Heiko Kleve, Witten/Herdecke: Systemisch – der Unterschied, der (k)einen Unterschied (mehr) macht! Oder: Die Ambivalenz des Erfolgs
Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, vom 22. November 2018, die systemische Psychotherapie als krankenkassenfinanziertes Psychotherapieverfahren anzuerkennen, haben die systemischen Fachverbände (insbesondere SG und DGSF) einen großen Erfolg errungen. Nun ist auch die systemische Therapie im Mainstream der anerkannten Psychotherapie-Schulen angekommen. Das ist sicherlich ein beachtlicher Meilenstein in der Entwicklung systemischer Therapie- und Beratungsverfahren, der gebührend gefeiert wurde und weiterhin zelebriert wird.
Ich will diesen Erfolg nicht schmälern, wenn ich seine Ambivalenz hervorhebe. Alles das, was den systemischen Therapieansatz von den anerkannten Mainstreamverfahren der Verhaltenstherapie, der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse abhebt, insbesondere seine erkenntniskritische Haltung, die sich etwa im subversiven Umgang mit der Psychopathologie und dem Diagnostizieren zeigt, steht damit hoffentlich nicht auf dem Spiel. Allerdings müssen wir der Gefahr ins Auge sehen, dass diejenigen, die sich von den Krankenkassen bezahlen lassen, freilich auch deren Regeln nicht nur akzeptieren, sondern auch realisieren müssen. Die systemische Therapie wird nun ebenfalls zunächst psychopathologisch verdinglichen müssen, was sie dann bestenfalls in der Durchführung der Behandlung wieder verflüssigt und pulverisiert: Krankheitszuschreibungen. Sie muss zunächst die Aufmerksamkeit richten auf das, was als Defizit bzw. psycho-sozial als störend bewertet wird, bevor sie den Fokus der Kommunikation auf Resilienzen in der Gegenwart und Vergangenheit sowie auf Lösungen in der Zukunft richten kann. Das will ich hier im Einzelnen nicht weiter vertiefen. Denn ich bin kein Therapeut und damit von dem Sieg der systemischen Psychotherapie nicht direkt betroffen.
Vielmehr will ich meine Hoffnung darüber ausdrücken, dass durch den Eintritt in den Olymp anerkannter Psychotherapieverfahren der systemische Ansatz in seinen nicht-therapeutischen Varianten, wie etwa der psycho-sozialen Beratung, der Supervision, dem Coaching, der Organisationsberatung oder der Pädagogik wieder freier, rebellischer und aufmüpfiger werden kann. Denn das ist es doch, was viele in den Anfangstagen der systemischen Bewegung motiviert hat, dieser unorthodoxen Denk- und Handlungsrichtung zu folgen: ihre andere Art, die Welt und deren Phänomene zu beschreiben, zu erklären und zu bewerten.
Besonders radikal kann das (wieder) gelingen, wenn wir Niklas Luhmann noch intensiver als bisher rezipieren. Die systemischen Akteure können mit diesem „Anwalt des Teufels“, wie Peter Sloterdijk Luhmann in einer Freiburger Rede im Jahre 1999 aufgrund der diabolischen Paradoxie-Verliebtheit der Systemtheorie mal genannt hat, daran erinnert werden, dass sie es selbst sind, die mit ihrer Aufmerksamkeitsfokussierung das mit konstruieren, was sie als Problem bewerten und zu lösen versuchen. Luhmann hat dies besonders deutlich formuliert; womit wir abschließend an die systemischen Psychotherapeuten appellieren wollen, dass sie diese systemtheoretische Lektion auch im Trubel ihres Erfolgs nicht verlernen sollten: “wenn man wissen will, was ‚pathologisch‘ ist, muß man den Beobachter beobachten, der diese Beschreibung verwendet, und nicht das, was so beschrieben wird.“[i]
[i] Luhmann, N. (1990): Glück und Unglück der Kommunikation in Familien, in: ders. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 218-227.