systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

25. Januar 2020
von Tom Levold
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Trauer

Trauer: Mit diesem Thema geht die Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung in ihren 38. Jahrgang. Das Themenheft enthält Beiträge u.a. von Michael White, Petra Rechenberg-Winter und Ulrich Pfeifer-Schaupp. Im Editorial von Cornelia Tsirigotis heißt es: „In der Mani, dem mittleren Finger der griechischen Halbinsel Peloponnes, existiert eine lange Tradition von Klageliedern, „Myrologia“. Wenn jemand gestorben ist, versammeln sich Familie, Freunde, Nachbarn um den oder die aufgebahrte Tote(n), singen rhythmische Gesänge, in denen z.B. das ganze Leben des Verstorbenen erzählt wird. Die Singenden wechseln sich dabei ab und geraten in eine Art Trancezustand. Ein lautstarker Ausdruck von Trauer. Das geht so bis zum Begräbnis. Nach dem Begräbnis geht die Familie 15 Tag lang jeden Tag zum Grab, dann gibt es noch einmal eine Familientrauerfeier, auch mit Myrologia. Von nun an geht das Leben erst in ganz kleinen Schritten weiter, bis zu der 40 Tage-Trauerfeier, bei der sich wieder viele Angehörige, Freunde und ggf. das ganze Dorf versammeln. Nach 40 Tagen geht das Leben wieder ein kleines Stück weiter, bis zur Trauerfeier nach drei Monaten, nach sechs Monaten, nach einem Jahr. Dieses schrittweise wieder ins Leben Finden ermöglicht es, in ganz anderer Form zu trauern und gibt einen hilfreichen Schonraum für die Trauernden. Heute wird nicht mehr alles so gehandhabt, vor allem von den jüngeren Generationen werden keine Klagelieder mehr zelebriert, aber die zeitliche Rhythmisierung des Trauerjahres und der selbstverständliche Platz, den das Trauern erhält, werden weiterhin geachtet.

Ganz anders habe ich Trauer in meiner deutschen Nachkriegskindheit erlebt, oder eben nicht erlebt: „Sie ist ganz gefasst“, „in stiller Trauer“, Tränen eher im stillen Kämmerlein, nicht öffentlich. Das hat sich in den letzten Jahren zunehmend verändert, von „Trauerarbeit“ ist die Rede, Trauerbegleitung entstand oder Trauergruppen. Dieses Heft beschäftigt sich mit der systemischen Begleitung von Krankheit, Sterben und Trauer. 

Die bibliografischen Angaben mit allen abstracts finden Sie hier…

24. Januar 2020
von Tom Levold
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Haja Molter wird 75!

Haja Molter

Heute feiert Haja Molter seinen 75. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Das erste Mal ist mir sein Name auf einem Buch begegnet, das er als Ko-Autor 1976 mit dem humanistischen Therapeuten und Gruppendynamiker George R. Bach (1914-1986) zum „Psychoboom“ der 70er Jahre veröffentlichte – und in den sich die Autoren kritisch mit „Wegen und Abwegen moderner Therapie“ auseinandersetzten. Bach war auch seine erster psychotherapeutischer Lehrer. Bereits 1975 lernte er Virginia Satir kennen und wandte sich in dieser Zeit der strukturellen Familientherapie zu. Virginia Satir war die Inspiration für die Gründung des ersten privaten Ausbildungsinstituts für Familientherapie in Deutschland, das Institut für Familientherapie Weinheim. In der Zeit einer mehrjähriger Tätigkeit im Heimbereich (1977-1980) und als Dozent für Klinische Psychologie an der Universität Bonn (1980-1985) war Haja von Anfang an an der Entwicklung der Systemischen Therapie hierzulande beteiligt, seit 1983 auch als Lehrtherapeut am IFW. Ab Gründung der Zeitschrift des Instituts systhema gestaltete er diese als Redakteur und Autor und veröffentlichte seitdem nicht nur in diesem Medium zahllose Beiträge zur Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes.

Neben seiner Praxis als Psychologischer Psychotherapeut hat er als Lehrtherapeut und lehrender Supervisor (SG) viele Generationen von angehenden Systemischen TherapeutInnen mit seinem Wissen und seiner Haltung geprägt, nicht zuletzt mit seinem Interesse für Entwicklung systemischer Konzepte für die Arbeit mit Gruppen und Teams, Systemische Supervision, Coaching und Organisationsberatung in Profit- wie in Non-Profit-Organisationen. Neben Wissen und Haltung kommt auch der Genuss nicht zu kurz, Essen und Trinken spielen eine wichtige und verbindende Rolle, wie ich nicht nur im Supervisionsausschuss der SG zu den Supervisions–Weiterbildungsrichtlinien, die wir gemeinsam Ende der 90er Jahre auch bei dir zuhause ausgeheckt haben, feststellen konnte.

Lieber Haja, du schaust auf eine erfüllte Zeit des Lehren und Lernens zurück. Für deine vielfältigen und und immer anregenden Beiträge in Diskussionen, Vorträgen und Veröffentlichungen möchte ich mich bedanken, ich habe sie immer mit Gewinn gehört und gelesen! Für die kommenden Jahre wünsche ich dir alles Gute, Kraft für das Kommende, Zeit für das Schöne und Glück in den besonderen Momenten. Ich freue mich, dass mit mir noch viele Andere an dieser Stelle gratulieren, also genieße den Tag!

Herzliche Grüße, Tom

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19. Januar 2020
von Tom Levold
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Die Macht der Komplexität. Supervision systemisch gewendet

Heinz Kersting

Im September 2003 veranstalteten wir, d.h. der Supervisionsausschuss der Systemischen Gesellschaft SG in Berlin eine kleine, aber feine Fachtagung zum Thema „Systemische Supervision zwischen Macht und macht nix“, auf der die Frage nach dem Umgang mit Macht in Supervisionen und der Macht von Supervision selbst im Mittelpunkt standen. Der letzte Hauptvortrag wurde von Heinz Kersting aus Aachen (31.5.1937-4.12.2005) gehalten, in dem er auf die Geschichte der (systemischen) Supervision zurückblickt. Der Vortrag ist in Heft 3/2004 der Zeitschrift systhema erschienen. Im Abstract heißt es: „Der Verfasser behauptet, dass die Supervision bereits in ihren Anfängen in der Sozialen Arbeit der USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts systemisch und kybernetisch gewesen sei, da sie viele Merkmale der systemischen Grundhaltung wie Kontextbezug und Ressourcenorientierung beinhaltete. Die mit der Supervision in ein Arbeitssystem eingebaute selbstreflexive Schleife als Beobachtung 2. Ordnung kennzeichnete bereits die frühe Supervision als ein kybernetisches Verfahren. Des Weiteren verfolgt der Verfasser die Geschichte der Supervision in den USA, bis sie dann in den 60er Jahren in Deutschland ankommt und zu einem Verfahren externer Bera- tung von Personen und Arbeitssystemen entwickelt wurde, wie sie uns heute geläufig ist. Schließlich zeigt er auf, wie die systemische Supervision in Deutschland explizit systemisch wurde.“ Der Text kann hier online gelesen oder heruntergeladen werden.

7. Januar 2020
von Tom Levold
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Gisal Wnuk-Gette wird 80!

Gisal Wnuk-Gette

Heute feiert Gisal Wnuk-Gette ihren 80. Geburtstag. Viel Aufhebens wollte sie nicht darum gemacht haben, aber dennoch sei ihr an dieser Stelle ganz herzlich gratuliert. Ihre zahlreichen Beiträge für das systemische Feld vor allem in der Jugendhilfe und der sozialpädagogischen Familienarbeit sind hier schon zu ihrem 75. Geburtstag gewürdigt worden, auch das lange Gespräch, das Wolf Ritscher mit ihr für den Kontext geführt hat, ist hier noch einmal nachzulesen. Mir bleibt nur, liebe Gisal, dir von ganzem Herzen für alle deine Initiativen und Aktivitäten zu danken und dir für die kommenden Lebenszeit alles Gute zu wünschen, Gesundheit, guten Mut und weiterhin viele schöne Begegnungen mit alten und neuen Freunden! Let life be good to you!

Tom Levold

24. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Frohe Weihnachten

Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

wie jedes Jahr war es auch dieses Mal möglich, wieder mit Ihrer Hilfe einen Adventskalender im systemagazin zu erstellen. Ich möchte allen Autorinnen und Autoren, die mit ihrem Beitrag ein Türchen des Kalenders gestaltet haben, ganz herzlich bedanken und hoffe, dass die unterschiedlichen biografischen, anekdotischen, visuellen und theoretischen Aspekte Sie zum Nachdenken und Erinnern anregen konnten.

Ich wünsche Ihnen allen schöne, ruhige und entspannte Weihnachten, wo und mit wem auch immer!

Herzliche Grüße

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

23. Dezember 2019
von Tom Levold
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Systemagazin Adventskalender – Einheit oder Andersheit. Gedanken zur „Wiedervereinigung“

Schon 2009 war das Jubiläum des Mauerfalls Thema im systemagazin-Adventskalender (meine persönlichen Erinnerungen muss ich daher hier nicht mehr wiederholen, sie kann man hier nachlesen

Bemerkenswert erscheint mir, dass im öffentlichen Diskurs der Unterschied zwischen Ost und West in den vergangenen 10 Jahren nicht kleiner, sondern eher größer geworden zu sein scheint. Der Optimismus, dass „zusammenwächst, was zusammen gehört“, ist nicht das Leitmotiv in der aktuellen Debatte. Allenthalben liest man Nachrichten und Geschichten, die deutlich machen, dass die Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern keineswegs aufgehoben sind, sondern sich in den unterschiedlichsten Feldern bemerkbar machen, ja sogar zuspitzen. Am augenfälligsten zeigt sich dies im Zulauf zu PEGIDA und AfD in den neuen Bundesländern und den damit verbundenen Wahlergebnissen der letzten Landtagswahlen.

Nun sind auch die Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland keineswegs gering zu schätzen, die unterschiedlichen Landsmannschaften pflegen diese Unterschiede (und wechselseitigen Negativ-Zuschreibungen) nach wie vor seit Jahrzehnten mit Hingabe. Der Ost-West-Unterschied scheint aber anders gebaut zu sein. In jedem Fall ist er ein Unterschied, der fortwährend neue Unterscheidungen erzeugt, die das Gefühl der Einheit konterkarieren.

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22. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Ambiguitätstoleranz leben

Ulrike-Luise Eckhardt, Berlin:

Erinnerungen an den 9. November 1989 sind neben den reichlich dargestellten geschichtlichen und allbekannten Ereignissen bei mir fest verbunden mit einem Seminar zur Familienmediation mit Josef Duss-von Werdt, zu dem er an unser Berliner Institut für Familientherapie, Systemische Therapie, Beratung, Supervision und Fortbildung e.V. (BIF) kam. Das Seminar sollte Samstag und Sonntag am 11. und 12.11.1989 stattfinden. Sepp kam mit seiner Kollegin ein paar Tage eher nach Berlin und erlebte den Mauerfall live mit. Er erzählte oft, wie sehr ihn das bewegt und berührt hat und ich habe seine Bewegung hautnah mitbekommen, habe ich doch als Organisatorin der Seminare auch immer die Referenten „betreut“, also vom Hotel abgeholt und kleinere Stadtrundfahrten mit ihnen gemacht. So ist dieser Mauerfall auch immer mit der Erinnerung an Sepp verbunden, der uns lange Jahre ein treuer Begleiter und Berater im BIF war und dessen Tod kürzlich mich persönlich auch sehr berührt hat.

Ich selbst habe den Mauerfall verschlafen und erfuhr erst am Freitag, dem 10.11., früh in den Nachrichten davon. Ich war fassungslos und schaltete zwischen Radio und Fernseher hin und her und bewegte mich nicht von der Stelle. So erlebte ich die ersten begeisterten Anrufe meiner Verwandten und Freunde aus den USA und England und dann Köln (in der Reihenfolge) und die freudigen Reaktionen. Der etwas peinliche Auftritt der damaligen Politiker auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses enthielt neben der falschgesungenen Nationalhymne den Hinweis, dass heute Abend die Glienicker Brücke geöffnet wird. Ihr erinnert Euch: die Brücke des Agentenaustausches zwischen Wannsee und Potsdam. Das war mein „Dorf“ und sofort mobilisierte ich Freunde, dort hinzufahren. Das meist gehörte Wort in der allgemeinen Freude der menschlichen Begegnungen war „Wahnsinn“. Anders konnte man das Ganze nicht bezeichnen. Und da fiel mir der 7. Oktober 1989 ein: Rosemary Whiffen und Magret Dennis waren aus London zu uns zu einem Seminar gekommen und wollten am 7.Oktober nach Ost-Berlin. Sie kamen enttäuscht zurück, sie wurden an der Grenze zurückgewiesen mit den Worten: „Heute sei kein guter Tag die Hauptstadt der DDR zu besuchen“ (40. Jahrestag der DDR). Stattdessen machte ich eine Stadtrundfahrt mit ihnen, u.a. an die Glienicker Brücke. Sie fragten mich, wie lange die Mauer wohl noch stehen würde und ich antwortete, dass ich bis dahin dachte, noch 50 Jahre – aber nach dem heutigen Ereignis vielleicht noch 100 Jahre oder aber doch nicht mehr so lange.

Da hatte ich noch nicht die Eindrücke meines Besuches in Ost-Berlin am 2.11.1989, zwei Tage vor der großen Demonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz. Ich erlebte eine total andere Stimmung als bei vorigen Besuchen, eine Offenheit, eine Aufbruchsstimmung, die Menschen schauten sich an und redeten, auch mit uns Wessis. Da glaubte ich, dass es wohl weder 100 noch 50 Jahre dauern wird, aber schon eine Woche später war das dann doch eine Überraschung.

Meine Mit-Zeitzeugen in diesen Tagen kamen aus dem Ausland und gaben mir ein etwas anderes Bild: eins der Begeisterung einerseits und der Skepsis andererseits. Einige Freunde aus New York sind deutsche Juden (Überlebende der Shoah) und es gab durchaus Ängste, wie es nun in Deutschland weitergeht. Sie erinnerten sich an einen anderen 9.November: 1938. Die „Reichsprogromnacht“ oder auch „Kristallnacht“ wie Andreas Nachama sie dann doch aus historischer Sicht wieder nannte, macht ein ganz anderes Gedenken nötig. Und auch die 9. November 1918 (Ende des 1. Weltkrieges und das Ausrufen der Republik) und 1923 (Hitler-Putsch), lassen diesen Tag als typischen Gedenktag der deutschen Geschichte vierfach begehen und beschreiben so vielleicht die Ambiguitätstoleranz, die wir als Nation und vielleicht auch individuell aushalten müssen. Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in Ost und West? Bis 1945 hatten wir alle dieselbe Geschichte und die lebt in uns, in den Familien mehrgenerational weiter, was besonders in der Arbeit mit Familien, in Therapien oder auch in der Selbsterfahrung der Herkunftsfamilie in den Weiterbildungen immer eine Rolle spielt.

Ich erlebte nach dem Mauerfall u.a. das Glücksgefühl der gemeinsamen Sprache (als Berliner) und ein Heimatgefühl als Berlinerin stellte sich sofort ein. Wir sprachen die gleiche Sprache, den gleichen Dialekt (im Westen versteckt, im Osten offenener), aber bald musste ich feststellen, dass wir zwar die gleiche Sprache sprachen, aber nicht dieselbe. Als Systemikerin halfen mir da die Erlaubnis zu fragen, auch Sprache zu hinterfragen und erst einmal nichts zu verstehen. Das hatte ich aus meiner Ausbildung in USA mitgebracht: Ich verstehe erst einmal nichts und frage nach, auch bei eigentlich selbstverständlichen Begriffen.

Die Angst meiner Freunde vor evtl. wieder auflebenden Antisemitismus hat sich leider bestätigt und auch andere Entwicklungen in unserem Land lassen uns hoffentlich wachsam bleiben oder werden. Es gibt natürlich unendlich viele Gemeinsamkeiten und auch unendlich viele Unterschiede, aber nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch und vor allem schon immer zwischen Nord und Süd, Stadt und Land und vielem mehr. Diese als Bereicherung zu erleben, auch durch die Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen ist wünschenswert, aber nicht unter Aufgabe der eigenen Identität aller Menschen und den Verfall in die Beliebigkeit.

Ich bin immer noch froh und dankbar, dass die Menschen in der DDR die friedliche Revolution gewagt haben und unser gemeinsames Land soviel reicher gemacht haben, ohne Leid und Enttäuschungen, vielleicht auf beiden Seiten, nivellieren zu wollen.

Ich hatte schon vor der Wende zu Verwandten in der DDR viel Kontakt, allerdings ergaben sie nur eine Seite des Bildes von der DDR, da sie mehr oder weniger im Widerstand waren. Trotzdem hat mich mein Studium an der Freien Universität in Berlin in den 70er Jahren auch geprägt und da zeichneten wir ein positives Bild in der Kritischen Psychologie und Soziologie. Schon da lernte ich vielleicht die Ambiguitätstoleranz zu leben und beiden oder mehreren Perspektiven einen gleichberechtigten Platz zu geben.

Um die Zukunft zu gestalten halte ich das Erinnern für sehr wichtig, daraus zu lernen und statt alter lieber neue Fehler zu machen, also reflektiert zu handeln, anstatt „gut gemeint“ auf die möglichen Auswirkungen zu schauen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes neues Jahr 2020.

21. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Inspiration auf der Glienicker Brücke: eine Bildergeschichte

Ulrich Schlingensiepen, Potsdam:

Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wo ich am 9.11.1989 war. In Stuttgart, so viel ist sicher. Aber ich erinnere mich sofort an meinen Vater, der über viele Jahre Pakete und Päckchen zu seinem Kriegskameraden und seiner Familie nach Klingenthal geschickt und mit im Mantel eingenähten D-Mark-Scheinen seinen Freund dort besucht hat. Für ihn wäre dieser Tag ein Fest gewesen.

Also ich hatte keine Erinnerung an diesen Tag, aber ich war neugierig. Und so fuhr ich am 10.11.2019 nach Potsdam zur Glienicker Brücke, Schauplatz während des Kalten Krieges. Über diese Brücke tauschten die USA und die Sowjetunion Spione und Agenten aus, sie wurde am 10.11.1989 geöffnet.

Ich wollte mal nachprüfen, wie es mir an diesem aufgeladenen Tag an diesem Ort so geht. Was immer auch geschieht, es ist das einzige, was geschehen kann. Und Bier- und Currybuden gab’s ja auch. Die Stadt hatte eine große Veranstaltung geplant. Die Brücke war weiträumig für den Autoverkehr gesperrt, angestrahlt, Videoprojektionen des Agentenaustausches zwischen Ost und West, Bier- und Sektbuden, Diskussionsrunden, Tafeln mit Erläuterungen zur Geschichte der Brücke im Kalten Krieg. 

Also: dem Zufall und der Inspiration eine Chance geben und so machte ich mich mit der Kamera auf den Weg, in der Hoffnung Resonanzen zu erzeugen.   

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20. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Die deutsche Vereinigung und ich: Szenen zwischen 1973 und 2018

Jochen Schweitzer, Heidelberg:

Als westdeutsches „Zonengrenzkind“, geboren in Göttingen , aus Bebra stammend und dort oft bei meinen Großeltern zu Besuch,  war für mich „Drüben“ immer hochinteressant. Aber es war  bis zu meinem 35. Lebensjahr praktisch unbekannter als die USA oder Frankreich. Ich schildere einige wenige mir zentrale Erinnerungen. Meine Haltung wird daraus deutlich werden: klasse, dass dieses Land wieder vereint wurde! Schade und tragisch, dass dies in Form eines einseitigen „Anschlusses“ geschah, der das (Volks-)Vermögen der Menschen im Osten ihnen enteignet und viele ihrer Kompetenzen vorübergehend wertlos gemacht hat. Die aktuellen Probleme des in Ostdeutschland noch umfangreicher als im Westen verbreiterten Rechtsradikalismus erkläre ich mir zu wesentlichen Teilen auch damit, was nach 1989 geschah. 

Irgendwann 1973: Willy Brandt und Willy Stoph oder ihre Unterhändler haben einen innerdeutschen „kleinen Grenzverkehr“ ausgehandelt. Westdeutsche im 30 km Abstand von der Grenze dürfen in den 5-30 km-Bereich auf der ostdeutschen Seite für 24 Stunden reisen, wenn Sie 25 Mark zum Verhältnis 1.1 („Staatswucher“) umtauschen und dort lassen . Mit meinem Vater fahren ich von Bebra nach Eisenach und Mühlhausen, bin tief beeindruckt von der Wartburg, den miserablen Straßen, dem preisgünstigen Mittagessen, unseren freundlichen älteren Verwandten drüben. 

November 1989: Mit noch recht frischem  Baby sitzen wir zuhause am Fernsehen und betrachten darin mit offenen Augen die Ströme von Menschen, die hauptsächlich von Ost nach West, aber auch von West nach Ost fahren. Jeden Abend rufen meine Eltern an, und berichten, wo sie jetzt gerade wieder angekommen sind („Bad Salzungen, Friedrichsroda, Erfurt, Dresden…“). Wir hören es voller freundlichem Neid. Wir sind nicht dabei.

März 1990: Wir haben einen VW-Campingbus gemietet und fahren eine Woche durch Thüringen. Auf dem Marktplatz von Jena, nahe der Bananen- und Wurstwagen aus dem Ruhrgebiet, fragt uns eine freundliche alte Frau, ob das unsere beiden Kinder wären und ob wir aus dem Westen kämen – die beiden sähen so gesund aus. Die Braunkohleschwaden aus Heizungen und Trabis hängen in der Luft, wir können die Kontexte ihres Kommentars erahnen. Am Abend stehen wir mit dem Campingbus in einem Wald zwischen Jena und Weimar und bekommen Angst, als wir in der Nähe sowjetische Truppen im Gelände beobachten. Die tun uns aber nichts.  Am nächsten Morgen in Weimar staune ich, dass Männer im Blaumann morgens um 10 Uhr ihre Arbeit für 30 Minuten und mehr verlassen (können, dürfen, müssen?), um in einer Bäckerei  für die dort angekündigten frischen Brötchen sich in die Schlange zu stellen.

März bis Oktober 1990: Nach den Volkskammerwahlen im Frühjahr wird klar, dass die DDR sich als „Beitrittsgebiet“ der BRD anschließen wird.  In meinem Umfeld löst das Bedauern bis Entsetzen aus. Wir hatten gehofft, es werde „das Beste aus beiden Systemen“ für den gemeinsamen Staat übernommen werden.  Als in den gesamtdeutschen Wahlen Oskar Lafontaine, Warner  vor der sofortigen Einführung der D-Mark im Osten, weil diese die Ost-Wirtschaft sofort konkurrenzunfähig machen werde,  gegen Helmut Kohl verliert und als Bündnis 90/ die Grünen ins gesamtdeutsche Parlament gar nicht hineinkommen, ahnen wir den totalen „Endsieg“ eines nun entfesselten Kapitalismus kommen. Die Frankfurter Rundschau sagt voraus, Ostdeutschland werde sich nie davon erholen, dass nun alles Kapital und  die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel dauerhaft im Westen sitze.

1992 bis 1996: Der Nordosten ist in dieser Phase unser spannendstes, weil unbekanntestes Reiseziel –  wir verbringen nun immer abwechselnd einen Sommerurlaub im Südwesten (Frankreich, Italien) und einen im Nordosten (Mecklenburg, Kaschubyen) –  letztere meist auf ehemaligen Betriebscampingplätzen mit Betriebskantinen und Sperrholz-Ostgeruch, aber an herrlichen Seenplatten mit viel Kanufahren.

Herbst 1999: Ich bin nun ein „Wiedervereinigungs-Gewinner“ geworden, mit Ruf auf eine Professur für Sozialmanagement in Jena. Ich erprobe das ein halbes Jahr und sage dann schweren Herzens ab, obwohl ich die Stadt Jena schön finde, Kollegium und Studierende mich total freundlich auf nehmen und ich dort sogar kurzfristig Freunde finde – gleichalte, arbeitslos gewordene  Akademiker, die mich am Ende meiner Zeit zum Hirschbraten und ins Volksbad einladen. Aber das Pendeln bekommt meinem Familienleben nicht, ein Familienumzug erscheint mir zu riskant und die materiellen Arbeitsbedingungen sind ungünstiger als ohne Professur in Heidelberg. 

Frühjahr 2018: ich bin von sächsischen Regionalgruppen der DGSF zu einem Fachtag in Chemnitz eingeladen worden, der sich mit Demokratie, Rechtsradikalismus und Flüchtlingsintegration beschäftigt. Immer noch: Alle planmäßigen Referenten sind Wessis, glücklicherweise fällt einer von denen aus und wird durch zwei hochkompetente Ossis ersetzt. Aus meinem Vortrag scheint der Abschnitt „die Ostdeutschen als Avantgarde“ (Zitat eines Buchtitels von Wolfgang Englert) auf das stärkste Interesse zu stoßen: weil die Ostdeutschen Anfang der 1990er Jahre schon einmal das komplette Ende einer „Arbeitsgesellschaft“ erlebt und sich daran angepasst haben, sind sie auf eine künftige Gesellschaft besser vorbereitet.

19. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Assoziationen zum Fall der Mauer am 9. November 1989

Peter Müssen, Köln:

1. Assoziation: Goethe vs. Trump

Am 9. November in diesem Jahr las ich morgens auf ZEIT-ONLINE in einem Bericht über  Donald Trumps Glückwünsche an die Deutschen:

„Trump zitiert Goethe („Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“) und warnt, dass es immer noch tyrannische Regime gebe, die für Unterdrückung und Totalitarismus nach sowjetischem Vorbild stünden. Die USA setzten sich dagegen für Freiheit ein, die Frieden und Wohlstand gewährleiste. 

Ein Geschenk der Initiative Offene Gesellschaft, das für eine Welt ohne Mauern stehen soll, wollte Trump allerdings nicht annehmen. Der Verein wollte dem US-Präsident ein 2,7 Tonnen schweres Stück der Berliner Mauer überreichen. Das Weiße Haus habe jedoch die Annahme verweigert.“

Dass Trump das Geschenk der ‚Initiative Offene Gesellschaft‘ nicht angenommen hat, passt zu ihm, denn er plant ja gerade selbst den Bau einer Mauer, die Menschen fern halten soll.

Zudem hat Trump oder sein*e Redenschreiber*in vermutlich nicht wirklich in Goethes Faust (Faust 2, V) gelesen, denn das Zitat stammt aus einer Szene, in der der 100-jährige, blinde Faust das Ziel hat, durch den Bau eines Deiches dem Meer Land für Besitzlose abzuringen.

Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
nicht sicher zwar doch tätig-frei zu wohnen.

Faust will altersweise seine Möglichkeiten für Bedürftige einsetzen, um so vor sich selbst und der Nachwelt bestehen zu können:

Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!

Es lohnt sich, zum Thema ‚Überwindung der Mauer‘ (sie ist ja nicht einfach nur so ‚gefallen‘!) auf Goethes Spuren zu bleiben:

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18. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – In Verantwortung gehen für die Vergangenheit

Andreas Wahlster, Lampertheim:

Einmal war ich in der richtigen DDR, 1974 auf der Abiturfahrt. Wir waren neunzehn, zwanzig Jahre alt, wollten irgendwie cool wirken, hatten aber beim erstmaligen Passieren der Grenze bei Hof ziemlich die Hosen voll, als zwei DDR-Grenzbeamte mit leicht mürrischem Blick unsere Pässe kontrollierten. Beim Wiedereintritt in die Bundesrepublik nach West-Berlin änderte sich die Stimmung und wir blieben die ganze Woche über bis auf einen Alibiausflug in das Pergamon-Museum im sicheren, weil bekannten Westen der Stadt. Mein damaliges Wissen über den „Osten“ bestand aus Informationen der westlichen Medien und von Verwandtenberichten, die noch im Osten wohnten.

Dachte ich daran, hatte ich meist ein dumpfes Empfinden von Dunkelheit. Meine Großeltern mütterlicherseits stammen aus Pommern, sie mussten nach dem Krieg die sowjetische Zone schnell verlassen, da mein Großvater Offizier in beiden Weltkriegen war, somit als Nazi galt. Meine Großmutter beklagte den Verlust ihrer Heimat sehr und schimpfte auf den „Scheißkrieg“, untermauert von einem pietistisch getränkten Antikommunismus und heimlicher Sympathie für den „alten Wilhelm“. Es sollte sich noch herausstellen, dass Vorfahren aktiv am Genozid in Namibia, vormals fast zärtlich anmutend „Südwest“ genannt, beteiligt waren. An Weihnachten wurde eine Kerze ins Fenster gestellt, um die Verbundenheit mit den Landsleuten im Osten zu dokumentieren. Der Mauerfall wurde in unserer Familie begrüßt, aber nicht gefeiert, eher war es ein Gefühl der Erleichterung.

Bei aller Neugier, meine Beklemmung gegenüber dem Osten blieb. 2004 fuhr ich erstmals zusammen mit meinem Kollegen Jerzy Jakubowski nach Poznan zu einem Seminar, das ich dort hielt. Trotz sehr freundlicher Begrüßung durch die polnischen Kolleg*innen fühlte ich mich als Deutscher fremd, einhergehend mit einem diffusen Schuldgefühl. Und nach Jahren geschah das: Ein Teilnehmer eines Seminars in Poznan gab mir am Ende eine Rückmeldung, die mir die Tränen in die Augen trieb. Er sagte, er habe zum ersten Mal eine deutsche Männerstimme gehört, die freundlich und sympathisch klang. Er habe bisher deutsche Stimmen nur aus Kriegsfilmen gekannt, als sie Befehle aussprachen oder in Uniform eine Frau küssten. Wir kamen danach noch ins Gespräch und er erzählte, dass zwei Mitglieder seiner Familie von der SS ermordet worden waren. Ich habe sowohl meine Verbindung zur Heimat meiner Mutter gespürt als auch das Trennende als Kind einer Nation, die barbarische Verbrechen begangen hat.

Was ich hier erzähle, mag fragmentarisch erscheinen, für mich hingegen gibt es viele Zusammenhänge, sie lassen sich zusammenfassen in Verbundenheit und Zugehörigkeit, Trennendes und letztlich die Zustimmung zur Tatsache, dass es so war, wie es war. Das kann uns idealtypisch bemächtigen, verantwortlich zu handeln und neugierig interessiert zu bleiben für die Geschichten Anderer.

17. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – 30 Jahre sind schon ne Hausnummer

Katrin Bärhold, Heikendorf:

Hm, 30 Jahre sind schon ne Hausnummer dachte ich als erstes

Damals war ich in Berlin und wohnte direkt an der Mauer. Oderberger Strasse – direkt an den Wedding geklebt im Osten. Nachts 2 Uhr hatte mein alter Freund Harry an die Tür gewummert, um mir nach sehr kräftigem „Öffnen“ derselben mitzuteilen, dass er ein Bier hatte. Er war/ist Tischler und hat sie wieder repariert. 
Noch bevor ich Augenrollend denken konnte, dass er das immer tue – das mit dem Bier – antwortete er mit glänzendem Ganzkörper – „auf‘m Kudamm“. Seine einzige Angst damals war, dass sie ihn nicht wieder „reinlassen“. Ich hatte die Wende verschlafen und bewunderte das riesen Loch in der Mauer am nächsten Tag. Da wollte ich nicht durch … nee – wie geht das – nach Westberlin gehen in die Bernauer Strasse … erst 2 Tage später – in der Invalidenstrasse wagte ich das. Befremdlich. Beschämend. Was tue ich hier … obwohl ich demonstriert hatte damals für mehr Freiheit, fühlte sich das nur wie das nächste System an. Unfrei. Laaangweilig. Aufregend?

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16. Dezember 2019
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – Der Fuchs ist schlau …

Johannes Herwig-Lempp, Halle/Merseburg:

Für mich ist die Wende eines der großartigsten Ereignisse, die in meinem Leben passiert sind: Der Fall der Mauer wurde durch die Einsatzbereitschaft, die Ausdauer und vor allem auch den Mut zehntausender demonstrierender Menschen bewirkt, die diese durchschlagende Wirkung so gar nicht unbedingt beabsichtigt oder erwartet hatten. Sie wollten eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und lehnten sich gewaltlos gegen ein System auf, obwohl dies übermächtig und eigentlich unbeeinflussbar schien. Auch im Rest der Welt hätte man sich noch wenige Monate vorher eine solche Wende nicht vorstellen können. Für mich war und ist das ein eindrückliches Lehrstück dafür, dass Menschen unvorstellbare Veränderungen bewirken können und dass es sich lohnen kann, sich auch dann zu engagieren und einzusetzen, wenn es eigentlich aussichtslos erscheint.

Als ich 1998 an die Hochschule Merseburg kam, war ich neugierig darauf, noch ein bisschen was von der Nach-Wende-Zeit mitzubekommen. Natürlich war ich ein Wende-Gewinner – ich hatte Glück und konnte eine Professur erhalten, für die es damals keine geeigneten ostdeutschen KandidatInnen gab, weil in der DDR keine SozialarbeiterInnen ausgebildet worden waren. So kamen nur Westdeutsche für diese Stelle in Frage.

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