Hilarion G. Petzold, Hückeswagen (1): Wie gefährlich sind Religionen und wie riskant sind ihre Fundamentalismuspotentiale?
„ἀνθώπους μένει ἀποθανόντας,
ἅσσα οὐκ ἔλπονται οὐδὲ δοκέουσιν“ –
„Die Menschen erwartet, wenn sie sterben,
was sie weder vermuten noch annehmen“ (Heraklit DK 22B 27).
„ … und wir, die wir die Augen, die Ohren, die Gedanken und
Gefühle des Kosmos verkörpern, haben begonnen, nach
unserem Ursprung zu fragen … Sternenstaub, der über die Sterne nachsinnt …
über die Entwicklung der Natur nachsinnend, den langen Pfad verfolgend, auf dem der
Kosmos Bewusstsein auf diesem Planeten Erde wurde…“ (Carl Sagan 1994)
„Es bleibt: Staub, der in der Sonne tanzt, der über die Felder weht, der durch den
Raum treibt – der Staub des Kosmos“ (Hilarion Petzold 1982g, 67)
Die gegenwärtige Weltsituation im Advent 2015, die einmal mehr eine „world in turmoil“ (Beck 2012) vorfindet, konfrontiert uns mit Manifestationen eines extremen Fundamentalismus. Terroranschläge, Notmigration, Gräueltaten senden Botschaften des Schreckens in die Welt. Die weltpolitische Situation – politisch, ökonomisch, geostrategisch, soziologisch und ökologisch – ist äußerst komplex, so dass sich einseitige Erklärungen verbieten und in einer systemischen Betrachtung vielfältige Analysen und Reflexionen unternommen werden müssen, die Perspektiven zusammentragen. Psychotherapie, die in ihrem Selbstverständnis auch die Aufgabe sieht, „Kulturarbeit“ zu leisten, und die Integrative Therapie in ihrer systemischen, biopsychosozialökologischen Ausrichtung sieht eine solche Aufgabe (Petzold 1986a, 2009k; Petzold, Orth, Sieper 2013a, 2014a), muss sich relevanten Themen zuwenden. Von systemischen Kollegen (Tom Levold) zu einem Beitrag im Advent 2015 eingeladen, habe ich mich entschieden, mich dem Thema des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus zuzuwenden.
Ein Blick in das Weltgeschehen und auf die Unsäglichkeiten militanter islamischer Gruppierungen und ein weiterer Blick auf vielschichtige Hintergründe zeigt wieder einmal, dass viele Religionen, die meisten eigentlich, erhebliche Fundamentalismuspotentiale haben. Das wirft Fragen auf, die auch für die Psychotherapie durchaus relevant sind und denen ich mich in diesem Text zuwenden will: Wie gefährlich sind Religionen und welche Konsequenzen haben die fundamentalistischen Elemente ihrer Lehren? Wann bringen Religionen und ihre Adepten oder politische Interessengruppen und Kräfte, die sie instrumentalisieren, Systeme in Turbulenzen, Krisen, die nicht mehr kompensiert werden können. Unter einer systemischen Perspektive, die stets eine wichtige Betrachtungsweise des integrativen Ansatzes war und ist (Petzold 1974j; 1998a/2007a), könnte man sagen, dass Systemen durch rigide constraints – und unverrückbare fundamentalistische Positionen können als solche gesehen werden – notwendige Freiheitsgerade der Selbstorganisation verloren gehen. Bellizistische Versuche der „Komplexitätsreduktion“ – wie die Irak- und Afghanistankriege, in denen die islamischen Religionsformen (Sunna, Schia) und der „christliche Westen“ mit seiner zum Teil kryptoreligiösen, missionarischen Demokratiebotschaft – bedeutende Faktoren in einer komplexen Gemengelage von geostrategischen und ökonomischen Interessen waren – fruchten dann meist nicht mehr, sondern setzen nur noch mehr an Komplexität und Chaos frei. Es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, komplexe weltpolitische Verhältnisse als ein „Kampf der Religionen“ – ähnlich Huntingtons (1996) „Kampf der Kulturen“ – zu stilisieren. Das wäre eine grobe monokausalistische Vereinfachung. Genauso falsch wäre aber die Ausblendung dieser Dimension, weil davon ausgegangen werden muss, dass sich in den säkularisierten demokratischen Staaten der westlichen Hemisphäre noch starke kryptoreligiöse Diskurse (sensu Foucault 1978, 1982, 1998; Landwehr 2006; Kerschner 2006) fortschreiben, wie der Einfluss der Bible-Belt-Christen in den USA, aber auch das immense Erstarken der über fast ein Jahrhundert in der Sowjetunion unterdrückten russisch Orthodoxen Kirche zeigt, die – wie schon immer – im fester Kooperation mit der Staatsmacht und 150 Millionen Gläubigen wieder ein bedeutender Einflussfaktor geworden ist (Kyrill 2015). Die Mehrzahl der Religionen ist u. a. als Strategie der „Reduktion von Weltkomplexität“ zu sehen, wie schon aus dem frühen Luhmann (1968, 1978) abzuleiten ist. Sie gerieren sich in dieser Funktion mit einem Anspruch umfassender und versichernder Welterklärung und Erlösungsverheißung – meist verbunden mit dem Versprechen „ewigen Lebens“. Menschen, sterblich und von Krankheit, Leid, Siechtum und Tod bedroht oder von Feinden umgeben, brauchen offenbar solche Sicherheiten. Aber auch schwer zu bewältigende Welt- und Wissenskomplexität, wie sie die Globalisierung (Beck 1997, 2010) mit sich bringt, machen Angst und motivieren offenbar viele dazu, Zuflucht bei mythotropen Sicherheiten zu suchen, wie heute allenthalben sichtbar wird. Der Einbruch der Esoterik und der „transpersonalen“ Ideologien in das Feld der Psychotherapie, die neuen Moden mythophiler „Spiritualität“, weit über die Einflusssphäre J. G. Jungs hinaus, weisen in die Richtung einer neuen Irrationalität – auch in der Psychotherapie (Petzold, Orth, Sieper 2009, 2014a) – oder provozieren noch weitere Starre wie in den Orthodoxien der „Richtlinienverfahren“. Die können zwar mit Ausgrenzung der Kolleginnen operieren, die nicht den „rechten (Richtlinien-)Glauben“ haben – mit unredlichen Argumenten, anders kann man das nicht benennen (Kriz 2014a, b) –, aber „andersgläubigen TherapeutInnen“ können diese dominanten bzw. dominierenden Mainstreams nicht wirklich etwas Schlimmes androhen oder antun. Anders steht es bei fundamentalistischen Religionen. Sie drohen Ungläubigen und Apostaten mit einem „Jenseits“ der Verdammnis, mit Höllenstrafen und „ewiger Pein“ (Mt. 25, 46). Gemeinsam mit dem Teufel im „feurigen Pfuhl und Schwefel“ werden sie „gequält Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Offenb. 20, 10). Im Leben drohen solche Religionen den Ungläubigen mit Verfolgung, Benachteiligung, ja Tötung, wenn sie nicht konvertieren (vgl. Open door 2012). Fundamentalistische politische Ideologien als totalitäre Weltanschauungen, „politische Religionen“ (Voegelin 1939) wie der quasireligiöse eschatologische Marxismus/Leninismus oder der mythotrope spiritualisierende Nationalsozialismus des „Tausendjährigen Reiches“ (Petzold, Orth, Sieper 2014a) standen den blutigen Großreligionen nicht nach, was massenhafte Identitätsvernichtung anbelangte (Petzold 1996j). Die gegenwärtigen muslimischen Terroregimes wie Al-Qaida oder IS sind als „neue politische Religionen“ zu sehen (Cooper 2005). Weiterlesen →