2. Januar 2017
von Tom Levold
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Das letzte Heft des Kontext-Jahrgangs 2016 ist kurz vor Weihnachten erschienen und dem Thema Achtsamkeit und Spiritualität gewidmet. Im Editorial heißt es: „Das Thema Achtsamkeit boomt. Schlägt man dieser Tage eine beliebige Wirtschafts- oder Managementzeitschrift auf, braucht man nicht lange zu blättern, bis man auf einen Artikel stößt, der die Achtsamkeits- und Meditationspraxis als hilfreich für die Bewältigung der Herausforderungen preist, mit denen Führungskräfte und Mitarbeiter in Unternehmen zu kämpfen haben. Wurde dieses Thema in den vergangenen Jahrzehnten eher dem Bereich spiritueller Selbstvergewisserung oder gar dem zweifelhaften Milieu esoterischer Lebensentwürfe zugeordnet, haben Achtsamkeit und Meditation Einzug in eine Welt gehalten, die weithin eher mit rationalistischen Optimierungsstrategien in Verbindung gebracht wird als mit der Frage nach Transzendenz und Sinnsuche.
Natürlich ist das Thema keineswegs neu. Seit Jahrtausenden werden spirituelle und meditative Praktiken mehr oder weniger systematisch betrieben. Es dürfte aber kein Zufall sein, dass sie gerade in einer sich zunehmend beschleunigenden Welt, in der die digitale Echtzeitkommunikation zu einer permanenten Reizüberflutung wird, immer mehr an Attraktivität gewinnen. Am einen Ende des Spektrums geht es um unsere Sehnsucht nach Innehalten, Verlangsamung, Fokussierung und Präsenz, am anderen Ende um Transzendenz und Begegnung mit etwas, was unsere Alltagserfahrung nicht umfasst. Für Niklas Luhmann beginnt Transzendenz dort, wo Sprache versagt und unser Sinnhorizont überschritten wird. Inwendigkeit (als Konzentration auf nicht verwörterbare Erfahrung von Körperlichkeit) und Spiritualität (als Überschreitung sinnlicher Erfahrung und Sinnvorstellungen) markieren den Rahmen, in dem sich das gegenwärtige Interesse für Achtsamkeit, Meditation und Spiritualität bewegt.
Auch unser aktuelles Heft reflektiert die verschiedenen Dimensionen dieses thematischen Panoramas. Stefan Schmidt, Psychologe und Forscher an der Psychosomatischen Universitätsklinik Freiburg (Sektion Komplementärmedizinische Evaluationsforschung), beschreibt Achtsamkeit in seinem Artikel als eine von Gegenwartsorientierung und Akzeptanz geprägte Grundhaltung gegenüber dem eigenen Erleben, die mit einem starken Erfahrungsbezug gekoppelt ist. Diese Orientierung erweist sich für ihn als eine ideale Ausgangsbasis für systemisches Arbeiten. Im Sinne der Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich Achtsamkeit als praktizierte Beobachtung der eigenen Geistestätigkeit verstehen und insofern als selbstreferentielle Erkenntnispraxis, die die Ähnlichkeiten von konstruktivistischer und buddhistischer Theorie deutlich werden lässt.
Zur Verwandtschaft von Systemtheorie und Buddhismus hat Werner Vogd, Soziologie-Professor an der Universität Witten/Herdecke vor einiger Zeit ein Buch veröffentlicht, auf das sich auch Stefan Schmidt bezieht. Wir haben Werner Vogd gebeten, seine Thesen auch im Kontext zur Diskussion zu stellen. Günter Emlein, Theologe und Luhmannianer, hat hierzu einen kritischen Kommentar verfasst, zum dem auch Vogd noch einmal Stellung bezogen hat: eine philosophische Diskussion auf höchstem Niveau.
Eine „Erkundung“ des Verhältnisses von Systemischer Praxis und Spiritualität nimmt die Philosophin Ursula Baatz aus Wien, die dort eine philosophische Praxis betreibt, in ihrem Beitrag vor. Sie plädiert für Spiritualität als selbstreflexive Lebensweise, die dem Prozess der Selbst-Transformation eine Richtung geben kann, freilich ohne dass Berater oder Therapeuten die Funktion von spirituellen Lehrern übernehmen sollten. Dennoch kann ein systemischer Zugang für Baatz Spiritualität als „Set von Diskurspraktiken“ wertschätzen, die Weltwahrnehmung und Motivation formen. Um Prozesse der Selbstreflexion aus spiritueller Motivation mit systemischen Mitteln unterstützen zu können, ist allerdings immer die Auftragsklärung zu beachten – worum geht es der Klientin, dem Klienten?
Die Frage der Auftragsklärung ist in einem Text über den Einsatz von Achtsamkeitspraktiken in den Unternehmensalltag bereits geregelt: immer mehr Unternehmen interessieren sich dafür, Mediation und Achtsamkeit in den Arbeitsalltag von Führungskräften und Arbeitsteams zu integrieren. „Aus der Praxis“ berichten Liane Stephan und Chris Tamdjidi, die als Geschäftsführer der Kölner Kalapa Leadership Academy seit langem Achtsamkeitsprogramme in Wirtschaftsunternehmen implementieren. Mittlerweile haben daran mehr als 700 MitarbeiterInnen aus über 20 Firmen, von Konzernen wie Bosch bis zu Mittelständlern, daran teilgenommen. In ihrem Artikel beschreiben sie ihr Konzept, dessen Umsetzung und die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleitung vor, die demnächst auch veröffentlicht werden wird. Abgerundet wird das Themenheft mit einem Stich-Wort von Dörte Foertsch zum Thema: Achtsamkeit.“
Alle bibliografischen Angaben und abstracts des vergangenen Kontext-Jahrgangs finden Sie hier…