systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

29. Dezember 2016
von Tom Levold
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Lösungsorientierte Beratung mit getrennten Eltern

Lösungsorientierte Beratung hört sich oft einfacher an, als es ist. Dies gilt ganz besonders in der Beratung mit Eltern, die sich bereits getrennt haben und miteinander als Partner nichts mehr zu tun haben wollen. Hier sind Konflikte vorprogrammiert, die an lösungsorientierte BeraterInnen besondere Anforderungen stellen. Sabine Holdt und Marcus Schönherr arbeiten als PsychologInnen seit 1996 in der Familienberatungsstelle des FamThera-Instituts in Leipzig mit getrennt lebenden Eltern an der Bewältigung ihrer Nachtrennungskonflikte und der Regelung ihrer Sorge für die gemeinsamen Kinder. Über ihren Arbeitsansatz haben sie ein Praxishandbuch geschrieben, das 2015 im Klett-Cotta-Verlag in der Reihe Leben lernen erschienen ist.

Jochen Schweizer hat das Buch gelesen und resümiert: ein didaktisch gutes, spannend zu lesendes und anregungsreiches Buch aus dem Leipziger FamThera-Institut, dem man seine lange Erfahrungsbasis (Beratung getrennt lebender Eltern seit 1995) und das Engagement seiner Autoren für ihre Arbeit und für die Gestaltung dieses Buches anmerkt. Aber lesen Sie selbst…

Jochen Schweitzer, Heidelberg:

Dieses Buch lässt sich mit verschiedenen Brillen gewinnbringend lesen und rezensieren. Ich erlaube mir die gewohnte Reihenfolge umzukehren und beginne mit seiner literarischen Form. Mit dieser Brille stoße ich auf fünf spannende Stories. In diesen kämpfen die fünf Ex-Ehepaare »Esche«, »Kiefer«, »Linde«, »Weide« und »Zeder« miteinander und mit ihren beiden Beratern. Sie sind auf der Suche nach Verständigung zugunsten ihrer Trennungskinder. Aber ihr Weg dorthin ist gepflastert mit Verdächtigungen und Unterstellungen, Drohungen und Gerichtsklagen, telefonischen Beschwerden und geplatzten Gesprächsterminen. Die Beraterin und der Berater, Diplomaten im Einsatz im Bürgerkriegsland gleich, ringen mit ihnen um Nichtangriffspakte, Waffenstillstände, Abrüstungsschritte und Verhandlungsschritte. Dies Ringen gleicht einem Auf und Ab, jeder Fortschritt kann am nächsten Tag wieder dementiert oder zunichte gemacht sein. Aber die Zuversicht und Durchhaltefähigkeit der Berater, wie sie allerkleinste Friedenssignale erkennen und mit den Kriegsparteien zelebrieren, tragen durch das dramatische Geschehen hindurch. Am Ende steht nicht immer ein Happy End. Aber die Lage ist immer zumindest etwas weniger schlimm als am Anfang. Weiterlesen →

28. Dezember 2016
von Tom Levold
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From Mirroring to World-Making: Research as Future Forming

Die Independent Social Research Foundation (ISRF) und das Journal for the Theory of Social Behaviour (JTSB) vergeben jährlich Essay-Preise für Arbeiten aus unterschiedlichen Sparten. 2014 hat der bekannte Sozialpsychologe Kenneth J. Gergen (Foto: www.carl-auer.de) diesen Preis für einen Essay gewonnen, der eine neue Perspektive auf Forschung vorschlägt – und auf der website von Gergens Taos-Institut heruntergeladen werden kann. Er geht davon aus, dass die „Wissenschaftskriege“ der letzten Jahrzehnte nachgelassen haben und damit Platz für einen „reflektierenden Pragmatismus“ eröffnet, auch wenn nach wie vor die vorherrschende Metapher, die den meisten Forschungen in den Sozialwissenschaften zugrundeliegt, die eines „Spiegels“ von Wirklichkeit sei, also primär eine visuelle Metapher der Beobachtung und Beschreibung von Realität. Gergen bietet eine Alternative zur Spiegelmetapher an, die den Forscher weniger als „Welt-Untersucher“ denn als Welterfinder definiert. Es geht ihm also nicht darum, die Welt auf das, was sie ist, zu untersuchen, sondern Forschung vielmehr darauf auszurichten, Zukunft aktiv zu gestalten. Mit dieser Art von Forschung verbunden ist die Suche nach und Entwicklung von neuen Praktiken und kollaborativem Handeln. Damit einher gehen auch Überlegungen zur veränderten Rolle von Theorie und die Bedeutung einer relationalen Ethik der Forschung.

Im abstract heißt es: „The ,science wars’ of recent decades have largely subsided, giving way to what might be viewed as a condition of reflective pragmatism. However, the prevailing metaphor underlying most research across the social sciences remains that of the “mirror.” That is, even while conscious of its biases, researchers continue the attempt to reflect, explore, illuminate, or describe aspects of individual or social life. After considering some of the shortcomings of the prevailing practices, I offer an alternative to the mirror metaphor, one that defines the researcher in terms of world-making. By this I mean an orientation to inquiry in which the major attempt is not to assay the world for what it is, but to actively shape the contours of the future. A future forming orientation is especially invited by the increasingly rapid fluctuations in social life, and represents an alternative to the prevailing tradition and its unclear consequences for society. Shifting from a view of knowledge as propositional, to one of knowledge as praxis – or practical “knowing how” – I discuss research in a future forming direction, including critical inquiry, the creation of new practices, and collaborative action. Attention is also given to the role of theory, and to a relational ethic of research.“

Der ganze Text kann hier gelesen werden…

24. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremd ist der Fremde …

Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

heute öffnen Sie das letzte Türchen dieses Adventskalender – und ich freue mich sehr, dass es auch dieses Mal wieder haargenau hingekommen ist. Für mich war das wie in den letzten Jahren ein spannender Prozess, denn bis zuletzt wusste ich nicht, ob der Kalender voll wird oder nicht. Ich bedanke mich daher an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen, Leserinnen und Leser und bei den Freunden, die mit ihren Überlegungen zum Thema Fremdheit und Vertrautheit diesen Kalender gefüllt haben.

Beim Lesen der Beiträge wurde mir die Spannweite des Themas deutlich – Vertrautheit und Fremdheit manifestieren sich in den unterschiedlichsten Kontexten, von der intimen Nahbeziehung zur LebenspartnerIn bis hin zur Begegnung mit fremden Kulturen ohne direkte sprachliche Verständigungsmöglichkeiten. Es wurde deutlich, dass auch in der Fremde Erfahrungen gemacht werden, die Vertrautheit stiften, und in der Beziehungsnähe unvermittelt Fremdheit auftauchen kann. Nicht zuletzt stoße ich ja in der Selbstbeziehung immer wieder auf Dinge, die mir an mir selbst fremd erscheinen können. Um etwas als vertraut erleben zu können, braucht es eine Erfahrung von Fremdheit. Dies gilt von allem Anfang an. Und es braucht unabdingbar Zeit, um das Eine in das Andere zu verwandeln. In seinem wunderbaren Buch „Das Rätsel Ödipus“ schreibt Norbert Bischof: „Für Vertrautheit gilt immer ein logisches Aposteriori – niemand kann mir vertraut sein, dem ich zum ersten Male begegne, und für jede Begegnung gibt es ein erstes Mal. Das gilt sogar für die Begegnung mit der eigenen Mutter. Vertrautheit geht somit notwendig aus Fremdheit hervor.“ Sobald diese Form der primären Vertrautheit einmal etabliert ist, entwickeln wir umgekehrt ein Wissen von dem, was uns fremd ist, nur in Abgrenzung zum Vertrauten. Die Unterscheidung von Fremd und Vertraut macht deutlich, dass beide Begriffe nur aufeinander bezogen Sinn ergeben. Weiterlesen →

23. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: fremd

Jürgen Hargens, Meyn: fremd

Mit dem „fremd“ könnte es mir ähnlich gehen wie mit einem Adventskalender – jeden Tag ein neues Türchen, und ich weiß nie, was hinter dem Türchen wartet. Immer eine Überraschung. Etwas anderes. Etwas Neues. Etwas Fremdes. Etwas (Un-)Bekanntes. Anders gesagt – etwas, was nicht in meinen „normalen“ Alltag passt, denn dort bemühe ich mich stärker darum, dass wenig Fremdes auf- oder eintritt. Das wirkt – Fachbegriff: Selbst-Rückbezüglichkeit – sich auf mich aus und trägt zu (m)einem eher guten Gefühl bei: ich weiß, was kommt. Keine Überraschung. Das Gefühl, alles (oder das meiste) unter Kontrolle zu haben.

Also – immer dasselbe?

Das könnte dann so scheinen, als gäbe es keine Alternativen. Dann wäre ich dabei, TINA zu praktizieren: There Is No Alternative. Das weiß der Volksmund seit Jahrhunderten, dass das wohl eher nicht stimmen kann, denn „erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“

Ich selber kenne mich (zumindest ein bisschen) und weiß daher, dass es mir nicht immer leicht fällt, mit Fremdem umzugehen. Mit fremden Menschen. Die sehen meist schon anders aus. Und da schnappt oft die Falle zu, glaub’ ich – in Erinnerung an das dritte Watzlawicksche Kommunikationsaxiom: „jede Kommunikation wird interpunktiert“, d.h. interpretiert, also bewertet. Lässt sich wohl auch kaum vermeiden. Nur sollte ich mich hüten (auch wenn es schwerfällt), eine solche (nämlich meine) Interpretation anhand der Begriffe „richtig – falsch“ oder „gut – schlecht“ zu treffen.

Dabei dürfte ich nämlich vergessen, dass es sich immer um meine Interpretation handelt, die für mich gilt. Andere interpretieren anders. Nur, leider, so meine Erfahrungen und mein Erleben, besteht offenbar eine Tendenz, solche Interpretationen (Deutungen!) in einem zweiten Schritt „umzudeuten“ – aus meiner Interpretation wird so allzu leicht eine für alle gültige Wahrheit.

Was in meinen Augen hier verwechselt würde, wäre der Unterschied zwischen Wahrheit und Glaube. Ich glaube, dass bestimmte Dinge so sind – für mich. Sobald ich verallgemeinere, rede ich davon, dass ich wüsste, was für alle gilt. Und dann würde ich mich dem annähern, was Heinz von Foerster mit dem eingängigen Satz beschrieben hat: Wahrheit tötet!

Von daher ist es mir lieber (nicht zu verwechseln mit „angenehm“), mich auf Fremdes einzulassen, es zu respektieren und Andersartigkeiten (Unterschiede) zuzulassen.

Ohne solche Impulse – meine Interpretation – wäre ich schon am Ende, denn es gäbe nichts mehr. Nichts Neues, keine Entwicklungen – denn all dies ist letztlich ja auch zuallererst Fremdes.

Und Hägar, der Wikinger, einer meine Lieblingscartoon-Helden, würde den Satz mit den so passenden Worten abschließen: „glaub’ ich!“

Ich stelle mir vor, jeder Mensch würde sein Wissen, seine Erkenntnis, mit diesem Satz abschließen. Das wäre wunderbar … glaub’ ich.

22. Dezember 2016
von Tom Levold
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Stationäre Krankenhauskosten 2015 auf 84,2 Milliarden Euro gestiegen

WIESBADEN – Die Kosten der stationären Krankenhausversorgung betrugen im Jahr 2015 rund 84,2 Milliarden Euro. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das 3,8 % mehr als im Jahr 2014 (81,2 Milliarden Euro).

Umgerechnet auf rund 19,2 Millionen Patientinnen und Patienten, die 2015 vollstationär im Krankenhaus behandelt wurden, lagen die stationären Krankenhauskosten je Fall bei durchschnittlich 4 378 Euro und damit um 3,3 % höher als im Jahr zuvor (4 239 Euro).

Die Gesamtkosten der Krankenhäuser beliefen sich im Jahr 2015 auf 97,3 Milliarden Euro (2014: 93,7 Milliarden Euro). Sie setzten sich im Wesentlichen aus den Personalkosten von 58,5 Milliarden Euro (+ 4,1 % gegenüber 2014), den Sachkosten von 36,2 Milliarden Euro (+ 3,4 %) sowie den Aufwendungen für den Ausbildungsfonds von 1,3 Milliarden Euro (+ 4,3 %) zusammen. Weitere 1,4 Milliarden Euro entfielen auf Steuern, Zinsen und ähnliche Aufwendungen sowie auf Kosten der Ausbildungsstätten.

In den Gesamtkosten waren Ausgaben für nichtstationäre Leistungen (unter anderem Kosten für die Ambulanz sowie für wissenschaftliche Forschung und Lehre) in Höhe von 13,1 Milliarden Euro enthalten.

Die durchschnittlichen stationären Kosten je Fall waren in Brandenburg mit 3 953 Euro am niedrigsten und in Hamburg mit 5 013 Euro am höchsten. Diese regionalen Unterschiede sind auch strukturell bedingt: Sie werden vom Versorgungsangebot sowie von der Art und Schwere der behandelten Erkrankungen beeinflusst.

Quelle: Pressemitteilungen – Stationäre Krankenhauskosten 2015 auf 84,2 Milliarden Euro gestiegen – Statistisches Bundesamt (Destatis)

22. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremdes wird vertraut – Vertrautes fremd

Cornelia Tsirigotis, Aachen: Fremdes wird vertraut – Vertrautes fremd

„Fremd“ ist kein Begriff, den ich im Deutschen häufig benutze. „Anders“, „merkwürdig“ , „interessant“, ggf. „komisch“ entsprechen eher meinem Sprachgebrauch. Meine bewusste Begegnung mit andersartigen Gewohnheiten, Gebräuchen und Gerüchen begann, als ich fünf Jahre alt war. Mein ältester Bruder war schon 16 und hatte einen Schüleraustausch mit einem Gymnasium in Athen. Spiros kam also vier Wochen zu uns und brachte einen Hauch von Anderssein in unser doch immer noch von Nachkriegszeit geprägtes Haus. Der Geruch von in Olivenöl gebratenen Spiegeleiern war damals ganz merkwürdig, heute ist er vertraut. Auch die Art und Weise, wie Spiros mich veräppelt hat, war sehr merkwürdig, fast bedrohlich, heute auch eher eine vertraute Art, wie Menschen aus anderen kulturellen Kontexten mit kleinen Kindern umgehen und sie animieren. Mein Bruder war ja schon in Athen gewesen und konnte Lebensweisen und Unterschiede gut beschreiben und erklären.

Mit sechs spazierte ich in den Sommerferien über einen kleinen südfranzösischen Campingplatz, er war weniger von Touristen als von französischen Urlaubern belegt. Neugierig interessiert nahm ich andere Gewohnheiten und Gebräuche wahr, spielte ohne viele Worte mit den Kindern. War ich verwundert, wurde mir erklärt: „ja, sie machen es so“. Ich ließ mir Wörter und Sätze sagen, lerne, mit Stehklos umzugehen, all so was, mich kleinen Fremdheiten anzuvertrauen und damit vertraut zu machen. Ich war gerne allein unterwegs, hatte ich doch den sicheren Hafen von Eltern und Brüdern im Hintergrund. Ich soll ein sehr neugieriges (interessiertes?) Kind gewesen sein. Mein Zusammenfassung aus Kinderzeit könnte lauten: Fremdes kann (mir) leichter vertraut werden, wenn eine sicher Basis als Ausgangspunkt vorhanden ist. Und wenn es Erklärungen gibt. Weiterlesen →

21. Dezember 2016
von Tom Levold
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John Shotter gestorben

John Shotter ist am 8.12.2016 John Shotter in seinem Haus in Whittlesford, England, in Folge einer Krebserkrankung gestorben. Angaben über sein Alter waren im Internet nicht zu finden. Er war emeritierter Professor of Communication an der University of New Hampshire, USA. Von der Ausbildung her Psychologe, wurde er international bekannt als eine der führenden Figuren der sozialkonstruktionistischen Bewegung, die sich in den 90er Jahren formierte. Von  bis   war er am Centre for Philosophy of Natural & Social Science (CPNSS) an der London School of Economics tätig. Sein theoretischer Fokus lag auf der Bedeutung des Körpers und konkreter Praktiken im Kontext sozialer Kommunikation, also auf dem, was man mit dem Stichwort Embodiment nur sehr allgemein markieren kann.  Er hat eine große Zahl von Veröffentlichungen aufzuweisen, von denen viele auch auf seiner Website online zu lesen sind.

Noch im vergangenen Monat veröffentlichte er sein aktuelles Buch „Speaking, Actually: Towards a New ‚Fluid‘ Common Sense Understanding of Relational Becomings“. Dieses Buch schließt ein lebenslanges Projekt ab, das 1975 mit „Images of Man in Psychological Research“ begann. Einen seiner letzten Vorträge sollte er auf der Qualitative Research in Management and Organization Conference (QRM) halten, die zum Thema „Dialogue, Disruption and Inclusion“ im März 2016 in Albuquerque in New Mexico stattfand, wozu er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war. Statt dessen hielt seinen Vortrag mit dem Titel „Deep Dialogicality, Human Becomings, and Leaders as ‘Founders of Discursivity’“ über eine Videoschaltung, die auch in Youtube betrachtet werden kann:

 

In seiner Facebook-Gruppe finden sich viele Fotos und Erinnerungen an John Shotter. Heute wird er beerdigt. Seine Stimme und seine Beiträge werden fehlen.

21. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Sauerkraut und Ananas

Barbara Schmidt-Keller, Merzig: Sauerkraut und Ananas

Frühe und prägende positive Erfahrungen mit dem Fremden habe ich in meinem Elternhaus gemacht. Anfang der 70er Jahre suchte das Goetheinstitut deutsche Gastfamilien für ausländische Studenten, um diesen die deutsche Sprache und Kultur näherzubringen. Meine Mutter meldete unsere Familie an.

Der erste in einer langen Reihe war Rolando aus Mexiko. Meine Mutter kochte zur Begrüßung ein typisch deutsches Gericht, Sauerkraut mit Kassler, und verzierte es mit Dosenananas. Eine im vertrauten Sauerkrautbett unerwartete und überraschende Zutat, vermutlich als kulinarischer Brückenschlag gemeint, Rolando lebte bereits ein halbes Jahr in München, ernährte sich in der Mensa und seufzte beim Blick auf das Willkommens-Gastmahl „schon wieder Sauerkraut…“ Zu der Ananas sagte er nichts.

Ich muss etwa elf Jahre alt gewesen sein. Von da an kam in den folgenden 15 Jahren im Sommer und zu Weihnachten Besuch von jungen Erwachsenen aus einer anderen Welt. Sie kamen aus Asien, Afrika und Südamerika, aus Afghanistan und der Türkei.

Barbara Schmidt-Keller

Sie brachten neue Impulse mit, neue Wörter in fremden Sprachen, neue Gerichte und neue Gewürze. Fremde und aufregende Düfte zogen durch die Küche. Jeder wurde gebeten, einmal während des Aufenthalts ein Gericht aus seiner Heimat zu kochen. Von Zeit zu Zeit wurden angesichts dieser Herausforderung blaue Luftpostbriefe an die jeweiligen Mütter geschrieben, Rezepte und kochtechnische Instruktionen flatterten herbei. Es schmeckte fast immer gut, oft sehr gut und mindestens interessant…

Es sammelten sich die Gastgeschenke, ein buntes Potpourri aus vietnamesischen Lackbildern und südamerikanischen Flechtarbeiten, und – das beste aller Geschenke – ein rotes indisches knöchellanges Hippiekleid mit Stickereien und eingenähten kleinen Spiegeln, von dem ich mich die nächsten zehn Jahre nicht trennte.

Aus dem Kontakt mit einer jungen Vietnamesin entstand Kontakt mit ihren vietnamesischen Kommilitonen und Freunden, ein Baby wurde während des Aufenthalts bei uns geboren, eine Cousine kam aus Paris zu Besuch und ich besuchte deren Familie im nächsten Frühjahr zurück, mit Französischkenntnissen, die gleich null waren. Ich staunte über die drangvolle Enge der 3-Zimmer-Wohnung für eine 9-köpfige Familie in einer Hochhaussiedlung in der Banlieue und begriff erst Jahre später, dass die Eltern während meines 3-wöchigen Besuchs das Schlafzimmer für mich und eine der Töchter geräumt hatten und selbst in der Küche schliefen.

Das Fremde wurde schnell vertraut, ich aß zum Frühstück Pho, eine kräftige, mit Sternanis, Koriander und Ingwer gewürzte Rindfleischsuppe und sah der Gastmutter zu, die köstliche Frühlingsrollen, Wantans und kleine, nach Knoblauch duftende Fleischpasteten zubereitete, für die Familie und für verschiedene asiatische Restaurants in Paris.

Am letzten Abend, bevor ich mit dem Zug wieder nach Hause fuhr, führten die Eltern mich zum Essen in ein wunderbares asiatisches Restaurant aus. Der Vater sprach französisch und vietnamesisch, die Mutter vietnamesisch, ich sprach außer deutsch nur englisch. Die Kinder der Familie waren außer der kleinsten Tochter nicht dabei, wahrscheinlich wäre der Restaurantbesuch für alle zu teuer geworden. Am Nachbartisch saß eine mit einem Franzosen liierte Amerikanerin. Sie kam mit mir auf englisch und mit meinen Gasteltern auf französisch ins Gespräch. Aber das Essen war an diesem Abend unsere wichtigste gemeinsame Sprache.

Das Ritual des gemeinsamen Essens mit Gästen ist mir immer wichtig geblieben, genauso wie die Neugier auf neue Aromen und Geschmackserlebnisse.

Heute noch bin ich berührt und dankbar für diese Erfahrungen.

20. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Auf der Suche nach der F1-Taste

Hartwig Hansen, Hamburg: Auf der Suche nach der F1-Taste

Ganz am Anfang steht es ja regelmäßig null zu null unentschieden in Sachen Fremd gegen Vertraut.

Ich meine den Moment, wenn ich die Praxistür öffne und ein mutiges Paar vorsichtig fragt: „Sind wir hier richtig zur Paarberatung?“

Für Herrn und Frau X ist alles ungewohnt und neu – vertraut ist ihnen allerdings der „mitgebrachte“ Alltag mit dem Partner und mit dem Problem, das sie zu mir führt. Fremd ist ihnen jetzt aktuell alles andere – die Räume, der Geruch, die Sessel, meine Blicke, meine Fragen …

Ich hingegen bin hier vertraut mit dem Drumherum und den Abläufen, ich habe eine gewisse Routine, aufgeregt bin ich nicht mehr – das Ehepaar X schon. Ihnen steht die Frage ins Gesicht geschrieben: Was wird heute hier passieren? Werden wir diesem Mann, den wir ja gar nicht kennen, wohl vertrauen, ihn sogar zu unserem Vertrauten machen können?

Auf jeden Fall bringen Herr und Frau X eine große Portion Vertrauensvorschuss mit in die Beratung, die sich vielleicht diffus aus der Vorstellung nährt: Er als Experte kennt sich sicher aus mit unseren Problemen, der hat schon viel Verquastes erlebt, dem ist nichts Menschliches fremd …

Wenn die wüssten!

Es gibt da sehr vieles, das mir fremd ist und wohl auch bleiben wird. Zum Beispiel habe ich es in der Paarberatung heutzutage überproportional mit Männern aus der IT-Branche zu tun, die sich von ihren Partnerinnen mit guten Worten und ein paar eingestreuten Drohungen zur Beratung „überreden“ ließen und jetzt nur minder motiviert und nicht unbedingt überzeugt vom Sinn der Veranstaltung nach der F1-Taste für ihre Beziehung suchen. Diese Branche ist mir im Grunde nur aus Erzählungen bekannt und grundsätzlich eher fremd geblieben. Mittlerweile habe ich mich allerdings ein bisschen bekannt gemacht mit der Denkweise dieser Männer, die in knappen Worten etwa so zusammengefasst werden kann: Programm läuft nicht, Fehlerquelle suchen, Fehlerquelle ausschalten, Programm läuft wieder.

Hartwig Hansen

Schwierig wird es dann natürlich regelmäßig, wenn zum Beispiel Frau X nur den Anflug des Eindrucks gewinnt, sie könnte so etwas wie eine Fehlerquelle im „Programm“ ihrer Ehe sein. Eujeujeu …

Hilfreich-entspannend ist dann meist, wenn ich signalisiere, dass ich mich aufgrund von Beratungserfahrung in beiden Perspektiven ein bisschen auskenne und zum Beispiel die erwähnte F1-Taste ins Spiel bringe. Dann strahlt Herr X und Frau X schöpft wieder Hoffnung, doch noch unterstützt zu werden gegen den – Zitat – „IT-Rationalix“ in ihrem Ehebett.

Was ich sagen will: Mir ist so einiges (ziemlich) fremd an Berufsbildern, Lebensentwürfen, Glücksvorstellungen, Werten und Haltungen der Menschen, die zu mir in die Beratung kommen.

Aber – und darauf will ich hinaus: Das, was mir naheliegend, logisch, bewährt und vertraut ist, also das, was ich anbiete und vorschlage, ist ja für das Ehepaar X erst einmal neu, fremd, ungewohnt, verunsichernd, verstörend.

Für sie ist möglicherweise etwas ganz anderes stimmig und gewünscht, bekannt und bewährt.

Dafür muss ich mich offen halten. Denn wie sagte es Tom Levold so treffend in seinem Schreibaufruf: „Der zentrale Affekt für alle Prozesse der Veränderung, Beziehungsaufnahme und Zusammenarbeit ist ja Interesse: Interesse und Neugier als Voraussetzung für Exploration und Begegnung mit dem Unbekannten.“

Mein Job besteht also darin, nicht nur die Antennen auszufahren für das, was sich für mich fremd und dissonant anfühlt, sondern vor allem auch in meine Überlegungen mit einzubeziehen, was alles fremd, neu und ungewohnt für das Ehepaar X (beispielhaft für alle Klientinnen und Klienten) sein könnte. Konkret also: öfter mal gedanklich die Blickrichtung ändern – nicht mehr nur von mir auf mein Gegenüber schauen, festgezurrt an allen bekannten Denkmustern der Vergangenheit, sondern umschwenken in die Blick- und Denkrichtung: Wie erleben wohl Herr und Frau X ihre Welt und das, was ich gerade gesagt habe?

Und dann auch ruhig mal nachfragen …

Je besser wir unsere Erlebensweisen und Sprachbilder in den fortgesetzten Rückkopplungsschleifen unserer Verständigungsversuche „übereinander bekommen“, desto sicherer wird unsere Arbeitsbasis und desto mehr Neues, Anstoßendes und potenziell Verstörendes kann ich anbieten.

Dabei gibt es, um im Einstiegsbild des Unentschiedens zu bleiben, keine Gewinner und optimalerweise keine Verlierer. Es gilt, fortgesetzt die Balance zu halten, die lautet: Neues kann nur angenommen und ausprobiert werden, wenn das Vertrauen und das Vertraute ausreichend Sicherheit gewähren.

PS: Übrigens habe ich mich jetzt auch mit allen Tasten meines Computers bekannt gemacht: Die F1-Taste steht ja normalerweise für „Hilfe“ – bei mir macht sie allerdings nur meinen Bildschirm dunkler. Zum Glück macht F2 ihn dann wieder heller … Also brauchen wir mehr F2 in dunklen Zeiten. Öfter mal was Neues …

19. Dezember 2016
von Tom Levold
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Familien stärken – nicht stärker überwachen. Fachverband DGSF nimmt Stellung zur SGB VIII-Reform

Noch vor Weihnachten wird ein neuer Referentenentwurf zur Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) erwartet, der eine sogenannte „kleine Lösung“ vorsieht. Mit einem aktuellen „Zwischenruf in der Zwischenzeit“ nimmt die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) als berufsübergreifender Fachverband mit mehreren tausend in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Mitgliedern zum derzeitigen Reformprozess Stellung.

Bei der geplanten Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes darf es nicht darum gehen, bisher vielseitige und mit Familien gemeinsam ausgehandelte „Hilfen“ in standardisierte „Leistungen“ umzuwandeln. Es komme vielmehr darauf an, weiterhin gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern sowie deren Umfeld Ziele und Maßnahmen der Hilfe zu bestimmen. „Wir müssen Familien und ihre Selbstwirksamkeit stärken, statt Familien zu überwachen“, betont Dr. Björn Enno Hermans, Vorsitzender der DGSF und erteilt Ideen einer einfachen „linear-kausalen“ Steuerung in der Jugendhilfe eine Absage.

Für den weiteren Reformprozess benennt der Verband in seiner Stellungnahme Kernpunkte aus „systemischer Sicht“: methodisch offene Formen der Bedarfserhebung und der Hilfeplanung festschreiben, Eltern und Kinder und ihre „Helfer“ an allen sie betreffenden Handlungen beteiligen, am Begriff der „Hilfe“ festhalten sowie Kinder- und Elternrechte im Gesetz beibehalten. Die Komplexität der Hilfen und ihre Wechselwirkungen müssen berücksichtigt werden und es ist notwendig, das familiäre und soziale Umfeld systematisch zu beteiligen. Es geht um Kooperation im Sinne echter Zusammenarbeit und „Ressourcenaktivierung“.

Der systemische Fachverband begrüßt grundsätzlich das Ziel der Reform, Zuständigkeiten und Schnittstellen zu vereinfachen, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen stärker in den Blick zu nehmen und Angebote in den Sozialräumen einzubeziehen. Dabei dürften allerdings nicht „sozialräumliche Angebote“ gegen „Einzelfallhilfen“ ausgespielt werden oder Hilfen von der „Kassenlage“ abhängig gemacht werden. Die „Familie als Gesamtsystem“ müsse im Fokus stehen und der Rechtsanspruch des Kindes dürfe nicht auf Kosten des Hilfeanspruchs der Eltern durchgesetzt werden.

„Eine gesetzliche Weiterentwicklung ist grundsätzlich sinnvoll“ meint Hermans und betont, dass dabei wichtige Errungenschaften des aktuellen Gesetzes nicht aufgegeben werden sollten. „Gleichzeitig müssen sich alle Verantwortlichen ernsthaft fragen, ob ein neuer Referentenentwurf mit ‚kleiner Lösung‘, aber großen Folgen zum Ende der jetzigen Legislaturperiode nicht doch so etwas wie einen Schnellschuss darstellt. Ich halte es für ratsam, die Idee einer guten ‚großen Lösung‘ mit ausreichend Zeit zur gründlichen Fachdiskussion in der neuen Legislaturperiode weiterzuverfolgen.“

19. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Die „postfaktische Filterblase“

Martin Rufer, Bern: Die „postfaktische Filterblase“

Was in der Schweiz diese Woche mit „Filterblase“ zum „Wort des Jahres“ erklärt worden ist, lässt aufhorchen. Wird doch damit all dem, was in diesem turbulenten Jahr herausgefiltert, dafür aber aufgeblasen wird ein Denkmal gesetzt. Gemeint ist damit die falsche Sicherheit, in der sich Internetuser wiegen, weil sie nur mit Gleichgesinnten kommunizieren und sich deshalb in der Mehrheit wähnen. Was einem fremd ist oder was stört, bleibt im Filter hängen. Damit meint man ja gerne die Anderen. Diesmal aber, wenn man an die Wahl von Trump oder an den Brexit denkt, war die vermeintliche Minderheit eben die effektive Mehrheit. Nichts anders bei der „Masseneinwanderungsinitiative“, die den unerwarteten Volksentscheid in der Schweiz nun als „Inländervorrang light“ umsetzen will. Dass dieser parlamentarische Vorstoß, es möglichst Allen recht zu machen, bei uns zeitgleich zum „Unwort“ des Jahres gewählt worden ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie im Umgang mit dem und den „Fremden“.

Martin Rufer

Wie jeder weiss, können Blasen bei zunehmendem Innen- oder Aussendruck nicht nur leicht zerplatzen, sondern auch schmerzen. Offensichtlich haben es „Filterblasen“ an sich, dass sie vor „Fremdem“ besonders gut schützen, aber genauso schnell zerplatzen, dann aber nachhaltig wehtun. Dies Alles ruft dann all diejenigen „Heiler“ aufs Parkett, die den Schaden mit passender Wundversorgung bzw. Therapie in Grenzen halten sollen. Dies alles mag zwar Teil eines kreativen Prozesses sein, von dem man aber nie genau weiss, wie er schliesslich ausgeht. Systemiker bedienen sich dabei gerne Begriffen wie „nicht-lineare Dynamik“, „kritische Instabilität“, „Selbstorganisation“, „Emergenz“ usw. Was dabei aber gerne vergessen geht, dass in- und ausserhalb von „Filterblasen“ Menschen leben die sich nicht als „Eliten“ oder „Populisten“ verstehen und sich nur virtuell im Netz ernähren. Sie finden weder in der „Blase“ noch in der „Fremdenfeindlichkeit“ ihren Platz.

Aber wo denn? Im Land der „Fakten“ vielleicht, wo soeben „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gekührt worden ist? Ein Kunstwort, so die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), das darauf verweise, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten gehe. Ja sicher, ohne Emotionen läuft nichts. Das wissen nicht nur die andern, die damit auf unlautere Art ihr Geld machen, sondern auch wir Therapeutinnen und Therapeuten, die wir unser Geld damit ja redlich verdienen wollen und müssen. Dass inzwischen auch wir unser systemtherapeutisches Wissen (postfaktisch) „emotionsbasiert“ verkaufen, ist Teil dieses „Geschäfts“…

Wo nun aber finde ich, findest Du, finden wir Systemiker unsern Platz und melden uns zu Wort, vis a vis von Fremdem und Fremden, jetzt wo die „Filterblase“ zerplatzt und die „Fakten“ in der Postmoderne immer mehr verschwinden?

18. Dezember 2016
von Tom Levold
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Das erschöpfte Selbst der Psychologie

Heiner Keupp hat die „Gesellschaftsvergessenheit“ der Psychologie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder kritisch thematisiert. In seinem jüngsten Aufsatz, der online im Journal für Psychologie erschienen ist, schreibt er über „das erschöpfte Selbst der Psychologie“ im Zeitalter des Neoliberalismus. Im abstract heißt es: „Gegenwärtig gibt es eine inflationäre Beschäftigung mit dem Thema Burnout, das im globalen Kapitalismus fast alle Berufsgruppen und auch die privaten Lebenswelten erreicht hat und es ist eindeutig, dass die helfenden Berufe an der Spitze der Erschöpfung rangieren. Reicht es, mehr »Selbstsorge« oder »Achtsamkeit« zu empfehlen? So wichtig das auch ist, so bleibt doch letztlich die Notwendigkeit, das psychosoziale Handeln in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen und an der Überwindung der zunehmenden »Gesellschaftsblindheit« oder »sozialen Amnesie« der aktuellen Psychologie zu arbeiten. Die ganze PSY-Zunft ist seit den 80er Jahren in ihrem Siegeszug gestoppt worden. Die utopischen Energien sind auch ihr im Zuge der neoliberalen Globalisierung immer mehr ausgegangen und sie befindet sich im allgemeinen gesellschaftlichen Krisenmodus. Die Psychologie ist vom gesellschaftlichen Strukturwandel in elementarer Weise betroffen. Die kritische Reflexion setzte erst allmählich ein und sie muss fortgesetzt und vertieft werden. Gerade die Erschöpfungssymptome der PSY-Professionellen selbst erfordern eine Analyse ihrer Entstehungsbedingungen.“ Der Text kann hier heruntergeladen werden…

18. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremd und vertraut in Deutschland

Bahram Yazdanpanah, Mettlach: Fremde in Deutschland

Der Sinn und das Ziel des
menschlichen Lebens sind wir,
die Menschen selbst, und das
Glück ist in uns verborgen

 

Einflussfaktoren meiner Migration könnten Schicksal, Selbstbestimmung, beides oder keines der beiden sein

Iran ist ein Land mit vielen Kulturen und Ethnien, die friedlich zusammenleben. Ich bin in einem Stadtteil der historischen Stadt Shiraz in Iran geboren und aufgewachsen. Sowohl die väterliche, als auch die mütterliche Familie waren Großfamilien. Im benachbarten Viertel haben Menschen jüdischen Glaubens gelebt, ein paar Straßen weiter war die Kirche der Christen und die Menschen zarathustrischen Glaubens gehörten ebenfalls zu den Alteingesessenen und sie waren nicht die einzigen nicht-Muslime in dieser Stadt.

Nach meinem Abitur schickte mir ein Freund im Jahre 1978 die Zulassung und das Visum zum Studieren für die USA. Zu der Zeit lebte ich den Vereinigten Arabischen Emiraten. Um die Formalitäten für das Studium in der USA zu erledigen, ging ich zurück in den Iran. Als ich dort ankam, war im Iran die Revolution im Gange und während meiner Vorbereitungen erfuhr ich aus den Nachrichten, dass die amerikanische Botschaft in Teheran besetzt worden war. In der Hoffnung, dass bald die Besetzung vorbei ist, wartete ich und es vergingen Wochen und Monate.

In dieser Zeit waren junge Familienmitglieder, die in Deutschland studierten, bei uns zu Besuch. Wir unterhielten uns und u.a. schlugen sie vor, dass ich zum Studieren nach Deutschland gehen könnte. Obwohl sie mir über Deutschland viel erzählten, war es nicht mein primäres Ziel. Als ich dann gemerkt habe, dass sich die Geschichte mit der amerikanischen Botschaft in die Länge zieht, kam ich zum Entschluss, dass ich probeweise nach Deutschland gehe und es mir vielleicht dort gefallen könnte. Meine Familie schlug vor, dass meine jüngere Schwester auch mitkommen soll. Also reisten meine Schwester und ich zusammen nach Deutschland.

Leben in Deutschland

Das Studienkolleg im Saarland, danach das Studium an der Hochschule Bremen wurde absolviert, darauf folgte eine Fortbildung in systemischer Therapie und Mediation und schließlich das Berufsleben und die Familienbildung. Inzwischen sind Jahre voller Ereignisse und Erfahrungen vergangen. Vor und während des Studiums gab es, wie in jedem Leben, Erfolge und Niederlagen, bis ich selbständig auf die Beine kam. Natürlich stellt sich die Frage, was denn Erfolg und Misserfolg genau sind.

Es war schwierig, in Deutschland als „Dritte-Welt-Ausländer“ einen Studienplatz zu bekommen. Meine Familie fragte oft, wie ich mit meinem Studium denn vorankomme und irgendwann kam dann mein älterer Bruder nach Deutschland. Er war derjenige, der mich während meines Aufenthaltes finanzierte. Er sagte mir, ich solle meine Reisedokumente holen und mit ihm in die Emirate zurückfliegen, wo er seine erfolgreichen Geschäfte machte. Er argumentierte, dass es in der Zeit schwer sei, einen Studienplatz in Deutschland zu bekommen und außerdem bräuchte er meine Hilfe für seine Geschäfte. Ich musste mich also entscheiden, ob mit ihm ziehen oder ob ich meinen Lebensunterhalt und insgesamt mein eigenes Leben selbst in die Hand nehmen würde. Ich bin in Deutschland geblieben und musste zeigen, dass ich es schaffe, meine Angelegenheiten selber zu regeln. „Wenn ich das Studium hinter mich gebracht habe, kehre ich zurück“, dachte ich mir. Nach der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran fing der iranisch-irakische Krieg an und dadurch wurden alle Wege der Rückkehr für lange Zeit auf Eis gelegt. Weiterlesen →