiken beruhen, wurden diese bisher vernachlässigt. Der Aufsatz schlägt vor, die schriftbasierten Semantikanalysen auf Bilder auszuweiten. Eine derartige Erweiterung erfordert aber auch einige theoretische und analytische Modifikationen, um der spezifischen Funktionsweise von Bildern gerecht zu werden. Am Beispiel der Finanzwerbung werden einige methodische und methodologische Überlegungen entwickelt, mit deren Hilfe die spezifische Logik von visuellen Semantiken erfasst werden kann. Diskutiert werden Formen visueller Totalisierung, die Logik der metonymischen Assoziation sowie Evidenzerzeugung. Gleichzeitig wird auch eine Rekonzeptualisierung des Selbstbeschreibungskonzepts notwendig, das für die Analyse von populären Semantiken geöffnet werden sollte.

Tang, Chih-Chieh (2007): Struktur / Ereignis: Eine unterentwickelte, aber vielversprechende Unterscheidung in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 86-98

abstract: Durch eine systematische Untersuchung über die Unterscheidung Struktur / Ereignis in Luhmanns Systemtheorie zielt der Artikel auf eine Konstruktion und eine Ausführung der Luhmann’schen Strukturierungstheorie ab. Die Vorteile dieses postontologischen Konzepts, das auf dem Ereignis als temporalisiertem Letztelement basiert, werden durch einen Vergleich mit der Strukturierungstheorie von Giddens herausgestellt. An Stelle des ontologischen Beobachtungsschemas Sein / Nichtsein geht Luhmann von einer radikal temporalisierten und operativen Perspektive aus und ist deshalb in der Lage, das soziologische Zentralproblem structure / agency überzeugend zu lösen sowie die konventionellen Unterscheidungen wie Subjekt / Objekt und Mikro / Makro zu überwinden.

Wortmann, Hendrik (2007): Divergenzen und Konvergenzen in der Trias von Evolutions-, System- und Differenzierungstheorie. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 99-109

abstract: Der Aufsatz prüft das Arrangement von System- und Evolutionstheorie im Werk Luhmanns vor dem Hintergrund der aktuellen Funktionalismusdebatte der Wissenschaftstheorie und der modernen, synthetischen Evolutionsbiologie. Beide Diskussionen legen nahe, dieses Arrangement genau anders herum anzuordnen, als es Luhmann tut. Die strukturelle Vielfältigkeit der modernen Gesellschaft muss sodann nicht über funktionale Differenzierung in Systemen, sondern über die evolutionäre Diversifizierung beschrieben werden.

Wu, Meiyao & Frank Stevenson (2007): Luhmann and Laozi on Self-Reference and Mutual Arising. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 110-122

abstract: Dieser Artikel vergleicht die Operationen der Selbstreferenz, Negation, wechselseitigen Entstehungen und Selbstgenerierung in der zeitgenössischen deutschen Soziologie Niklas Luhmanns und der daoistischen Philosophie Laozis und ihre Anwendungen auf die horizontal-räumlich-logische Ebene sowie die vertikal-weltlich-dynamische Ebene der Analyse. Wir beziehen Luhmanns Vorstellung des selbst-referentiellen Systems und der Verschiedenheit zwischen dem Selbst und dem Anderen in sich selbst wieder einführt, auf Laozis Modell des Dao, nach dem Aussenseite und Innenseite, Sein und Nichtsein, wechselseitig entstehen (»you wu xiang sheng«). Beide Denker konzentrieren sich auf die Paradoxie der Innenseite / Aussenseite und das Problem des begrenzten Gesichtspunkts des Beobeachters.

Baraldi, Claudio & Laura Gavioli (2007): The relevance of interactions in functionally differentiated society: The contribution of conversation analysis to the theory of social systems. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 125-135

abstract: Während die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft kulturelle Voraussetzungen schaffen und zur Geltung bringen, die sich in Form von strukturierten Erwartungen in Interaktionen widerspiegeln, können im Gegenzug Interaktionen kulturelle Voraussetzungen beeinflussen, indem sie Beiträge fördern, die zuweilen neu definieren, was jeweils erwartet wird. Die Konversationsanalyse als eine Methode zur Untersuchung von Interaktionen scheint ein besonders interessanter Kandidat für die Ergänzung der Theorie der Gesellschaft zu sein, indem sie reziproke Einflüsse zwischen Interaktionen und Funktionssystemen zu erklären versucht. Der Artikel erörtert die Verbindungen zwischen der soziologischen Systemtheorie und der Konversationsanalyse. Unsere These ist, dass die Integration von soziologischer Systemtheorie und Konversationsanalyse dazu beitragen kann, die Wechselbeziehung zwischen unterschiedlichen Typen von sozialen Systemen zu erklären. In unserem Beitrag analysieren wir die komplementären Aspekte der soziologischen Systemtheorie und Konversationsanalyse, indem wir Interaktion als ein soziales System verstehen; wir konzentrieren uns auf die Art und Weise, in der die Strukturen der Interaktion in die Funktionssysteme der Gesellschaft eingebettet sind und wir behaupten, dass die Möglichkeit der Interaktion, durch ihre Teilnehmer neue Beiträge einzuführen, es potentiell erlaubt, soziale Veränderungen zu bewirken.

Cevolini, Alberto (2007): Die Episodisierung der Gesellschaft. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 136-148

abstract: »Episodisierung« ist eines der wichtigsten aber zugleich bis heute am wenigstens erforschten Begriffe der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung. Versucht man den Episodisierungsbegriff schärfer zu bestimmen, versteht man, dass es nicht nur um die evolutiv hervorgegangene Differenz von Interaktion und Gesellschaft, sondern auch um die unwahrscheinliche Selbsterzeugung der Gesellschaft geht, obwohl die Gesamtgesellschaft nicht lediglich aus Interaktionen besteht. In diesem Beitrag wird die These untersucht, nach der eine Episodisierung der Gesellschaft in eigentlichem Sinne nur dann entsteht, wenn Interaktion und Gesellschaft sich voneinander so stark differenzieren, dass man nicht mehr voraussetzen kann, dass die Gesellschaft unmittelbar auf Interaktionen angewiesen ist. Von nun an bereitet man sich darauf vor, Interaktionen in Form von Episoden und nicht mehr von ritualisierten Ereignissen zu organisieren.

Götzelt, Thomas (2007): Götter, Herren und Verwandte. Frühe mesopotamische Sozialsysteme und ihre Umwelten. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 149-159

abstract: Der Aufsatz versucht, den offenbaren evolutionären Erfolg segmentärer Differenzierung zu beschreiben und zu erklären. Es wird vorgeschlagen, ihn als Wiedereintritts- und Strukturbildungsfähigkeit der segmentären System-Umwelt-Unterscheidung zu konzipieren. Der Systeminnenseite zugeordnet ist dabei Egalität, der Umwelt dagegen Ungleichheit in Form hierarchischer Unterscheidungen der »Tempel«- und »Palast«-Organisationen Mesopotamiens. Als Fallbeispiel werden segmentäre Systeme des 3. und 2. Jahrtausends Mesopotamiens gewählt. Problemlagen segmentärer Differenzierung werden anhand ethnologischer Begriffe und Befunde schärfer gefasst.

Hayoz, Nicolas (2007): Regionale »organisierte Gesellschaften« und ihre Schwierigkeiten mit der Realität der funktionalen Differenzierung. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 160-172

abstract: Funktionale Differenzierung ist die dominierende Differenzierungsform in der Weltgesellschaft. Damit ist aber noch nichts gesagt zur Frage, wie auf regionaler Ebene, vor allem innerhalb von Staaten mit funktionaler Differenzierung und ihren Auswirkungen umgegangen wird. In einzelnen Staaten können diverse soziale Bereiche derart unter staatlicher Kontrolle geraten, dass man von einer organisierten Gesellschaft im Sinne einer bürokratisierten Struktur sprechen kann. In einem noch viel radikaleren Sinne verwirklichen sogenannte semi-autoritäre Regimes in den Ländern der peripheren Moderne eine Organisationsgesellschaft sui generis, die in der Lage ist, funktionale Bereiche in ihrem territorialen Machtbereich mit eigenen Differenzierungen zu neutralisieren.

Itschert, Adrian (2007): Das Verhältnis von Statuskonsistenz und Statusinkonsistenz in Interaktion, Organisation und Gesellschaft. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 173-184

abstract: Der Artikel versucht einen neuartigen Zugang zum Thema strukturierter sozialer Ungleichheit zu gewinnen, indem er das Gegensatzpaar Statuskonsistenz / Statusinkonsistenz auf die Ebenen der Gesellschaft, der Interaktion und der Organisation anwendet. Zunächst vergleicht er dabei, für welche Seite der Unterscheidung die »zwei Soziologien«, die Differenzierungstheorie und die Ungleichheitssoziologie, auf der Ebene der Gesellschafts-, der Interaktions- und der Organisationstheorie optieren. Dabei zeigt sich, dass die Ungleichheitstheorie grundsätzlich davon ausgeht, dass die Gesellschaft in statuskonsistente Klassen oder Schichten zerfällt. Die Ebenen der Interaktion und Organisation werden einfach als Dimensionen sozialer Ungleichheit behandelt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse genau abbilden. Die Differenzierungstheorie hingegen optiert für Statusinkonsistenz. Das Absehen von anderen eigenen Rollen gehört zu den grundlegenden Strukturen der modernen Gesellschaft. Gerade die Systemtheorie hat aber die Eigenständigkeit der Ebenen von Interaktion und Organisation hervorgehoben, so dass es sinnvoll erscheint, die Frage nach dem Verhältnis von Statusinkonsistenz und Statuskonsistenz für jede Ebene neu zu stellen. Der Artikel versucht zu zeigen, dass für Interaktionen außerhalb der Funktionssysteme sowie für die Rekrutierungsentscheidungen in Organisationen gute Argumente für eine Orientierung an Statuskonsistenz stark gemacht werden können.

Japp, Klaus P. (2007): Regionen und Differenzierung. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 185-195

abstract: Der Beitrag geht davon aus, dass es keine zwingende Annahme ist, die Dominanz funktionaler Differenzierung in der Weltgesellschaft mit der allmählichen Auflösung ›peripherer‹ Sozialstrukturen zu verbinden. Um dieses Argument zu stützen, sollen a) die spezifisch europäischen Vorbedingungen für den take-off funktionaler Differenzierung skizziert werden, b) deren Ausfall in Regionen mit funktionsindifferenten tribalen, großverwandtschaftlichen und religiös-ethnischen Strukturmerkmalen beschrieben und c) diese Diskrepanz mit der These einer ›schwachen‹ Generalisierung zentraler Kommunikationsmedien (in Politik, Wirtschaft, Recht) verbunden werden. Diese Untergeneralisierung macht die Übernahme regional unwahrscheinlicher Kommunikation (z. B. zu Rechtssicherheit, Demokratie, Gleichheit) besonders unwahrscheinlich. Resultat sind informale Strukturbildungen, die sich durch Codekorruption, parasitäre Netzwerke, gewalttätige Konfliktaustragung und massenhafte Exklusionen auszeichnen.

Mascareño, Aldo (2007): Kontingenz und Notwendigkeit in der Semantik Lateinamerikas. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 196-208

abstract: Das Zusammenspiel unterschiedlicher Differenzierungsformen, das besonders im 19. Jahrhundert in Lateinamerika stattfindet, wird von den semantischen Korrelaten als eine zunehmende Spannung zwischen zentralisierenden und dezentralisierenden Weltvorstellungen reflektiert. Solche Spannung wird hier durch den Unterschied zwischen einer Semantik der Einheit und einer Semantik der Differenz charakterisiert. Eine Semantik der Einheit versucht die Pluralität von Sinnwelten hinter einer notwendigen Fortschrittsvorstellung oder einer wesentlichen Identität zu verbergen. Im Unterschied dazu dezentralisiert eine Semantik der Differenz solche Vorstellungen und akzeptiert dabei die Pluralität von Sinnwelten als Kontingenz einer fragmentierten Welt. Die Entfaltung dieses Zusammenspiels im 19. und 20. Jahrhundert in Lateinamerika ist das Thema dieses Aufsatzes.

Rodríguez, Darío (2007): Communication, Confidence and Trust: Functional Differentiation in Chile. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 209-219

abstract: Ausgehend von Niklas Luhmanns Unterscheidung zwischen Vertrauen (»trust«) und Zuversicht (»confidence«) versucht dieser Aufsatz zu zeigen, dass die chilenische Kultur sich stärker auf Zuversicht als auf Vertrauen stützt und dass einige Unternehmer zu glauben scheinen, sie könnten dieselben alten, lokalen, wirtschaftlichen Strategien weiterhin benutzen, obwohl sie es mittlerweile mit globalen Märkten zu tun haben. Luhmann spricht von Zuversicht, wenn man daran glaubt, dass Erwartungen nicht enttäuscht werden, auch wenn man keine Möglichkeiten hat, die Zukunft zu kontrollieren. Wenn die Zuversicht dann doch enttäuscht wird, schreibt man das Scheitern der Erwartung der Umwelt zu, die mit Gefahren konfrontiert, die selbst nicht das Ergebnis eigener Entscheidungen sind. Vertrauen hingegen bezieht sich auf das Risiko, das mit eigenen Entscheidungen eingegangen wird. Wenn das Vertrauen enttäuscht wird, schreibt man den Schaden der eigenen, offenbar falschen Entscheidung zu. Das Treffen von Entscheidungen verlangt somit nach einem Risikobewusstsein. Es ist ein Handeln unter den Bedingungen von Vertrauen, nicht Zuversicht. Dennoch betrachten viele chilenische Unternehmen Entscheidungen als eine Angelegenheit von Zuversicht. Diese Eigentümlichkeit kann man erklären, indem man auf die »pragmatische Koordinierung von Intransparenz« zwischen Systemen verweist. Systeme sind mit anderen Systemen in ihrer Umwelt koordiniert, wenn die Zuschreibungen von Sinn, Absichten, Rollen usw. zwischen diesen Systemen komplementär sind. Systeme agieren dann so, als ob sie für einander vollkommen verständlich und (fast) transparent wären. Chilenische Unternehmen können ihre Vertrauensentscheidungen daher nach dem Muster von Zuversichtshandeln verstehen und beschreiben.

Darío Rodríguez, Communication, confidence and trust: Functional differentiation in Chile: Working with Niklas Luhmann’s distinction between trust and confidence, this paper aims to demonstrate that Chilean culture relies much more on confidence than on trust, and that some entrepreneurs seem to believe they can continue to follow their old economic strategies despite having changed from local to global markets. According to Luhmann, confidence occurs when an individual believes that his (or her) expectations will not be disappointed; when he or she sees no possibility whatsoever of controlling this future result. If confidence is broken an external attribution is made, as if it were a matter of danger. Trust refers to risk and must be assumed as such. If the disappointment finally occurs, the resulting damage is attributed internally to a bad choice. Even though decision-making always requires an awareness of risk and is consequently an act of trust, certain Chilean entrepreneurs treat it as a matter of confidence. This somewhat strange behaviour is explained through the “pragmatic coordination of opacities” between systems in which each system coordinates with the other systems that happen to appear in its world attributing them meanings, intentions, roles or whatsoever, which are complementary to its own. In this way, every other system appears as if it were perfectly understandable and (nearly) completely transparent to it. This is the reason why these entrepreneurs define such an act of trust like decision-making in their usual terms of confidence.

Ziemann, Benjamin (2007): The Theory of Functional Differentiation and the History of Modern Society. Reflections on the Reception of SystemsTheory in Recent Historiograph. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 220-229

abstract: Anders als andere Elemente von Luhmanns soziologischer Systemtheorie ist seine Theorie funktionaler Differenzierung unter Historikern der modernen Gesellschaft kaum rezipiert worden. Der Aufsatz diskutiert einige Ursachen für diese Situation. Ein wichtiger Grund ist die Persistenz eines älteren, Parson’schen Differenzierungskonzepts mit der Annahme einer stabilen, drei- oder viergliederigen Differenzierungsform. Ein anderer Grund ist die von vielen Sozialhistorikern – insbesondere als Reaktion auf die Welle der Kulturgeschichte seit den 1980er Jahren – vertretene Ansicht, dass die Ökonomie der Kern der modernen Gesellschaft sei, und dass diese deshalb immer noch am besten als eine durch ökonomische Ungleichheit bestimmte Klassengesellschaft zu verstehen ist. Der Aufsatz diskutiert ferner die Anwendung der Differenzierungstheorie von Luhmann in der Sozialgeschichte der Religion. Dort ist sie am Beispiel der katholischen Kirche benutzt worden, um Säkularisierung als einen reversiblen Prozess zu konzeptualisieren, in dem die katholische Kirche mit ihren pastoralen Strategien auf Folgeprobleme funktionaler Differenzierung reagiert.

Benjamin Ziemann, The theory of functional differentiation and the history of modern society. Reflections on the reception of systems theory in recent historiography: Contrary to other key elements of Luhmann’s systems theoretical sociology, his theory of functional differentiation has not been widely received among historians of modern society. The article is discussing some reasons for this situation. One important reason is the persistence of an older, parsonian concept of differentiation along the lines of a stable three- or four-tier model. Another one is the assumption held by many social historians, particularly since the boom of cultural history in the 1980s, that the economy has to be seen as a core of modern society, and that modern society can hence be best described as a ‘class society’. The paper also discusses the use of Luhmann’s theory of functional differentiation in the social history of religion, where its has been employed to conceptualise secularisation as a reversible process in which the Catholic Church tried to adapt to functional differentiation and react in its pastoral strategies to some of its social consequences.

Zorn, Carsten (2007): Moderne Selbstbeschreibungsverhältnisse. Konkurrenz, funktionale Differenzierung und latente Leistungstransfers im Prozess der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 230-241

abstract: Ausgangspunkt des Beitrags bildet Luhmanns Hypothese, wonach die Aufgabe der Entwicklung und Auswahl angemessener Selbstbeschreibungen in der modernen Gesellschaft allmählich ganz an Wissenschaft und Theorie übergeht. Es ist dies nicht die einzige These im Kontext von Luhmanns Überlegungen zu »Selbstbeschreibung «, so wird dann gezeigt, von der bislang unklar geblieben ist, wie sie sich mit seinem Hauptbefund zu den modernen Selbstbeschreibungsverhältnissen vereinbaren lässt – wonach hier nun stets höchst unterschiedliche Angebote konkurrieren. Im Weiteren werden darum dann erste Vorschläge dazu vorgestellt, wie eine konsistente Bearbeitung des Theorieteils »Selbstbeschreibung« vom ›Konkurrenz-Befund‹ her möglich werden könnte. So wird insbesondere gezeigt, dass ›Konkurrenz‹ als Antwort auf die moderne Komplexität des zugrunde liegenden Problems verstanden werden kann: Sie stimuliert das Ausnutzen möglichst vieler Beschreibungsressourcen. Dies wird anhand heute zusätzlich differenzierter, je gesonderter ›Konkurrenzen‹ (in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der Gesellschaftsbeschreibung) verdeutlicht, die auf eine extrem breite Angebotsvielfalt (in Schrift- und Bildmedien) hinwirken. Dies schließt zwar die Entstehung von ›marktbeherrschenden Positionen‹ nicht aus. Was eine mögliche Sonderrolle soziologischer Theorie im modernen Selbstbeschreibungsprozess angeht, so kann darum aber, so wird am Ende argumentiert, eine mindestens ebenso wichtige Sonderrolle und -aufgabe für sie darin gesehen werden aufzuklären, wie moderne Beschreibungskonkurrenten an- und voneinander lernen, in der modernen Beschreibungskonkurrenz zu bestehen, und wie entsprechende ›Leistungstransfers‹ und latente Einflusslinien den Fortgang des modernen Selbstbeschreibungsprozesses mitbestimmen.

Amstutz, Marc (2007): Ex facto ius oritur. Überlegungen zum Ursprungsparadox des Rechts. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 245-255

abstract: Das Ursprungsparadox des Rechts wird im Allgemeinen entweder durch einen im System selbst gefertigten Mythos oder durch die Einführung neuer Unterscheidungen invisibilisiert. In Fällen, da Recht in sozialer Anomie operiert, z. B. im Fall von Recht, das in transitionalen Regimes angewendet wird (sog. transitionales Recht), stößt dieser Umgang mit Paradoxie auf Schwierigkeiten. Einen möglichen Ausweg bieten Derridas Denkfiguren des supplément und der différance. Wie transitionales Recht auf dieser Basis erklärt werden kann, wird am Beispiel einer Strafnorm (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), die im Nürnberger Prozess von 1945-1946 angewendet wurde, veranschaulicht.

Corti, Alessandra (2007): Religiöse Devianz und Ausdifferenzierung der Religion. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 256-266

abstract: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Hexerei als einer besonderen Form religiöser Devianz, die in der Frühen Neuzeit gesellschaftliche Brisanz erhält. Obwohl in diesem Zusammenhang zahlreiche Hexen verurteilt und hingerichtet worden sind, handelt es sich bei Hexerei nicht um ein Verbrechen im eigentlichen Sinne. Viele Verfolgte, darunter Hebammen und heilkundige Frauen, gingen vor ihrer Erfassung durch die weltliche und kirchliche Gerichtsbarkeit Tätigkeiten nach, die dem Allgemeinwohl dienten. Es stellt sich deshalb die Frage, welchen gesellschaftlichen Sinn die Konstruktion dieser Form religiöser Devianz erfüllt. Um diese Frage zu beantworten, wird der historische Prozess skizziert, der zur Konstruktion von Hexerei geführt hat. In einem zweiten Schritt wird dieser Prozess mit den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen als Folge der Umstellung der Gesellschaft von Schichtung auf funktionaler Differenzierung in Verbindung gebracht. Dabei zeigt sich, dass religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit die Anpassung der Religion an die neue Gesellschaftsstruktur möglich gemacht hat.

Esposito, Elena (2007): The Time of Money. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 267-276

abstract: Risikolagen – wie diejenigen, die auf den Finanzmärkten beobachtet werden können – erfordern einen komplexen Zeitbegriff, der zeigt, wie die gegenwärtige Orientierung an der Zukunft auf das einwirkt, was in der Zukunft gegenwärtig wird. Neue Finanzinstrumente wie etwa Derivative erlauben die Beobachtung komplexerer und flexiblerer Formen von Zeitbindung als diejenigen, die auf der Basis traditioneller Formen des Geldgebrauchs analysiert werden. Man kann von hier ausgehen, um einen radikal auf die Operationen der Systeme bezogenen Zeitbegriff aufzubauen: Die Systeme benutzen die Unvorhersehbarkeit der Zukunft, um die eigenen Möglichkeiten zu erweitern und können die Unsicherheit dadurch verwalten, dass sie die Offenheit der Zukunft erhöhen statt sie einzuschränken.

Elena Esposito, The time of money: The situations of risk, like the ones observed on financial markets, require a complex concept of time which shows how the present orientation toward the future affects what will become present in the future. New financial tools, like derivatives, allow to observe how a form of time-binding is realised which is more flexible and complex than the one analyzed on the basis of traditional uses of money. This can be the starting point for the elaboration of a notion of time radically rooted in the operations of social systems: the systems use the unpredictability of the future in order to widen their possibilities. Thus, they succeed in managing uncertainty by increasing and not by limiting its openness.

Fresacher, Bernhard (2007): Dogmatik als eine Theorie der Semantik innerhalb der Theologie. Überlegungen einer theologischen Fachdisziplin zu Luhmanns Soziologie der Bezeichnungen und der Beschreibungen. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 277-289

abstract: Der Beitrag knüpft insbes. an Kapitel 3 und 5 von Die Gesellschaft der Gesellschaft über das Problem des Verhältnisses von Semantik und Gesellschaft an, genauer die Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung von semantischen Strukturen in Korrelation mit technischen Innovationen (Schrift, Buchdruck, Computer) und gesellschaftlichen Differenzierungsformen (Übergang vom Primat stratifikatorischer zum Primat funktionaler Differenzierung). Weder bildet die Semantik etwas ab, noch steuert sie das soziale Verstehen. Vielmehr stellt sie ein Drittes in Relation zur Struktur der Gesellschaft und zur Entzogenheit ihrer materiellen, biologischen und psychischen Voraussetzungen dar, so die These dieses Beitrags in relativ loser Anknüpfung an Luhmanns soziologische Summa. Von dieser These ausgehend will er die Aufmerksamkeit der Theologie auf die veränderten Autoritätsverhältnisse der schriftbasierten, literalisierten und funktional differenzierten Gesellschaft lenken, auf unrealistische Erwartungen hinsichtlich des Einflusses der theologischen Arbeit an den Bedeutungen auf die Realität und auf die Verwobenheiten und Hybriditäten religiöser Semantiken. Demnach, so die These, besteht die Aufgabe der Dogmatik als einer theologischen Fachdisziplin weder in einer Reinigung noch in einer Regulierung, sondern im systematischen Nachzeichnen einer Semantik, die nicht nur Regeln folgt, sondern (vor allem) auch einen Witz hat.

Pelikan, Jürgen M. (2007): Zur Rekonstruktion und Rehabilitation eines absonderlichen Funktionssystems – Medizin und Krankenbehandlung bei Niklas Luhmann und in der Folgerezeption. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 290-303

abstract: Niklas Luhmann hat seine Theorie der Funktionssysteme am Beispiel verschiedener konkreter Systeme entwickelt, bestimmte Aspekte auch in Die Gesellschaft der Gesellschaft systematisiert. Der Krankenbehandlung (Medizin) hat er zwar den Charakter eines großen Funktionssystems zuerkannt, diesem aber nur drei kleinere randständige Ausätze gewidmet und deren Ergebnisse auch nicht in Die Gesellschaft der Gesellschaft aufgenommen. Er bestimmt, vor allem gestützt auf semantische Kriterien, Krankenbehandlung (Medizin), als ein »absonderliches« System, mit einem »perversen« Code, und der Abwesenheit einer Reflexionstheorie, eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums und eines symbiotischen Mechanismus. Für drei dieser Kriterien wird eine »Normalisierung« angeboten, um Krankenbehandlung (Medizin) soziologisch adäquater zu beschreiben und neue systemtheoretische Optionen für ein entstehendes »Gesundheitssystems« zu eröffnen. Mit »krank / nichtkrank« wird – in Abweichung von Luhmanns Vorschlag, aber konsistent mit seinen theoretischen Ansprüchen – ein eigener Codevorschlag gemacht und begründet. Für die angeblichen Defizite, Kommunikationsmedium und symbiotischer Mechanismus, werden ebenfalls konkrete Vorschläge entwickelt.

Teubner, Gunther (2007): Gerechtigkeit in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 304-316

abstract: Der Beitrag setzt sich mit den Gerechtigkeitskonzepten von Niklas Luhmann und Jacques Derrida auseinander. Die These lautet, dass Gerechtigkeit nicht nur auf die Kontingenz, sondern auch auf die Transzendenz des Rechts zielt. Gerechtigkeit ist nicht als rechtliches Entscheidungskriterium oder als oberstes Rechtsprinzip zu verstehen, sondern als juridische Selbstbeschreibung, die das Rechtssystem zu seiner Selbsttranszendierung zwingt, es dann aber sogleich wieder unter den Fortsetzungszwang setzt, weitere rechtsimmanente Operationen zu produzieren. Dabei erzeugen die restriktiven Bedingungen des Rechtssystems – Entscheidungszwang, Normierungszwang, Begründungszwang – zwangsläufig neue Ungerechtigkeit, gegen welche die Gerechtigkeit dann erneut protestieren muss, um sich dann wieder den Zwängen des Rechtssystems auszusetzen.

Türk, Johannes (2007): Zur immunologischen Funktion literarischer Kommunikation. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 317-328

abstract: Eine Möglichkeit, die Funktion von Kunst zu bestimmen, liegt darin, in ihr ein Medium zu sehen, das Konflikte beobachtet. Literatur induziert Sensibilität, lenkt Aufmerksamkeit und bildet Gefühle, die Widersprüchen bearbeiten. Sie gibt Konflikten eine Form, die in der Lage ist, strukturelle Risiken zu antizipieren und abzufedern. Kontradiktorische Ereignisse blockieren das System nicht mehr, vielmehr werden sie zu einer Sequenz seiner Fortsetzung. Daher hat Literatur eine Immunfunktion, die an der Grenze von Kommunikation und Bewusstseinssystem angesiedelt ist. Ausgehend von Niklas Luhmanns Überlegungen zur Immunologie lassen sich insbesondere die Tragödie und der Bildungsroman als immunologische Einrichtungen beschreiben.

Vanderstraeten, Raf (2007): Säkularisierung als Inklusionsproblem. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 329-339

abstract: Der Aufsatz analysiert die historischen Veränderungen, die im christlichen Europa traditionell mit Säkularisierung identifiziert wurden. Im ersten Teil wird auf Analysen von Talcott Parsons und Niklas Luhmann Bezug genommen. Das Problem im Religionssystem wird verbunden mit gesamtgesellschaftlichen Transformationen, insbesondere mit dem modernen Problem der Inklusion von Individuen in Funktionssystemen. Im Allgemeinen geht es um die Frage, wie und wie gut Funktionssysteme Individuen zur Teilnahme motivieren können. Im zweiten Teil werden einige historische Details der religiösen Reaktion auf die beobachteten Inklusionsprobleme behandelt. Analysen dieser Reaktionen im 19. Jahrhundert verdeutlichen die Strategien, die die Kirchen benutzt haben, um sich als populäre Religionen zu gestalten.

Heintz, Bettina (2007): Soziale und funktionale Differenzierung. Überlegungen zu einer Interaktionstheorie der Weltgesellschaft. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 343-356

abstract: Der Aufsatz plädiert dafür, die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie um eine interaktionstheoretische Perspektive zu erweitern. Eine Interaktionstheorie der Weltgesellschaft stößt allerdings auf erhebliche theoretische Probleme, mit denen sich der erste Teil des Aufsatzes befasst. Anschließend wird argumentiert, dass Interaktionen trotz ihrer strukturellen Beschränkungen gerade unter weltgesellschaftlichen Bedingungen eine besondere Funktion zukommt. Der Grund dafür liegt einerseits in dem (noch) geringen Kristallisationsgrad globaler Strukturen und andererseits in der besonderen Eigenart von Interaktionssystemen.

Holzer, Boris (2007): Wie »modern« ist die Weltgesellschaft? Funktionale Differenzierung und ihre Alternativen. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 357-368

abstract: Die Systemtheorie muss mit zwei Einwänden gegen den Begriff der Weltgesellschaft rechnen: Zum einen wird bezweifelt, dass man von der Einheit des dadurch bezeichneten Sozialsystems ausgehen kann; zum anderen steht in Frage, ob die Charakterisierung der Weltgesellschaft als »modern« zutrifft. Auf den ersten Einwand antwortet die Systemtheorie mit einem weniger anspruchsvollen, auf soziale Inklusivität abstellenden Gesellschaftsbegriff. Doch damit ist die zweite Frage – ob die Weltgesellschaft eine »moderne« Gesellschaft im Sinne funktionaler Differenzierung ist – noch nicht beantwortet. Luhmann konzediert, die »Volldurchsetzung« funktionaler Differenzierung sei auf bestimmte Regionen der Welt beschränkt. Zum Beispiel bedeute die lückenhafte Inklusion größerer Bevölkerungsteile in einigen Weltregionen, dass der Zugang zu Funktionssystemen von einer »Meta-Differenz« Inklusion / Exklusion abhänge. Der Aufsatz schlägt vor, vom Inklusionsproblem auszugehen, es jedoch zu gradualisieren: Neben dem Extremfall der Exklusion stellt die kompensatorische und oft eingeschränkte Inklusion in Reziprozitätsnetzwerke eine wichtige Variation des Schemas funktionaler Differenzierung dar. In Analogie zur Differenzierung von Regionen in Peripherie, Semiperipherie und Zentrum wäre dann zu unterscheiden zwischen Exklusion, informaler Inklusion über Tauschnetzwerke und teilsystemspezifischer Vollinklusion als den spezifischen Formen, in denen funktionale Differenzierung realisiert wird – oder nicht.

Kjaer, Poul F. (2007): The Societal Function of European Integration in the Context of World Society. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 369-380

abstract: In den vergangenen Jahrzehnten haben nicht-rechtliche und nichtpolitische Funktionssysteme in Europa ihre strukturellen Kopplungen mit den Systemen für Politik und Recht in nationalstaatlicher Form zunehmend durch Kopplungen zur EU substituiert. Weil europäische Kopplungen weniger strikt sind als nationale Kopplungen, erhöht dieser Wechsel die Autonomie der nicht-politischen und nichtrechtlichen Systeme. Der Grund für die geringere Zudringlichkeit der EU liegt in ihrer internen Struktur. Trotz bestimmter staatsähnlicher Merkmale muss die EU verstanden werden als ein Konglomerat, das eine breite Reihe von Rationalitätsformen horizontal bündelt. Ihre Politik zielt darauf ab, Asymmetrien zwischen funktional differenzierten Segmenten der Gesellschaft zu reduzieren, anstatt substantielle Einheit zu schmieden. Deswegen beschreibt sich das politische System der EU nicht als ein System, das anderen funktionalen Systemen übergeordnet ist.

Poul F. Kjaer, The societal function of European integration in the context of world society: In the last decades in Europe non-legal and non-political functional systems have increasingly substituted their structural couplings with the political and the legal systems in the national form with couplings to the EU. As European couplings are less intrusive than national couplings, this switch leads to a relative increase in autonomy of the non-political and non-legal systems. A central reason for the lower level of intrusiveness of the EU can be found in its internal structure. In spite of certain state-like features, the EU should rather be understood as a conglomerate that horizontally bundles a broad of range of rationalities. Its policies are moreover directly aimed at reducing asymmetries between functionally differentiated segments of society instead of the forging substantial unity. Hence, the EU’s political system does not describe itself as superior to other functional systems.

Werron, Tobias (2007): Zur Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 381-394

abstract: Der Artikel ist ein heuristischer Beitrag zur Weltgesellschaftsforschung. Er vermutet, dass die Schließung der Lücken, die das historische Forschungsprogramm der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie aufweist, neben der Ausweitung des Phänomeninteresses auch einer Neugewichtung des analytischen Instrumentariums bedarf. Er verfolgt zwei Thesen: 1. Die Erklärung von Globalisierungsdynamiken insbesondere seit dem »Weltverkehr« des mittleren bzw. späten 19. Jahrhunderts setzt zusätzliche Sensibilität für spezifische Dynamiken öffentlicher Kommunikation voraus. 2. Diese Sensibilität lässt sich über eine Vergleichskategorie »Publika« gewinnen, die das Publikum operativ auffasst und in eine Heuristik öffentlicher Vergleichszusammenhänge integriert. Der Beitrag entfaltet diese Thesen, indem er eine zentrale Problemintuition der neo-institutionalistischen World Polity-Forschung zu Effekten »bloßer Beobachtung« aufgreift und in die Heuristik »öffentlicher Vergleichszusammenhänge « überführt. Er schließt mit der Skizze dreier globalisierungstheoretischer Problembereiche, die sich aus dieser Heuristik gewinnen bzw. mit ihrer Hilfe analysieren lassen.

Ziegert, Klaus A. (2007): Weltgesellschaft im Wandel – globale Wege, Verbindungen und Vergleiche. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 395-406

abstract: Der Beitrag schließt an Luhmanns Beobachtung der funktionalen Differenzierung an und versucht, den weltweiten Wandel von Gesellschaft in Bezug zur Differenzierungsdynamik der funktionalen Systeme der Weltgesellschaft zu setzen. Dies führt zu der Annahme, dass globale funktionale Differenzierung, als Systemleistung verstanden, zu einer im Vergleich asymmetrischen lokalen Entwicklung der funktionalen Systeme führt und es, dadurch bedingt, zu einer unterschiedlichen Vernetzungsintensität und damit global höchst uneinheitlichem sozialem Wandel kommt. Der Zusammenhang von globaler funktionaler Differenzierung und lokalem sozialem Wandel wird am Beispiel des postkommunistischen Wandlungsdrucks illustriert, dem Bevölkerungen entlang historischer Vernetzungswege – für die die Seidenstraße paradigmatisch ist – ganz unterschiedlich unterworfen sind. Dabei wird der Vorschlag entwickelt, für den Vergleich sozialen Wandel mit einem für funktionale Differenzierung besonders aussagekräftigem Strukturmuster wie z. B. Rechtsstaatlichkeit zu untersuchen.

Baecker, Dirk (2007): Communication With Computers, or How Next Society Calls for an Understanding of Temporal Form. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 409-420

abstract: Kommunikation mithilfe elektronischer Medien, so vermutet Niklas Luhmann in seinem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft (Kap. 2.VII.), unterscheidet sich in wesentlichen Hinsichten von der Kommunikation in den Medien der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Der Computer trennt die Eingabe von Daten von ihrem Abruf und damit die Mitteilung vom Verstehen: »Wer etwas eingibt, weiß nicht (und wenn er es wüsste, brauchte er den Computer nicht), was auf der anderen Seite entnommen wird« (309). Vermittelt über den Bildschirm und damit ein neues Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, wie es bisher nur aus Religion und Kunst bekannt war (304), wird die Kommunikation abhängig von strukturellen Kopplungen mit der »unsichtbaren Maschine« des Computers, die neben die in den traditionellen Gesellschaften dominierenden strukturellen Kopplungen mit Geistern und Göttern und in der modernen Gesellschaft dominierenden strukturellen Kopplungen mit Bewusstseinssystemen treten (117f.). Luhmann vermutet, dass die Folgen der Umstellung der Gesellschaft auf Kommunikation im Verbreitungsmedium des Computers ähnlich weitreichend sind wie die erst allmählich verstandenen Umstellungen auf die Kommunikation in den Medien der Schrift (antike Hochkultur) und des Buchdrucks (moderne Gesellschaft) (Kap. 2. XIV.). Dieser Beitrag überprüft Luhmanns Vermutung eines Unterschieds der Bildschirmkommunikation und stellt seine beiden Argumente vor, die diese Vermutung stützen.

Dirk Baecker, Communication with computers, or how next society calls for an understanding of temporal form: Communication via electronic media of dissemination, Niklas Luhmann assumes in his book Die Gesellschaft der Gesellschaft, is not only different from communication via other media of dissemination, most notably language, writing, and the printing press, but it is also forcing society to change both its structure and its culture by catastrophically presenting society with a new overflow of meaning. This new overflow of meaning cannot be dealt with by the structure and culture forms of society, which proved able to deal with the overflows produced by language, writing, and the printing press. The computer, as Luhmann sees it, is separating the input of data into the computer from the retrieval of these data, thus separating utterance from understanding and enabling computations of these data opaque to any user. “Who is feeding the computer with data”, or so Luhmann is writing, “does not know (and if he knew he did not need the computer) what will be retrieved out of it.” There is an overflow of data with no hints at to which actions and intentions might lend it accountability. Mediated via the screen, presenting us with a new relation between surface and depth, known before only from religion (and art), communication becomes dependent from structural couplings with an “invisible machine”, which add to those structural couplings traditional societies entertain with spirits, ghosts, and gods, and modern society entertains with human consciousness. The present paper is trying to emphasize Luhmann’s original insight and to look at the two arguments this insight consists of.

Gehring, Petra (2007): Evolution, Temporalisierung und Gegenwart revisited. Spielräume in Luhmanns Zeittheorie. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 421-431

abstract: Gegenstand des Beitrages sind Luhmanns zeittheoretische Überlegungen, sofern sie systematisch das Problem der Gegenwart aufwerfen – ein Thema, das Die Gesellschaft der Gesellschaft kaum behandelt. Es lohnt sich gleichwohl, zu dem in Luhmanns früheren Texten formulierte Theorem der doppelten Gegenwart zurückzugehen. Zentral sind hier (neben der Gleichzeitigkeit) die Kategorien Reversibilität, Irreversibilität und Dauer. Der Beitrag plädiert dafür, deren praktisch-pragmatischen – und von daher auf eine Weise unverzeitlichten – Sinn des Reversibilitätsgedankens Ernst zu nehmen. Liest man Luhmanns Konzeption von Gegenwart so, ergeben sich neue Spielräume für eine phänomenologische Mikrologie der Zeit.

Kabalak, Alihan & Birger P. Priddat (2007): Von Macht zu Einfluss. Eine Theorieextension. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 432-442

abstract: Luhmann weist einem generalisierten Konzept von Parsons’ Kommunikationsmedium ›Macht‹ eine besondere theoretische Rolle zu, nicht jedoch einem Medium ›Einfluss‹. Wir beschreiben zunächst ein akteurstheoretisches Macht- Konzept, das Luhmannsche Argumente aufnimmt, und stellen es einem Kommunikationsmedium Einfluss gegenüber, das ähnliche Eigenschaften aufweist. Über Einflussbeziehungen und damit verbundenen Netzwerklogiken lassen sich unter anderem politische Prozesse besser erfassen. Macht und Einfluss etablieren sich erst in mindestens trilateralen asymmetrischen Beziehungen und nicht etwa als Formen symmetrischen bilateralen Tausches. Die wesentliche Eigenschaft, die diese Medien (auch mit Geld) teilen, ist, dass ihre jeweilige Verwendung in Macht- / Einflussbeziehungen auf kontingente Konstellationen von Erwartungserwartungen hinsichtlich ihrer sachlich, sozial und zeitlich generalisierten Wiederverwendbarkeit beruht.

Khurana, Thomas (2007): »Gesellschaft« und »menschliche Lebensform«. Zum Verhältnis zweier Fundamentalbegriffe des Sozialen. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 443-455

abstract: In der Auseinandersetzung mit der Semantik Alteuropas hat Niklas Luhmann darauf verwiesen, dass der Begriff der menschlichen Lebensform in der antiken Semantik jenen Platz besetzt hält, an dem eigentlich ein Gesellschaftsbegriff zu entwickeln wäre (I). Der Beitrag geht der Frage nach, ob der zeitgenössische Begriff der menschlichen Lebensform, der eine tragende Bedeutung in der post-wittgensteinianischen Philosophie besitzt, dadurch erhellt werden kann, dass man ihn als funktionales Äquivalent des Gesellschaftsbegriffs versteht. Anhand von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen wird nachgezeichnet, dass der Begriff sich in der Tat als ein begriffliches Angebot für die Frage nach der »Realität des Sozialen schlechthin« auffassen lässt (II, III). Die heutigen Verwendungen des Begriffs weisen dabei allerdings noch immer jene Gefahren auf, die Luhmanns Vorbehalte gegenüber der antiken Semantik begründeten: die Gefahr, die unerreichbare Einheit des Sozialen zu reifizieren und die in einem solchen Begriff zu entfaltenden Probleme vorschnell zu verdecken (IV). Diesen Gefahren steht zugleich ein spezifisches Problematisierungspotential gegenüber, das den Begriff der Lebensform gegenüber dem Gesellschaftsbegriff auszeichnet. Dieser Begriff erlaubt die besondere Akzentuierung eines zentralen Problems des Sozialen: des Problems der Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft, das immer schon gelöst ist, wenn soziale Operationen geschehen, und das zugleich darin als unlösbares insistiert (V).

Lee, Daniel B. (2007): Observing Communication: Niklas Luhmann and the Problem of Ethnography. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 456-467

abstract: Ethnographische Studien präsentieren typischerweise beeindruckende Datenmengen, jedoch oft ohne dabei einen Beitrag zu disziplinären, theoretischen oder substanziellen Problemen zu leisten. Niklas Luhmann wird nicht als qualitativer Sozialforscher angesehen, seine Gesellschaftstheorie kann aber helfen, die soziologische Relevanz der Ethnographie zu steigern. Mit Blick auf dieses Problem diskutiert der vorliegende Artikel die Vorteile, die aus Luhmanns theoretischer Entscheidung resultieren, Sinn und Kommunikation statt Akteure und Handlungen zu beobachten. Darüber hinaus versucht der Artikel die Rolle zu bestimmen, die das menschliche Bewusstsein in der Gesellschaft spielt. Es gibt viele Möglichkeiten für die Ethnographen, die systemtheoretische Konstrukte zum Vorteil der qualitativen Sozialforschung zu nutzen. Hier wird vorgeschlagen, dass die Feldforscher sich auf die Beschreibung der Benutzung von strukturellen Kopplungen in Echtzeit und die Untersuchung von symbolisch generalisierten Differenzen konzentrieren.

Daniel Lee, Observing communication: Niklas Luhmann and the problem of ethnography: Ethnographic studies typically present rich data, but often fail to contribute to any disciplinary, theoretical, or substantive concern. While Niklas Luhmann is certainly not known for conducting qualitative research, his theory of society can help increase the sociological relevance of ethnography. With this goal in mind, this article discusses Luhmann’s decision to observe meaning in communication – instead of actors or actions – and it qualifies the role human consciousness plays in society. Although there are many possible ways for ethnographers to use constructs from systems theory in their research, this article concludes by suggesting that fieldworkers experiment with documenting the real time use of structural couplings and symbolically generalized differences.

Lehmann, Maren (2007): Negieren lernen. Vom Rechnen mit Individualität. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 468-479

abstract: Der Beitrag sucht nach Möglichkeiten, den Begriff der Individualität gesellschaftstheoretisch und organisationstheoretisch zu bestimmen und beide Bestimmungen kommunikationstheoretisch zu verknüpfen. Die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft wird dazu ersetzt durch die Differenz von Identität und Information, um auf diese Weise als Form des Rechnens der Gesellschaft, d. h.: der Kommunikation beschreibbar zu werden. Der Beitrag geht aus vom Sinnbegriff und der Unterscheidung Aktualität / Potentialität und wechselt zum Begriff der Stelle, verstanden als Differenz Leere / Vakanz. Die Individualitätskalküle der Gesellschaft sind Formen des Rechnens mit diesen Unterscheidungen.

Messmer, Heinz (2007): Gesellschaft als Kommunikation – Kommunikation als Gesellschaft? Plädoyer für die Berücksichtigung ethnomethodologischer Konversationsanalyse in Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 480-490

abstract: Die nachfolgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der Frage, wie weit die kommunikative Grundlegung einer Theorie der Gesellschaft getrieben werden kann, die sich auch noch empirisch einlösen lässt. Darauf habe ich keine eindeutige Antwort parat. Dennoch werde ich argumentieren, dass eine empirische Fundierung der gesellschaftstheoretischen Aussagen in der Systemtheorie Niklas Luhmanns in gewisser Weise wünschenswert wäre – nicht zuletzt aus Gründen ihrer Weiterentwicklung und Anschlussfähigkeit. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst das Verhältnis der Theorie zu ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, problematisieren. Dann werde ich zu zeigen versuchen, warum eine empirische Fundierung gerade auch in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie nützlich sein kann. Aus verschiedenen Gründen mache ich mich dabei besonders für eine Berücksichtigung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse stark, von der ich mir einen theoretischen Zugewinn hinsichtlich der kommunikationstheoretischen Verortung von Gesellschaft verspreche.

Rabault, Hugues (2007): La réception de l’oeuvre de Niklas Luhmann en France: difficultés, analyse et prospective. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 491-503

abstract: Es gibt nur wenige Übersetzungen von Luhmanns Werken und genauso wenige Studien über Luhmanns Theorie in französischer Sprache. Dieser Beitrag analysiert diese a minima-Rezeption und schlägt Erklärungen vor. Eine Ursache kann der traditionelle Empirismus der französischen Soziologie sein. Im Vergleich mit dieser Tradition ist Luhmanns Theorie ein Erbe des deutschen Idealismus. Ein anderer Grund für die verhaltene Rezeption könnte politischer Natur sein. Luhmanns Theorie wird oft in Frankreich als konservativ bezeichnet. Zum Schluss versucht dieser Beitrag die aktuelle französische Rezeption der Luhmannschen Theorie in der Rechtstheorie, der Rechtsphilosophie und der Rechtssoziologie zu schildern.

Hugues Rabault, The reception of Niklas Luhmann’s works in France: problems, analysis and prospects: There are few translations and few studies of Luhmann’s works in France. The contribution offers some explanations for this situation. The first one is that French sociology has always been based on methodological empiricism. Luhmann’s works are, on the contrary, based on a purely abstract analysis, which finds its origin in the German tradition of idealism. The second explanation is a political one. As well as Talcott Parsons, Niklas Luhmann is sometimes said to be a conservative sociologist. The contribution finally points out that most of the scholars, who now use Luhmann’s works in France, come from the field of the theory, the sociology or the philosophy of Law.

Rustemeyer, Dirk (2007): Die Logik der Form und das Problem der Metaphysik. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 504-515

abstract: Der Beitrag skizziert zunächst philosophische Wurzeln der Luhmannschen Begriffe von Differenz, Beobachtung, Kommunikation und Evolution. Er stellt vor diesem Hintergrund einen Vergleich zwischen Luhmanns Version einer Kritik der Metaphysik und anderen maßgeblichen Metaphysikkritiken dar (Nietzsche, Heidegger, Derrida). Sodann wird diskutiert, inwieweit Luhmanns Begriffe der Differenz, der Beschreibung und der Kommunikation tatsächlich eine Alternative zum Denken »Alteuropas« darstellen. Es wird gefolgert, dass Luhmanns Denken zwar im Vergleich zu anderen Metaphysikkritiken die vielleicht radikalste und wissenschaftsstrategisch folgenreichste Variante anbietet, zugleich aber das Problem der Metaphysik eher reformuliert als verabschiedet.

Schmidt, Johannes F.K. (2007): Beziehung als systemtheoretischer Begriff. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 516-527

abstract: Den Begriff der sozialen Beziehung kann man sozialtheoretisch, aber auch differenzierungstheoretisch verstehen. Hinsichtlich der erstgenannten Lesart – Sozialität als Beziehung zwischen Menschen – findet man bei Luhmann eine polemische Ablehnung, während er die zweite Lesart – Beziehung als eine spezifische soziale Form – in einer theoretisch weitgehend unkontrollierten Art verwendet und eine Abstimmung mit dem Theorem der sozialen Differenzierung (Interaktion, Organisation, Gesellschaft) nicht vorgenommen hat. Es ist aber gerade die Luhmannsche Lesart des Interaktionsbegriffs in der Nachfolge Goffmans, die die Systemtheorie gegenüber Phänomenen wiederholter Interaktion seltsam sprachlos erscheinen lässt. Deshalb wird hier vorgeschlagen, den Beziehungsbegriff als eine Selbstbeschreibung eines spezifischen sozialen Systems in Form der Interdependenz von Interaktionen zu verstehen.

Stichweh, Rudolf (2007): Evolutionary Theory and the Theory of World Society. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 528-542

abstract: Der Text fragt nach dem Potential soziologischer Evolutionstheorien für die Arbeit an einer Theorie der Weltgesellschaft. Die Migrationsgeschichte des Menschen und das Konzept der psychischen Einheit der Menschheit erlauben uns, historische Prämissen der Herausbildung von Weltgesellschaft zu untersuchen. In theoretischer Hinsicht kritisiert der Text (in Anlehnung an Argumente von Ernst Mayr) die soziologische Disjunktion von Evolutions- und Differenzierungstheorie. Evolution und Differenzierung können demgegenüber als Teil einer (evolutionären) Tradition gesehen werden, die auf zwei verschiedene evolutionäre Mechanismen abstellt: Selektion vs. Isolation. Diese Unterscheidung ist ein Analogon der biologischen Differenz von Adaptation und Speziation. In einer verallgemeinernden Perspektive kann Speziation als Fall von Systembildung gedeutet werden. Diese Reformulierung der Differenz von Evolution und Differenzierung bietet Vorteile: Sie erlaubt es, die Mikro / Makro-Unterscheidung besser zu verstehen; sie verleiht dem soziologischen Begriff der Funktion eine präzisere Bedeutung. Der Aufsatz konzentriert sich im Weiteren auf die Unterscheidung von biologischer und soziokultureller Evolution und auf die Beantwortung von vier Fragen einer allgemeinen Theorie soziokultureller Evolution: Wie operiert Isolation als Mechanismus in sozialen Systemen? Auf welcher Systemebene vollzieht sich Evolution? Was bedeutet Evolution, wenn es nur noch ein einziges Gesellschaftssystem gibt? Wie ist die Evolution der Gesellschaft an die Evolution und globale Distribution von Pflanzen und Tieren gekoppelt und gibt es Globalisierungsprozesse in den Sozialsystemen anderer Spezies? Der Text diskutiert die Evolution von Ameisen, in der sich in jüngster Zeit Superkolonien herausbilden, die auf Mechanismen ruhen, die man ähnlich in der Evolution der Sozialsysteme des Menschen findet.

Rudolf Stichweh, Evolutionary theory and the theory of world society: The paper looks at evolutionary theory in sociology and tries to explore its potential in conceiving a theory of world society. The migration history of mankind and the concept of the psychic unity of mankind are used as ways of looking at historical premises of world society. Based on arguments from Ernst Mayr the papers criticizes the sociological disjunction of evolutionary and differentiation theory in theoretical terms. Evolution and differentiation can be seen as being part of one tradition but resulting from two different evolutionary mechanisms – selection and isolation. This distinction is an analogue to the biological difference of adaptation and speciation. Speciation can be reinterpreted as system formation in a more general perspective. This reformulation of the difference of evolution and differentiation has some advantages: it allows a better understanding of the micro/macro-distinction; it gives a more precise meaning to the sociological concept of function. The paper then focuses on the distinction of biological and sociocultural evolution and derives from these four questions for a general theory of sociocultural evolution: How does isolation as a mechanism work in social systems? Which is the system level on which evolution occurs? What does evolution mean if there is only one global system of society? How is the evolution of world society coupled to the evolution and distribution of other species on earth and are there globalization processes in the social systems of other species? The essay looks at the evolution of ants in which super colonies arise based on mechanisms which one finds in the globalization of human social systems in a similar way.

White, Harrison, Jan Fuhse, Matthias Thiemann & Larissa Buchholz (2007): Networks and Meaning: Styles and Switchings. In: Soziale Systeme 13 (1+2), S. 543-555

abstract: Der Aufsatz setzt Niklas Luhmanns Systemtheorie in Beziehung zur soziologischen Netzwerkanalyse, um Grundlagen für eine allgemeine Netzwerktheorie zu entwickeln. Er beginnt mit Luhmanns Diskussion von Sinn als einer zentralen Kategorie der Soziologie. Luhmanns Formulierung wird erweitert von einem Fokus auf die Dyade und doppelte Kontingenz hin zur Reichweite von Netzwerken und daher multipler Kontingenz. Während Kommunikations- und Handlungsaspekte von Sinn in Netzwerken ineinandergreifen, entflechtet der Aufsatz analytisch deren jeweils besondere Bedingungen und führt dabei die Konzepte Netdoms, Netdom Switching und Discipline ein. Netzwerktheorie lenkt damit den Blick auf das Zusammenspiel von zeitlichen, sozialen und interpretativen Dynamiken in der Konstitution und Verkettung von Sinnhorizonten. Darüber hinaus entfaltet der Aufsatz das Konzept »Style« als synkopierte Komplexität, um Luhmanns Top-Down-Ansatz bei der selbstreferentiellen Reproduktion von funktionalen Subsystemen zu ergänzen.

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