systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

3. Januar 2016
von Tom Levold
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Zum Konzept des Körpers bei Niklas Luhmann

In einem interessanten, aber nicht leicht zu lesenden Text setzt sich Santiago Gabriel Calise, Soziologe an der Universität von Buenos Aires, mit dem Stellenwert von Körper, Affekten und Gefühlen in Luhmanns Systemtheorie auseinander. Der Text ist kürzlich in der Brasilianischen Zeitschrift Pandaemonium Germanicum erschienen. Im abstract heißt es: „The aim of this paper is to analyze the concept of body developed by Luhmann’s systems theory. Privileged places where one can look for the body will be the interpenetration between human beings and the concept of socialization. Another fundamental problem is the relationship between semantics and body, although the most explicit presence of the body in this theory comes with the concept of symbiotic mechanisms or symbols. The last place where this enquiry will look for a bodily reference are emotions, which were highly ignored by Luhmann. Alternative approaches explored in the paper are treating the body as a structure, as a medium or as an internal environment.“

Zum vollständigen Text geht es hier…

31. Dezember 2015
von Tom Levold
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Michael Balint (3.12.1896 – 31.12.1970)

Michael-balint

Michael Balint

Heute vor 45 Jahren, am 31. Dezember 1970, starb in London der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint, ein Wegbereiter der Objektbeziehungstheorie und Begründer der Balint-Gruppe-Arbeit. Balint studierte in Budapest und Wien Medizin und erhielt bereits mit Anfang 20 ein psychoanalytische Ausbildung. In Budapest war er als Allgemeinmediziner und Psychoanalytiker tätig, bis er 1939 vor den Faschisten nach England emigrierte. Dr. Philipp O.W. Portwich, Leitender Arzt am Psychiatriezentrum Oberwallis, hat 2014 im Swiss Archives of Neurology and Psychiatry einen kurzen und lesenswerten Überblick über Leben und Werk von Michael Balint veröffentlicht. Der vollständige Text kann hier gelesen werden.

31. Dezember 2015
von Tom Levold
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„Emanzipieren wir uns!“

Psychotherapie-Wissenschaft

Heft 2 des 5. Jahrgangs des Online-Journals Psychotherapie-Wissenschaft ist gerade veröffentlicht worden und kreist um das Thema Emanzipation in Psychotherapie, Erziehung, Seelsorge, Politik etc. Im Editorial heißt es dazu: „Der Gesetzgebungsprozess rund um den Psychotherapie-Beruf tendiert dazu, die Wahrnehmung und die Praxis dieses Berufs einzuschränken – dabei wirft namentlich seine Interpretation als reiner Heilberuf im Dienste der Krankenkassen Fragen grundsätzlicher Art auf. Das Psychotherapieverständnis der Schweizer Charta macht jedoch bei einer Medizin-zentrierten Fokussierung der Psychotherapie nicht Halt. Denn die Psychotherapie hat nicht nur ein kuratives, sondern auch ein emanzipatorisches Interesse: Angesichts stetig wachsender psychopathologischer Befunde, psychiatrischer Diagnosen und störungsspezifischer Behandlungsweisen erscheint es zwingend, unter dem Stichwort der Emanzipation an die Entwicklung und Entfaltung von Persönlichkeit zu erinnern. Dieses emanzipatorische Interesse teilt die Psychotherapie mit vielen anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Zum Psychotherapieverständnis der Schweizer Charta gehört nach wie vor dessen interdisziplinäre Verortung. Auch wenn nun die Studiengänge der Medizin oder der Psychologie zwingende Voraussetzungen sind, um psychotherapeutisch tätig werden zu dürfen, verfolgt die Charta in ihrem Wissenschaftsverständnis weiterhin einen interdisziplinären Ansatz. Philosophie, Theologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik, Literatur-, Kunst- und andere Sozialwissenschaften etc. bilden ebenso den Reigen des Wissens- und Erfahrungsschatzes für das Psychische wie die Medizin und die Psychologie. Weiterlesen →

30. Dezember 2015
von Tom Levold
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Kanonische Phraseologien in der Zunft der systemischen Therapie und anrainender Sozialberufe

Peter Fuchs, Soest: Kanonische Phraseologien in der Zunft der systemischen Therapie und anrainender Sozialberufe

Ich weiß, dass ich mich auf verbotenes Gelände begebe, in eine Zone der Tabuisierung. Aber ich lege meine angeborene Scheuheit für diesmal ab. Denn das, worüber ich schreiben werde, kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Aber dennoch gibt es dies: eine endemisch wohlmeinende, gefühlig-moralische Phraseologie in systemischer Psychotherapie und systemischer Sozialarbeit. Sie wird sogar gelehrt. Und das ärgert mich maßlos. Die Szene, von der ich rede, scheint nur aus moralischen Überbietungsformeln zu bestehen, die in jedem anderen Fach (sagen wir: in der Physik, in der Soziologe, der Biologie, der Systemtheorie etc.), eigentlich niemanden ernsthaft überzeugen können, denn all jene Formeln kranken an offenbar unheilbarer Sachfremdheit, Pathos und Phrase genannt. Ich gebe einige davon zu bedenken.

Peter Fuchs (Foto: Tom Levold)

Peter Fuchs
(Foto: Tom Levold)

„Unser Leitbild, unser Wertehintergrund, unser Wir etc.“

Da ist zum Beispiel ‚unser Leitbild‘, unser Wertehintergrund, unser ‚Wir‘. Wenige wissen, was diese Ausdrücke bedeuten. Leitbilder sind Phantasmen von Gruppen, die sich darüber verständigt haben, wie die Welt sein soll, und dieses Wissen anderen Leuten, die einem ‚Wir‘ zugerechnet werden, obstinat aufdrängen. Wir alle sind, heißt es, einem Leitbild verpflichtet oder werden dazu verpflichtet, uns zu verpflichten auf solche zugemuteten Verpflichtungen. Pflichtenkollisionen sind zwischen diesen Verpflichtungen nicht vorgesehen.

Noch anders gesagt: Leitbilder sollen Gefolgschaften bilden, sei es in Konzernen, sei es in psychotherapeutischen Kontexten. Wenn jemand folgt, ordnet er sich einer ‚Gemeinschaft‘ ein, deren Mitglieder nicht mehr selbst zu denken brauchen, weil für sie gedacht wird – vom ominösen ‚Wir‘. Sogar der ‚Wertehindergrund‘ ist der von uns allen, denn: Wir sind alle irgendwie eins, ob vegetarisch oder karnivor, ob Sozialistin oder konservativ Grüner. Weiterlesen →

27. Dezember 2015
von Tom Levold
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Systemische Mediation?!

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Mit einem besonderen Projekt beendet der Kontext einen inhaltlich und personell hervorragenden Jahrgang, nämlich einem recht umfangreichen Themenheft über Mediation. Das Mediationsprojekt ist eines einer Zusammenarbeit zwischen zwei Zeitschriften, dem Kontext und der in Österreich erscheinenden Perspektive Mediation.  Wolf Ritscher und Yvonne Hofstetter Rogger haben das Heft in einem langen Vorlauf geplant, vor diesem Hintergrund unterscheidet es sich auch ein bisschen von „normalen“ Themenheften. Um die Konzeption dieses Projektes besser zu verstehen, ist es am einfachsten, aus dem Editorial zu zitieren:

„Die Geschichte begann mit einem Gespräch zwischen Wolf Ritscher und Noa Zanolli, auf einer Geburtstagsfeier, zu der Satu und Helm Stierlin eingeladen hatten. Noah, die Schwester von Satu Stierlin, war viele Jahre in den U.S.A. als Mediatorin tätig und ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift perspektive mediation, deren Herausgeber/innen aus Österreich (Friedrich Schwarzinger), der Schweiz (Yvonne Hofstetter Rogger) und Deutschland (Benedikta Deym-Soden) kommen. In diesem Gespräch entwickelten wir zusammen die Idee einer gemeinsamen Ausgabe des KONTEXT und der perspektive mediation (pm), in der Themen der Mediation und der systemischen Therapie-Beratung-Sozialarbeit zusammengebracht und diskutiert werden könnten. Noa stellte den Kontakt Wolf Ritscher und Yvonne Hofstetter Rogger her. Bei mehreren Treffen und Diskussionen in den beiden Redaktionsgremien wurde deutlich, dass eine gemeinsame Ausgabe beider Zeitschriften deren Redaktionen logistisch und finanziell überfordern würde. Erreichbar schien uns aber eine Ausgabe des KONTEXT, bei dem die pm, vertreten durch ihre Mitherausgeberin Yvonne Hofstetter Rogger, »mit am Tisch sitzt«. In der Zwischenzeit hat die pm ein Themenheft zur systemischen Perspektive in der Mediation erstellt, das im Dezember dieses Jahres erscheinen wird.
Als wir – Yvonne Hofstetter Rogger und Wolf Ritscher – über das Format dieser Ausgabe diskutierten, kam uns die Idee des »Prozessheftes«, das nun vor Ihnen/Euch liegt. Wir wollten kein Heft, in dem unterschiedliche Autor/innen unterschiedliche Themen unter dem gemeinsamen Schirm »Mediation und systemische Theorie-Praxis« bearbeiten, sondern einen Prozess darstellen, in dem Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Feldern beschrieben und diskutiert werden. Dabei sollten zugleich neue Ideen entstehen, die den Prozess weiterführen – bis zu einem Punkt, der durch die Begrenzungen eines einzelnen Heftes vorgegeben ist. Wir haben für diese KONTEXT-Ausgabe auch auf die Abstracts der einzelnen Beiträge verzichtet, um diesen Prozess- und Ideengenerierungscharakter zu unterstreichen. An dem nun erreichten Punkt sind Sie, die Leserinnen und Leser eingeladen, den Prozess weiterzuführen – für sich, mit Kolleg/innen, am eigenen Arbeitsplatz, durch weiterführende Beiträge im KONTEXT, in den Gruppierungen der DGSF, auf deren Mitgliedertagungen oder an noch vielen anderen möglichen Orten.
Diesen Überlegungen folgend entwickelten wir eine dreiphasige Struktur des nun erstellten Heftes. Den Anfang bildet ein Überblicksartikel von Yvonne Hofstetter Rogger zur Mediation, in dem sie deren verschiedene, manchmal sehr unterschiedlichen, manchmal sich überschneidenden Facetten und die »Angrenzungen« an andere Verfahren der psycho-sozialen Praxis beschreibt. Wolf Ritscher kommentiert diesen Überblick mit einem komplementären Text. Diese beiden Artikel wurden den Mitgliedern im Vorfeld des Panels zugeschickt, das am 8.7.2014 in Luzern stattfand – der zweiten Phase unserer Prozessstruktur. Wir erhofften uns davon Anregungen und Startpunkte für die Diskussionen des Panels, das im übrigen seiner Eigendynamik folgend eine immense Themenbreite zur Mediation und der systemischen Theorie-Praxis entfaltete, die weit über unsere Eingangsartikel hinausging. Wir hatten Michaela Herchenhan und Jochen Schweitzer von der Seite der systemischen Theorie-Praxis, Friedrich Glasl und Angela Mickley aus dem Feld der Mediation und für die Moderation Joseph Duss- v. Werdt, seines Zeichens einer der Pioniere der Familien-/Paartherapie und der Mediation, eingeladen. Das Panel erstreckte sich – in Anwesenheit von Yvonne Hofstetter Rogger und Wolf Ritscher – über mehrere Stunden des Vor- und Nachmittages, was wiederum bedeutete, dass die fünfeinhalbstündige Audioaufnahme erheblich gekürzt und damit auch textlich verändert werden musste. Wolf Ritscher übernahm diese Aufgabe; sein Textentwurf wurde dann von den Teilnehmer/innen nochmals überarbeitet, sodass der in diesem Heft abgedruckte Text selbst schon wieder das Produkt eines weitergeführten kreativen Prozesses ist – »man kann nie zweimal in denselben Fluss steigen«. Für die dritte Phase benannten wir, Herausgeberin und Herausgeber, vier Themen des Panels, die nun weiterführend diskutiert werden sollten: Familientherapie/-beratung und Familienmediation (ein Thema, auf das Michaela Herchenhan im Panel immer wieder verwies), Macht, Kontrolle und Freiwilligkeit in Mediations- und Beratungsprozessen (von Fritz Glasl betont und mit Beispielen unterlegt), politische Mediation (die im Panel von Joseph Duss-v. Werdt nur gestreift wurde, aber schon von der Geschichte der Mediation her eines ihrer wichtigen Felder ist – siehe die Rezension des homo mediator von Joseph Duss-v. Werdt, in diesem Heft), und der Zusammenhang von Mediation und systemischen Theoriekonzepten (ein Thema, zu dem Jochen Schweitzer mehrere Beiträge formulierte) – verbunden mit der Frage nach dem Zusammenhang von systemischer Mediation und Sozialer Arbeit (die von Angela Mickley vor allem mit ihrem Beispiel aus der Schulsozialarbeit vertreten wurde). Für diese vier Themenfelder fragten wir die in diesem Heft zu Worte kommenden Autorinnen Sabine Zurmühl, Heiner Krabbe, Lars Kirchhoff und Heiko Kleve an, wobei sich Heiko Kleve dankenswerter Weise sowohl der Verbindung von Mediation und systemischer Beratung/Therapie als auch der Verbindung von systemischer Mediation und Sozialer Arbeit annahm.
Joseph Rieforth, einer der wichtigsten Vertreter der (systemischen) Mediation in der DGSF und der Mediationsszene, hat in seinem bilanzierenden Artikel nochmals die Essentials dieses Verfahrens formuliert, die sich für ihn aus den vorausgegangenen Beiträgen und seinen darauf bezogenen Reflexionen ergeben.
Besonders wichtig ist, dass er auch die politische und die die DGSF-interne Perspektive in den Blick nimmt.
Den Abschluss des Thementeils dieses Heftes bildet eine Rezension von Wolf Ritscher zur Neuauflage des »homo mediator« von Joseph Duss-v. Werdt, was genau zu diesem Heft passt, und in dem der Autor unter anderem deutlich macht, wie wichtig die politische Mediation in der Geschichte der Mediation von Anfang an war.
Damit müssen wir den Diskussionsprozess interpunktieren und hoffen, dass er an vielen anderen Stellen im Sinne des von Heiko Kleve zitierten Rhizom geplant und ungeplant weitergeht.“

Und hier ist der Überblick über den gesamten Kontextjahrgang 2015

26. Dezember 2015
von Tom Levold
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Flasche ist traurig: Sucht als Beziehungsdrama im Film „Alki Alki“

In ausgewählten Kinos läuft in dieser Saison der Film „Alki Alki“ und Gila Klindworth, Geschäftsführerin der Systemischen Gesellschaft, hat sich ihn für systemagazin angesehen und empfiehlt ihn weiter.

 

Gila Klindworth, Berlin: Flasche ist traurig: Sucht als Beziehungsdrama im Film „Alki Alki“

Seit Mitte November läuft der „systemische“ Film „Alki Alki“ von „Spielleiter“ Axel Ranisch in unseren Kinos:
Tobias und sein bester Kumpel Flasche sehen sich ähnlich und haben eine innige Beziehung zueinander. Flasche weicht Tobias nicht von der Seite, feiert mit ihm ekstatische Parties, bringt ihn volltrunken nach Hause und legt sich mit Tobias und seiner Frau zusammen ins Bett. Der wird es dabei auch schon mal zu eng und zu stinkig, so dass sie aus dem Schlafzimmer flüchtet.

Die Folgen der innigen Freundschaft zwischen den beiden sind für ihre Umwelt irgendwann so unerträglich, dass Tobias unter Druck gerät und auf die fixe Idee kommt, Flasche aus seinem Leben zu verbannen, mag der sich wehren wie er will. Aber bald hat Flasche wieder die Oberhand, und so nimmt das Alkoholikerdrama seinen gewohnten Gang. Tobias verliert Job und Familie und geht in eine Entziehungsklinik. In einer Gruppentherapie trifft er andere Abhängige: Die medikamentensüchtige alte Frau kommt mit ihrem Arzt als „bestem Freund“, die hübsche, sinnliche Frau an der Seite des jungen Mannes verkörpert dessen Sucht nach dem Alkohol … Weiterlesen →

24. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Wie gefährlich sind Religionen?

24adventHilarion G. Petzold, Hückeswagen (1): Wie gefährlich sind Religionen und wie riskant sind ihre Fundamentalismuspotentiale?

„ἀνθώπους μένει ἀποθανόντας,
ἅσσα οὐκ ἔλπονται οὐδὲ δοκέουσιν“ –
„Die Menschen erwartet, wenn sie sterben,
was sie weder vermuten noch annehmen“ (Heraklit DK 22B 27).

„ … und wir, die wir die Augen, die Ohren, die Gedanken und
Gefühle des Kosmos verkörpern, haben begonnen, nach
unserem Ursprung zu fragen … Sternenstaub, der über die Sterne nachsinnt …
über die Entwicklung der Natur nachsinnend, den langen Pfad verfolgend, auf dem der
Kosmos Bewusstsein auf diesem Planeten Erde wurde…“ (Carl Sagan 1994)

Es bleibt: Staub, der in der Sonne tanzt, der über die Felder weht, der durch den
Raum treibt – der Staub des Kosmos“ (Hilarion Petzold 1982g, 67)

 

 

 

Die gegenwärtige Weltsituation im Advent 2015, die einmal mehr eine „world in turmoil“ (Beck 2012) vorfindet, konfrontiert uns mit Manifestationen eines extremen Fundamentalismus. Terroranschläge, Notmigration, Gräueltaten senden Botschaften des Schreckens in die Welt. Die weltpolitische Situation – politisch, ökonomisch, geostrategisch, soziologisch und ökologisch – ist äußerst komplex, so dass sich einseitige Erklärungen verbieten und in einer systemischen Betrachtung vielfältige Analysen und Reflexionen unternommen werden müssen, die Perspektiven zusammentragen. Psychotherapie, die in ihrem Selbstverständnis auch die Aufgabe sieht, „Kulturarbeit“ zu leisten, und die Integrative Therapie in ihrer systemischen, biopsychosozialökologischen Ausrichtung sieht eine solche Aufgabe (Petzold 1986a, 2009k; Petzold, Orth, Sieper 2013a, 2014a), muss sich relevanten Themen zuwenden. Von systemischen Kollegen (Tom Levold) zu einem Beitrag im Advent 2015 eingeladen, habe ich mich entschieden, mich dem Thema des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus zuzuwenden.

Ein Blick in das Weltgeschehen und auf die Unsäglichkeiten militanter islamischer Gruppierungen und ein weiterer Blick auf vielschichtige Hintergründe zeigt wieder einmal, dass viele Religionen, die meisten eigentlich, erhebliche Fundamentalismuspotentiale haben. Das wirft Fragen auf, die auch für die Psychotherapie durchaus relevant sind und denen ich mich in diesem Text zuwenden will: Wie gefährlich sind Religionen und welche Konsequenzen haben die fundamentalistischen Elemente ihrer Lehren? Wann bringen Religionen und ihre Adepten oder politische Interessengruppen und Kräfte, die sie instrumentalisieren, Systeme in Turbulenzen, Krisen, die nicht mehr kompensiert werden können. Unter einer systemischen Perspektive, die stets eine wichtige Betrachtungsweise des integrativen Ansatzes war und ist (Petzold 1974j; 1998a/2007a), könnte man sagen, dass Systemen durch rigide constraints – und unverrückbare fundamentalistische Positionen können als solche gesehen werden – notwendige Freiheitsgerade der Selbstorganisation verloren gehen. Bellizistische Versuche der „Komplexitätsreduktion“ – wie die Irak- und Afghanistankriege, in denen die islamischen Religionsformen (Sunna, Schia) und der „christliche Westen“ mit seiner zum Teil kryptoreligiösen, missionarischen Demokratiebotschaft – bedeutende Faktoren in einer komplexen Gemengelage von geostrategischen und ökonomischen Interessen waren – fruchten dann meist nicht mehr, sondern setzen nur noch mehr an Komplexität und Chaos frei. Es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, komplexe weltpolitische Verhältnisse als ein „Kampf der Religionen“ – ähnlich Huntingtons (1996) „Kampf der Kulturen“ – zu stilisieren. Das wäre eine grobe monokausalistische Vereinfachung. Genauso falsch wäre aber die Ausblendung dieser Dimension, weil davon ausgegangen werden muss, dass sich in den säkularisierten demokratischen Staaten der westlichen Hemisphäre noch starke kryptoreligiöse Diskurse (sensu Foucault 1978, 1982, 1998; Landwehr 2006; Kerschner 2006) fortschreiben, wie der Einfluss der Bible-Belt-Christen in den USA, aber auch das immense Erstarken der über fast ein Jahrhundert in der Sowjetunion unterdrückten russisch Orthodoxen Kirche zeigt, die – wie schon immer – im fester Kooperation mit der Staatsmacht und 150 Millionen Gläubigen wieder ein bedeutender Einflussfaktor geworden ist (Kyrill 2015). Die Mehrzahl der Religionen ist u. a. als Strategie der „Reduktion von Weltkomplexität“ zu sehen, wie schon aus dem frühen Luhmann (1968, 1978) abzuleiten ist. Sie gerieren sich in dieser Funktion mit einem Anspruch umfassender und versichernder Welterklärung und Erlösungsverheißung – meist verbunden mit dem Versprechen „ewigen Lebens“. Menschen, sterblich und von Krankheit, Leid, Siechtum und Tod bedroht oder von Feinden umgeben, brauchen offenbar solche Sicherheiten. Aber auch schwer zu bewältigende Welt- und Wissenskomplexität, wie sie die Globalisierung (Beck 1997, 2010) mit sich bringt, machen Angst und motivieren offenbar viele dazu, Zuflucht bei mythotropen Sicherheiten zu suchen, wie heute allenthalben sichtbar wird. Der Einbruch der Esoterik und der „transpersonalen“ Ideologien in das Feld der Psychotherapie, die neuen Moden mythophiler „Spiritualität“, weit über die Einflusssphäre J. G. Jungs hinaus, weisen in die Richtung einer neuen Irrationalität – auch in der Psychotherapie (Petzold, Orth, Sieper 2009, 2014a) – oder provozieren noch weitere Starre wie in den Orthodoxien der „Richtlinienverfahren“. Die können zwar mit Ausgrenzung der Kolleginnen operieren, die nicht den „rechten (Richtlinien-)Glauben“ haben – mit unredlichen Argumenten, anders kann man das nicht benennen (Kriz 2014a, b) –, aber „andersgläubigen TherapeutInnen“ können diese dominanten bzw. dominierenden Mainstreams nicht wirklich etwas Schlimmes androhen oder antun. Anders steht es bei fundamentalistischen Religionen. Sie drohen Ungläubigen und Apostaten mit einem „Jenseits“ der Verdammnis, mit Höllenstrafen und „ewiger Pein“ (Mt. 25, 46). Gemeinsam mit dem Teufel im „feurigen Pfuhl und Schwefel“ werden sie „gequält Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Offenb. 20, 10). Im Leben drohen solche Religionen den Ungläubigen mit Verfolgung, Benachteiligung, ja Tötung, wenn sie nicht konvertieren (vgl. Open door 2012). Fundamentalistische politische Ideologien als totalitäre Weltanschauungen, „politische Religionen“ (Voegelin 1939) wie der quasireligiöse eschatologische Marxismus/Leninismus oder der mythotrope spiritualisierende Nationalsozialismus des „Tausendjährigen Reiches“ (Petzold, Orth, Sieper 2014a) standen den blutigen Großreligionen nicht nach, was massenhafte Identitätsvernichtung anbelangte (Petzold 1996j). Die gegenwärtigen muslimischen Terroregimes wie Al-Qaida oder IS sind als „neue politische Religionen“ zu sehen (Cooper 2005). Weiterlesen →

23. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2015: „Walk what you talk“ – Systemische Denkfiguren und kirchliches Arbeitsrecht

23adventJochen Leucht, Freiburg: „Walk what you talk“ – Systemische Denkfiguren und kirchliches  Arbeitsrecht

Das Motto des diesjährigen Adventskalenders, „Open doors“ inspiriert mich zur Auseinandersetzung mit der Fragestellung, welches „Nähe-Distanz-Verhältnis“ für systemische Verbände auf institutioneller Ebene mit kirchlichen Trägern der verbandlichen Integrität zuträglich ist? Welche Chancen und Möglichkeiten entstehen durch Kooperationen und wo genau verlaufen „natürliche“ Grenzlinien, die es in klarer, offener und fairer Kommunikation gegenseitig zu markieren gilt. Ein Thema wie geschaffen für die Adventszeit.

Ausdrücklich will ich betonen, dass die Mitgliedschaft von Mitarbeiter(inne)n aus kirchlichen Einrichtungen in systemischen Verbänden nachfolgend nicht in Frage gestellt wird, im Gegenteil.

Hintergrund der Frage ist einerseits ein persönlicher: als ehemaliger Angestellter eines kirchlichen Wohlfahrtsverbandes drohte mir die fristlose Kündigung wegen Austritt aus der verfassten Kirche. Sehr bewusst bin ich mir, dass die nachfolgende Schilderung erst jetzt, mit dem Blick von außen und mit den Erfahrungen von 13 Jahren Zugehörigkeit zu einem kirchlichen Arbeitgeber möglich ist. Und andererseits ein gesellschaftspolitischer: wer stemmt sich gegen das kirchlichem Arbeitsrecht, welches Schwule und Lesben, Frauen und Geschiedene gesetzlich legitimiert diskriminieren darf? Müsste dieses Mandat nicht gerade von einem weltanschaulichen systemischen Verband übernommen werden, anstatt Einrichtungen kirchlicher Träger kommentarlos zu akkreditieren und anzuerkennen?

Wieso gehe ich der Frage in einem systemischen Journal nach? Weil kirchliche Träger sich vermehrt mit Ihren Einrichtungen bei den systemischen Verbänden um Aufnahme bewerben. Offen durch institutionelle Mitgliedschaften und verdeckt durch Kooperationen mit anerkannten Instituten.

Eine zentrale Sollbruchstelle etwaiger Kooperationen jenseits machtpolitischer und finanzieller Interessen ist die Ausgestaltung und Beschreibung von Beziehungen: Der systemische Blick richtet seine Aufmerksamkeit auf das, was zwischen den einzelnen Akteuren in Systemen passiert, sucht nach dem Sinn von Lebensäußerungen und Handlungsgrundlage ist ein ethischer Rahmen, welcher die Autonomie des Einzelnen betont. Das Fragezeichen ist eher Freund und Ratgeber als das Ausrufezeichen. Weiterlesen →

22. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Open doors – offene Systeme und vorweihnachtliche Verstörung

22adventRosita A. Ernst & Noah Artner, Wien: Open doors – offene Systeme und  vorweihnachtliche Verstörung

Haben Sie schon einmal zu Weihnachten Ostereier verschenkt?

Wir konnten uns anfangs nicht einigen, womit wir uns inhaltlich beim diesjährigen systemischen Adventskalender beteiligen möchten. Zur Auswahl stand ein sehr persönlicher Fall, der ob der Aktualität und der fehlenden Distanz noch nicht veröffentlicht werden wollte. Wir dachten auch an eine systemisch-gruppendynamische Auseinandersetzung, die Fritz Simon dankenswerterweise bereits eifrig vorantreibt. Letztlich sind wir dann durch die daraus entstandene Diskussion bei der Verstörung gelandet. Warum also nicht etwas Verstörung in die ohnehin angepriesene geruhsame und dann davor oft doch turbulente Weihnachtszeit streuen.

Zumeist hören wir in systemischen Vorträgen den Verweis hin zu Luhmann und der Autopoiese. Systeme werden als sich selbst erschaffende und intern regulierende, in sich abgeschlossene Einheiten beschrieben. Die Menge der dem System zur Verfügung stehenden Operationen ist begrenzt, d.h. „geschlossen“. Man kann autopoietische Systeme nicht instruieren, andere Elemente hervorzubringen als diejenigen, aus denen sie bestehen, bzw. die strukturell angelegt sind. Schade, dass wir nicht öfters auch Bertalanffys Ausführungen mit einbinden. Er widmete sich unter anderem der Theorie offener Systeme und stellt fest, dass, wenn auch auf Thermodynamik bezogen, offene Systeme Energie aus ihrer Umwelt aufnehmen können und dies zu einer höheren Ordnung führt. Wagen wir hier eine Umlegung auf soziale Prozesse, so macht dies ebenso Sinn und widerspricht „geschlossenen Türen“. Inwiefern sich diese höhere oder neue Ordnung auswirkt, wissen wir nicht, jedoch können wir die erwähnte Energie vielleicht auch mit verstörenden oder andersartigen Interventionen vergleichen.

Letztens saß ich als Supervisor in einem Team, das ich etwa ein Jahr begleite. Und an dem einen Tag würde ich die Stimmung und Atmosphäre als zäh und starr beschreiben. Müdigkeit, Lustlosigkeit und auch Schweigen zeichneten sich ab. Nun könnte man stoisch sitzen, es aushalten und warten, was passiert. Ich könnte Hypothesen spinnen wie, dass das Team etwas belastet, es Streit gab, schlechte Nachrichten oder das sie heute einfach keine Lust auf Supervision oder mich hätten. Ich erinnerte mich an die anderweitig, im Zuge eines Gesprächs, vernommenen Worte von Gerda Mehta: „Die könnten doch einfach sehr beschäftigt sein. Vielleicht denken die gerade daran, wie sie weiterarbeiten können!? Unterstellen Sie doch einfach das Positive! Alles andere kommt von allein“. Gesagt getan. König (1998) meint, man kann ein soziales System, wie eine Gruppe nur verstehen, wenn man die Regeln kennt, die das Verhalten der Personen in diesem System leitet. Da die Gruppe bisher immer betonte, dass sie gerne etwas „tun“ und nicht nur reden und sitzen möchten, griff ich den Wunsch bereits die letzten Sitzungen auf.

Ich entschied, eine kurze Entspannungstrance anzuleiten und das passte, im Nachhinein betrachtet, richtig gut. Eine Intervention ist eine, im Sinne Kurt Lewins, theoriegeleitete Kommunikation ins System, die dort Muster verstört, allerdings nur, wenn das System dies zulässt (Helmut Willke, 1994). Eine Intervention soll überlegt sein und sich aus der Schrittfolge der systemischen Schleife ableiten.

Während der Anleitung wirkten die Gesichter entspannter. Als ich im Anschluss um Reflexion bat, folgte das produktive Donnerwetter. Es sei entspannend gewesen, aber man habe sich nicht so richtig darauf einlassen können, meinte ein Teammitglied. Ein anderes Teammitglied meinte, dass eine Entspannungseinheit total unpassend gewesen wäre, es gäbe so viel zu tun, man müsse endlich ins Tun kommen und zusehen, wie man die aktuellen Herausforderungen und Schwierigkeiten bewältigen könne. Vermeintlich ein Fehlgriff, würde man vielleicht meinen. Ein Musterbruch findet jedoch streng genommen bereits in dem Moment statt, wenn die Kontingenz der spezifischen Konstruktion eines Musters sichtbar wird. Damit rückt die Möglichkeit ins Blickfeld, es einfach mal anders zu machen, d. h. der Möglichkeitsraum des Systems wird vergrößert. Die Ergebnisse der Interventionen können erneut als Daten beobachtet werden, sie werden interpretiert, für ein bestimmtes Handlungsanliegen werden Optionen gesucht und bewertet, um den Zyklus der Schritte erneut zu starten. Muster sind beobachtbar durch gemeinsame Reflexion von Zusammenhängen, durch Rückspiegelung von Beobachtungen aus der Außensicht oder durch Beobachtung von anderen Interaktionsmustern in ähnlichen Kontexten. Gemäß den Auführungen ergab sich aus der Reflexion heraus ein äußerst produktiver Austausch und eine Reflexion über die derzeitige Teamsituation , das Verhalten des Teams sowie deren einzelnen Mitgliedern, wovon anscheinend alle sehr profitiert haben und ein näher Zusammenrücken ermöglicht wurde.

Da uns von Anfang an eine Offenheit für verschiedene Methoden, Perspektiven, Richtungen als auch Haltungen und infolge auch Kulturen und Lebensweisen wichtig ist, möchten wir eine Einladung hinsichtlich Verstörungen und ungewohnten Interventionen aussprechen und zu offenen Türen für das Andere einladen. Letztens Jahr habe ich in meinem Adventskalender zur Definition und Abgrenzung systemischer Theorie geschrieben. Dies widerspricht sich jedoch nicht unbedingt. Und auch hier fand Gerda Mehta einmal sehr weise Worte: „Es ist wichtig den eigenen Bereich gut zu kennen, damit man sich umso besser davon, falls gewollt, distanzieren kann.“ Lassen Sie uns also Frau und Herr im wohlbekannten eigenen Haus und zugleich gastlich sein. Bedienen wir uns des Begriffes Gastlichkeit, also der Beherbergung, Bewirtung und Unterhaltung von Besuchern. Wenn wir die Türe öffnen, wissen wir natürlich nicht, wer da in unser Haus kommt und was dann passiert. Manchmal geht es um kurze Begegnungen, manchmal bleibt man länger, verbringt eine gute Zeit miteinander, bringt Neues auf den Weg, manch einer bleibt ein Leben lang, bei anderen fällt der Abschied schwer und bei manchen kracht es und man setzt den ungeliebten Gast vor die Tür. In jedem Fall aber bewegt es uns und zwingt uns dazu Dinge zu überdenken und sich gegebenenfalls neu auszurichten. Und ganz ehrlich, ist bei Ihnen Gastlichkeit jemals negativ angekommen?

Momentan sind wir, neben den „üblichen Weihnachtsvorbereitungen“, eifrig am Eierfärben und bemalen. Und ob Sie es glauben oder nicht, die Verstörung, die wir uns selbst damit zumuten, ist durchaus spannend und erheiternd. Ob wir es letztlich wirklich wagen gegen die Traditionen anzugehen und unsere Werke unters Volk zu bringen wird sich in den nächsten Tagen noch herausstellen. Wir grübeln gerade, ob es zumutbar ist, die übrigen Schokonikoläuse bis Ostern aufzubewahren…

21. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Die Tür nach Innen

21adventLothar Eder, Mannheim:

Open Doors

… heißt in meine Muttersprache übersetzt „offene Türen“. Wer würde nicht sagen, dass dies eine schöne Metapher ist: offene Tür? Und Offenheit – das ist doch eine Charaktereigenschaft eines Menschen, die positiv, begrüßenswert ist. Heißt es denn nicht auch in einem Weihnachtslied „macht hoch die Tür, das Tor macht weit …“?

Zur Offenheit aber gehört ihr polares Gegenstück, die Schließung. Systeme brauchen Grenzen, um überleben zu können. Die Zelle, die ihre Membran aufgibt, stirbt. Der Organismus, der wahllos aufnimmt, kann nicht mehr integrieren und kollabiert. Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein, so lautet ein alter Spontispruch.

Lothar Eder

Lothar Eder

Wer wie ich im November meist noch einmal für ein paar Tage auf die Kanaren fliegt, um Sonne und Licht zu tanken für die lange dunkle Zeit, weiß spätestens bei der Rückkehr, was Schließung, was Verschlossenheit ist. Er schaut in müde, erschöpfte Gesichter. Das liegt am mangelnden Licht, am tiefen Himmel, an der nassen Kälte, aber auch an einem Lebenstempo, das viel zu schnell ist. Der innere Mangel wird auszugleichen versucht durch noch mehr Konsum, durch noch mehr „events“, durch noch mehr erkaufte Freude, den größeren Fernseher, das neue Auto, den Gutschein fürs Wellnesshotel.

Bei den meisten Menschen aber, denen ich in diesem Spätherbst begegne (und mit einigen spreche ich ja auch in meiner Therapiestube) steht ins Gesicht geschrieben: „wegen Überfüllung geschlossen“; das heißt übersetzt „ich kann eigentlich schon lange nicht mehr, ich brauche Ruhe, ich möchte zu mir kommen, mich spüren usf.“

Als Tom dieses Jahr wieder um einen Beitrag bat, war ich zunächst ratlos. Ich begann im Internet nach Zitaten zum Thema „Tür“ zu suchen, in Verbindung mit Laotse, dem alten chinesischen Weisen, der (mir) immer etwas zu sagen hat. Und ich fand folgendes:

„Ton knetend, formt man Gefäße. Doch erst ihr Hohlraum, das Nichts, ermöglicht die Füllung. Aus Mauern, durchbrochen von Türen und Fenstern, baut man ein Haus. Doch erst sein Leerraum, das Nichts, gibt ihm den Wert. Das Sichtbare, das Seiende, gibt dem Werk die Form. Das Unsichtbare, das Nichts, gibt ihm Wesen und Sinn.“

Wie wichtig wäre es also, dass wir uns einen inneren Ort erschaffen, in dem Nichts ist außer Stille und Raum. An dem das entstehen kann, was wir eigentlich wollen und brauchen und wer wir eigentlich sind, jenseits von vordergründigem Streben, Angst und Konsum. Offene Türe heißt also auch: die Tür nach innen. Es ist womöglich das Licht, das wir suchen und auf das wir insgeheim warten. Advent heißt: Zeit der Ankunft, Zeit des Wartens. Warten auf das Licht, das Licht in uns. Nicht ohne Grund haben die Christen den Geburtstag von Jesus (dessen Datum ja unbekannt ist) auf die Tage nach der Wintersonnwende gelegt, an denen das Licht wieder zunimmt. Dies scheint ein Streben des Menschen zu sein, das keine Religion, Rasse oder Nation kennt: „Die Sehnsucht nach Licht ist des Lebens Gebot“ (Henrik Ibsen).

20. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Kopplung von Sinnsystemen

20adventArist von Schlippe, Osnabrück: Kopplung von Sinnsystemen

Was könnte ich denn dieses Jahr für den Adventskalender schreiben?  Ich erinnerte mich an eine kleine Glosse, die ich vor Jahren einmal verfasst hatte, aber ich konnte sie nicht mehr wiederfinden. Da sie mir jedoch nicht mehr aus dem Sinn ging, erzähle ich sie noch einmal neu. Sie ist für mich eine Lehrgeschichte über die Kopplung von Sinnsystemen. Das ist ein Prozess gemeinsamer Sinnfindung, der eben auch Unsinn mit einschließt, denn Verstehen wird in der Systemtheorie ja nicht als intersubjektive Sinndeutung verstanden, sondern als Bedeutungsselektion aus einer übermittelten Information – und die Kommunikation geht weiter, auch wenn ein externer Beobachter das Geschehen ganz klar als Missverstehen deutet.

Arist von Schlippe (Foto: Wifu.de)

Aber genug davon, kommen wir zu meiner Geschichte. 1994 war der damalige chinesische Ministerpräsident Li Peng zu Besuch in Deutschland. Von der deutschen Regierung zu nachdrücklich auf die Menschenrechte hin angesprochen, war er verärgert abgereist, ein Eklat. In dieser Zeit fuhr ich mit dem Zug nach Frankfurt. Die Reisenden standen schon in Erwartung des Bahnhofs vor der Tür, als der Zug noch einmal kurz zum Halten kam. An der Tür, an der ich wartete, standen neben mir dort noch zwei japanische Rucksacktouristen und eine kleine Gruppe erkennbar deutscher Passagiere: zwei Damen mit Täschchen und schicken Hütchen, ein Herr mit einem Lodenmantel, ebenfalls mit Hut („hutpflichtig“ sozusagen). Es entspann sich eine zunächst wortlose Kommunikation, indem vor allem der hutpflichtige Herr den beiden Japanern auf eine Weise zunickte (unterstrichen durch kleine Worte wie „Ja, ja! Ne!“), die mir wie eine Mischung aus freundlich und belehrend erschien. Schließlich sagte er: „Tja, nun ist er ja abgereist, Euer Li Peng!“ (Betonung auf dem „Peng“, es hätte auch ein Revolverschuss gemeint sein können). „Sorry, we don’t understand!“ war die Antwort der Rucksacktouristen. Darauf bemüßigte er sich, weiter zu erläutern: „Ja, das kennt Ihr nicht, nicht wahr? Menschenrechte und so weiter!“ – „No, no, we come from Koblenz!“ war die Antwort der erkennbar unter sinnsuchender Spannung stehenden Japaner. „Wie? Nein, ich meine, hier in Deutschland, Germany, hier ist Demokratie, bei Euch ist Diktatur, verstehen?“ – „Democracy, dictatorship? Sorry, we don’t understand!“ – „China Diktatur, verstehen?“, mischten sich nun auch die Damen ein, „Germany Demokratie. China wie Hitler, Germany not Hitler!“ Plötzlich hellten sich die Gesichter der Japaner auf: „Ah, you hate Hitler?“ Etwas irritiert reagierten die drei deutschen Gesprächspartner: „Wie? Ach, ja sicher, we hate Hitler, klar!“ und begannen zu lachen. Die Japaner fielen in das Lachen ein: „Ah, you hate Hitler, well, that’s good! That’s very good!“

Der Zug rollte in Frankfurt ein, lachend stiegen alle aus (nur ich schmunzelte eher, war ich doch der weise Beobachter der Szene…). Ich vermute, dass die drei Deutschen hinterher sich freuten, dass sie den Chinesen mal so richtig gesagt hatten, was für’n tolles Land doch Deutschland ist und die beiden Japaner waren zufrieden, sich in einem Land zu befinden, wo der alte Diktator ordentlich gehasst wird. Bedeutungsselektion war zustandegekommen, ein Interaktionssystem hatte sich gekoppelt – Dank der Deutschen Bahn zum Glück nur lose :-).

19. Dezember 2015
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Wie ich lernte, systemisch zu denken – Eine Einredung

19adventHeiko Kleve, Potsdam: Wie ich lernte, systemische zu denken – eine Einredung

Ich habe bis zur Wiedervereinigung, also bis zum 3. Oktober 1990, in der DDR gelebt, in einem Land, in dem es für die meisten Menschen mindestens zwei, wenn nicht drei äußerst relevante soziale Wirklichkeitskontexte gab: 1. die private, familiäre oder Nischenwirklichkeit, die häufig auch von der medialen Wirklichkeit des Westfernsehens geprägt wurde; 2. die offizielle realsozialistische Wirklichkeit, die in den Betrieben, Behörden, Schulen oder anderen öffentlichen Bereichen beobachtet werden konnte und 3. – für bewusst politisch Oppositionelle – die kritische Kirchenwirklichkeit. Jeder dieser unterschiedlichen Realitätskontexte forderte eine andere Denk- und Handlungsweise sowie die Beachtung anderer, ja sich widersprechender Kommunikationsregeln.

Ich selbst bin in einer kleinen Stadt in Mecklenburg in einer Handwerkerfamilie aufgewachsen. Im Kreis der Familie, unter Freunden und Bekannten wurde viel über die Verhältnisse in der DDR gemeckert, z.B. darüber, dass in den Geschäften ein so karges Warenangebot besteht, so dass es dieses oder jenes schon wieder nicht zu kaufen gab. Davon ausgehend schwärmten die meisten von dem reichhaltigen Warenangebot des Westens, welches wir in der Werbung von ARD oder ZDF täglich zu sehen bekamen. Außerdem wurde sich über die westdeutschen politischen Verhältnisse unterhalten, während die Politik der DDR kaum interessierte, da sich dort keine kommunikativ relevanten Ereignisse abzuspielen schienen.

In der Schule erlebte ich eine in Bezug zur familiären Wirklichkeit diametral entgegengesetzte Realität. In wöchentlich von uns Schülern durchzuführenden Politikinformationen wurden die Errungenschaften des Sozialismus angepriesen, z.B. dass es im Gegensatz zur BRD in der DDR keine Armut, keine Obdach- und Arbeitslosigkeit gab. Um nicht aufzufallen, durften die im familiären Kreis relevanten Themen in der Schule nicht angesprochen werden, zumindest nicht in der Art, dass Lehrer dies hörten. Es musste ein Anschein der hundertprozentigen Konformität gewahrt werden, wenn man seine Ruhe haben wollte, und die wollten die meisten haben. Weiterlesen →