
Das erste Heft des Kontext vom 47. Jahrgang 2016 hat die „Misere der deutschen Suchttherapie“ zum Thema. Die Herausgeber haben dazu Rudolf Klein als Gastherausgeber eingeladen, ein Themenheft zu gestalten. Rudolf Klein ist einer der bedeutsamsten Praktiker und Autoren im systemischen Feld, die sich mit diesen Fragen schon seit langer Zeit beschäftigen. In einem ausführlichen Editorial (das hier kostenfrei heruntergeladen werden kann) geht er ausführlich auf die ökonomischen, rechtlichen und fachlichen Fragwürdigkeiten der gesetzlich geregelten Versorgung von Personen mit Sucht- bzw. Abhängigkeitsproblemen ein, in denen bislang innovative Ansätze der Therapie weitgehend ignoriert bzw. aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen werden. Darüber hinaus beklagt er die Verstrickung von Geschäftsinteressen einerseits und selektiven politischen Entscheidungen seitens der Kostenträger andererseits, in der er eine der Ursachen für „eine gewisse Trägheit bezüglich einer durchgreifenden inhaltlich-konzeptionellen Veränderung der Therapie Abhängiger (sieht). Und dies, obschon es seit Jahren, nur teilweise in der Suchthilfe berücksichtigte, einschlägige Publikationen und Erfahrungsberichte über alternative Ideen aus verschiedenen erapierichtungen gibt (…), im europäischen Ausland erweiterte Modelle schon lange umgesetzt (z. B. Österreich) und in privaten Praxen seit Jahren mit zieloffenen Konzepten gute Erfahrungen gemacht werden. Solange aber die Rentenversicherungen sich nur dann von innovativen Konzepten überzeugen lassen, wenn sie unter den jetzt existierenden Kontextbedingungen umsetzbar sind und solange sie sich weigern, die etablierten Kontexte selbst in Frage zu stellen, wird sich an den eingespurten Strukturen und Machtverhältnissen kaum etwas ändern.
Trotz der dargestellten Sachverhalte keimen in unterschiedlichen Kontexten systemische Ideen im Bereich der Suchtarbeit. Ich habe daher mehrere Autor/innen eingeladen, ihre Ideen, Arbeitsansätze und Erfahrungen zu beschreiben und von ihnen zu berichten. Diese Ideen blühen überwiegend (aber nicht nur) in Kontexten, die gerade nicht unter den Bedingungen des offiziellen Suchthilfesystems arbeiten. Mit der Darstellung dieser Ansätze ist die Hoffnung verbunden, dass sich innovative Ideen auch im Bereich der Suchtarbeit verbreiten, obwohl es offensichtlich ein großes Interesse zu geben scheint, genau dies zu verhindern.
Den Anfang machen Andreas Gantner und Harald Stickel mit einer Darstellung ihrer Suchtarbeit im Bereich der Jugendhilfe. Bezeichnenderweise heißt der Artikel: »Die Quadratur des Kreises« und beschreibt unter anderem die Finanzierungslücke an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Suchttherapie. Anschließend berichtet Corinna Schmid über ihre Erfahrungen in der geschlechtsbezogenen Arbeit mit abhängigen Frauen. Danach stellt Robert Anatol Stein sein Modell »Drei statt dry« vor, mit dem er seine eigene Alkoholabhängigkeit in einer interessanten und nachhaltigen Art verändert hat. Ein Modell, das unter den gegebenen Finanzierungsmodalitäten der Suchttherapie niemals eine Chance auf Finanzierung hätte. Das Themenheft wird mit einem Interview abgerundet, das ich mit einem Leiter einer einstmals großen und mittlerweile immer kleiner werdenden Suchtberatungs- und –behandlungsstelle geführt habe. Darin geht es um die Problematik, die sich aus den eingangs erwähnten Finanzierungsmodellen für die konkrete Suchtarbeit im ambulanten Bereich ergeben. Der Titel spricht Bände: »Die Stellschraube ›Stellenreduzierung‹«.
Neben den informativen Beiträgen zum Heftthema gibt es in dieser Ausgabe noch das ausführliche Gespräch zwischen Arist von Schlippe und Dörte Foertsch zu lesen, dass anlässlich seines 65. Geburtstages geführt wurde und das systemagazin-LeserInnen schon am Montag an dieser Stelle lesen konnten. Umfangreiche Rezensionen runden das Heft ab. Alle bibliografischen Informationen und abstracts gibt es hier…
Im systemischen Feld gehört Klaus Deissler (Foto: deissler.org) seit langem zu den Vertretern des sozialkonstruktionistischen Ansatzes, über den er auch schon viel veröffentlicht hat. In seinem Text „Wandel durch Dialogische Zusammenarbeit“ aus dem Jahre 2016 resümiert er noch einmal die wichtigsten Aspekte einer dialogisch orientierten, sozialkonstruktionistischen Therapie, die sich weniger an den „großen Erzählungen“ der Psychopathologie, Psychoanalyse oder Systemtheorie orientiert, sondern – Francois Lyotard folgend, eher an den „«kleinen Erzählungen» (…), die innerhalb lokalgebundener Gespräche (Diskurse) stattfinden und die der Bewältigung von Alltagsproblemen und der Erschaffung neuer Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten dienen. Den kleinen Erzählungen bringt Lyotard eine hohe Wertschätzung entgegen: sie überflügeln in der Gesamtheit ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit die Bedeutung einzelner monolithischer Theorien oder Kosmologien. Es liegt nahe, therapeutische und beraterische Formen der Zusammenarbeit eher in dem Bereich zu lokalisieren, den Lyotard die kleinen Erzählungen nennt.“

Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe der Familiendynamik ist „Angst“, wie schon einmal bei einem Themenheft von 2008. Die Herausgeber dieses Heftes, Christina Hunger und Arist v. Schlippe, schreiben hierzu in ihrem Editorial: „Angststörungen [werden] neben affektiven und somatoformen Störungen zu den drei häufigsten »Volkskrankheiten« gezählt. Und die Zahlen, so die Krankenkassen, steigen weiter. Dies könnte dazu verleiten anzunehmen, dass noch keine Generation so sehr von seelischen Erkrankungen bedroht gewesen sei wie unsere. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass unsere Statistiken psychischer und psychiatrischer Leiden auf von Ärzten diagnostizierten Störungen beruhen. Und die Ärzte haben gerade in den vergangenen Jahren »Bezeichnungen« für psychische und psychiatrische Störungen häufiger gewählt. Das bedeutet aber nicht, dass Angststörungen nicht auch schon früher häufig vorgekommen sind. Epidemiologische Studien zeigen jedenfalls, dass in den westlichen Staaten psychische Störungen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts nicht zugenommen haben. In diesem Zusammenhang wollen wir gleich auf einen kritischen Beitrag von Allen Frances (Coronado, USA) in den Seiten-Blicken verweisen. Er hat an verschiedenen Formen des DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) mitgearbeitet und hinterfragt nun die fünfte Version massiv, weil sie in der Gefahr stehe, immer neue »Krankheiten« und damit eben auch viele neue »Kranke« zu produzieren. Daher ließe sich nun mit Recht fragen: Wozu erneut eine Ausgabe der Familiendynamik zum Thema »Ängste«? Dieses Heft wird zeigen, dass auch wenn die Anzahl der diagnostizierten Angststörungen konstant bleibt, sich dennoch der Blick auf diese verändert hat. Dieser veränderte Blick ermöglicht wiederum neue (systemische) Behandlungsformen. Zugleich möchte das Heft folgendem Umstand Rechnung tragen: Neben der kassenfinanzierten Versorgung von Angststörungen im Rahmen (kognitiv-)verhaltenstherapeutischer, tiefenpsychologisch-fundierter und psychoanalytischer Ansätze ist die systemische Therapie bekanntlich gut etabliert. Sollte sie durch das »Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen« (IQWiG) in den nächsten Jahren positiv bewertet und in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden, stünde diese allen gesetzlich Versicherten als ein weiteres Psychotherapieverfahren zur Verfügung. Insofern ergibt eine – wenn auch stets kritisch zu reflektierende – Störungsorientierung der systemischen Therapie Sinn.“
