systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

11. April 2009
von Wolfgang Loth
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Synergie-Effekte: Individueller und kollektiver Nutzen von Empowerment-Gruppen

Im Bereich psychosozialer Hilfen scheint es gelegentlich Irritationen zu geben über das Verhältnis von individuellem und kollektivem Nutzen von Hilfen. In ihrem Aufsatz Toward Validating the Therapeutic Benefits of Empowerment-Oriented Social Action Groups schreibt Linda Plitt Donaldson (Foto: www.ncsss.cua.edu/), Assistenzprofessorin an der Catholic University of America in Washington, DC , dass sich KlinikerInnen manchmal schwer damit tun, Sozialdienste ins Spiel zu bringen, die im größeren Rahmen zur Veränderung beitragen könnten, während umgekehrt manche „Makro-PratikerInnen“ sich hilflos dabei fühlten, wenn sie im Einzelkontakt therapeutische Hilfen anbieten sollten [In: Social Works with Groups 27(2/3), 2004, S.159-175]. Die Autorin untersuchte in diesem Zusammenhang Empowerment-orientierte Gruppenarbeit als eine Hilfeform, die sowohl individuellen Bedürfnissen wie den Möglichkeiten eines systemischen Wandels zugute kommen könne. Die Autorin liefert einen gut recherchierten Überblick, bezieht sich auf Selbstwirksamkeitstheorien sowie Yaloms kurative Faktoren. In ihrem Resümee konstatiert sie, dass es trotz eines ausgeprägten Plausibilitätsvorsprungs der geschilderten Hypothesen noch an empirischer Unterstützung mangele. Dies müsse noch geleistet werden. Wichtig sei, dass die Gruppenarbeit Selbstwirksamkeitsfortschritte nicht als natürliches Beiprodukt betrachte, sondern die Entwicklung von Selbstwirksamkeitserfahrungen aktiv unterstütze.
Zur Publikation von Linda P. Donaldson geht es hier …

10. April 2009
von Tom Levold
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Schulen der Körperlosigkeit

Auf der website des Netzwerk „Archivs der Zukunft“, das einen unterstützenswerten Kampf für eine neue Schule führt, findet sich ein sehr schöner Vortragstext von Horst Rumpf (Foto: www.adz-netzwerk.de), der zwar die Bemühungen der heutigen Didaktik anerkennt, Kindern und Jugendlichen Wissen durch möglichst ausgefeilten Technikeinsatz näher zu bringen, macht aber gleichzeitig auch deutlich, dass Lernen eben nicht nur in der Aufnahme von symbolischen Artefakten bestehen kann und soll, sondern ein Lernen sein sollte, „das Bruchlinien der Erfahrung freilegt, aushält – und das nicht darauf aus ist mit etwas fertig zu werden, es hinter sich zu bringen – das im Gegenteil darauf aus ist, es VOR sich zu bringen. Und dieses Lernen hat es zweifellos mit der körperlichen Nähe und Berührbarkeit zu tun (…) Unsre verwissenschaftlichte Zivilisation zielt (…) in vielen Bereichen darauf ab, alle erdenklichen Sinnenerfahrungen auf optisch ablesbare Zeigerausschläge zu reduzieren – ob es das Wetter, der Blutdruck, die Laufbewegung, die Entfernung , das Gewicht, das Tempo, die Wärme, die Luftfeuchtigkeit, die Helle oder Dunkelheit ist –  alle sinnlichen Widerfahrnisse werden dadurch verfügbar, berechenbar gemacht, und auf Distanz gebracht, dass sie auf messbare Zeigerausschläge bezogen, wenn nicht reduziert werden. Die rätselhaften Sinnlichkeiten werden  in sichtbare und zählbare Bewegungen verwandelt, die Welt wird zur Inkarnation von Zahlenwerken, der Körper zur Prothese des Sehsinns, der wiederum wird zum Zahlenableseapparat von Zeigerausschlägen reduziert. Alle körpergetragenen Erfahrungen, in denen Menschen erwischt werden von überwältigenden Berührungen, Bewegungen, Hörbarkeiten, Empfindungen – alles also wobei sie auch ausgeliefert sind an nicht beherrschbare Wirklichkeitsstösse, die an den Körper rühren – alles das hat im Leitbild moderner Naturwissenschaftlichkeit keinen Erkenntniswert. Und konsequenterweise kommt es im Leitbild eines Unterrichts nicht vor, dessen Lernvorstellung ferngesteuert ist von dem Paradigma dieser Erkenntnis: Fragen liegen fest, Antworten liegen fest – was eine Lernleistung ist, wird festgelegt und ist feststellbar, vergleichbar, messbar, testbar,d. h. aber zu Zahlen geronnen.
Zum Volltext des Vortrages geht es hier…

9. April 2009
von Wolfgang Loth
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Die Krise, die Gelegenheit, das Vertrauen

Zur Krise an sich kann man im Grunde – im Unterschied zur Katastrophe – gratulieren, steht sie doch nicht für das Hoffnungslose, sondern für die Wende zum Besseren. Jedenfalls für die altgriechischen Wortschöpfer. Und so heißt es denn auch, man solle das Eisen schmieden, wenn es heiß sei. Im übertragenen Sinne wüsste man dann allerdings schon gerne, ob man dabei das Eisen, das Feuer oder der Schmied ist. Es käme dann schon noch drauf an. Das sagt sich ja so leicht, dass im Chinesischen für „Krise“ und „Chance“ die gleichen Schriftzeichen verwendet werden. Das stimmt – zum Teil. Was stimmt, ist, dass in beiden das Schriftzeichen für „Gelegenheit“ enthalten ist. Und ob das Walten des Schmieds dazu führt, bei Gelegenheit sein Glück zu schmieden, hinge dann doch mit einigem und einigen Anderen zusammen. Zu den chinesischen Schriftzeichen gäbe es übrigens eine kleine Information. Zu dem Anderen, das dabei eine Rolle spielte, gehört wohl auch Vertrauen. Wohl auch ein ausreichend sicheres Gespür dafür, ob die Gelegenheit das Vertrauen rechtfertigt. Im Hinblick auf das aktuelle Wirtschaftsdebakel, das ja auch gerne als eine Art Vertrauenskrise beschrieben wird, dürfte vielleicht noch fraglich sein, ob das schon Krise genannt werden kann, Ausdruck eines Wendens zu womöglich Besserem. Da wüsste man noch nichts Genaues davon. Im Hinblick auf Psychotherapien wäre es schon eher möglich, sie mit Krise im Ursprungssinn in Verbindung zu bringen. Die Hoffnung auf Besseres dürfte jedenfalls damit verbunden sein. Daher könnte es nicht schaden, von einer Dissertation zu erfahren, die Martina Hewig 2008 an der Uni Trier vorgelegt hat mit dem Titel: Generalisierte und spezielle Vertrauensaspekte in der Psychotherapie. Es handelt sich um eine „empirische Studie zur prognostischen Bedeutung der Vertrauens-Trias für das Ergebnis stationärer Psychotherapie“. Die angesprochene Trias bezieht sich auf interpersonales Vertrauen, auf Selbstvertrauen und auf Zukunftsvertrauen, drei Variablen, die Günter Krampen zum Trias-Modell des Vertrauens verdichtet hat. Die vorliegende Dissertation bringt, wie es Dissertationen üblicherweise auszeichnet, viele grundsolide sortierte Fakten zusammen, und es mag ihr nachgesehen werden, dass sie nicht in erster Linie zur leichten Lektüre geschrieben wurde. Doch gibt es viele interessante Querverbindungen, Anstöße und Anregungen, unter anderem auch zum Thema „Therapeutische Beziehung als Wirkfaktor“, „Vertrauen als Bestandteil der therapeutischen Beziehung“, oder „Bindung in der therapeutischen Beziehung“. Der empirische Teil bringt Hinweise auf „bedeutsame Varianzaufklärung durch die bereichsspezifischen Vertrauensskalen“. Es mag nicht verwundern, dass das „bereichsspezifische Zukunftsvertrauen (…) dabei den varianzstärksten Prädiktor für den Therapieerfolg“ darstellte. Man muss sich schon vorstellen können, dass der Boden trägt, auf den man sich zum Besseren bewegen will.
Zur Dissertation von Hewig geht es hier…

9. April 2009
von Tom Levold
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Die metaphorische Konstruktion von Geschlecht

In einem äußerst interessanten Aufsatz, der soeben in der neuen Ausgabe des Forums qualitative Sozialforschung erschienen ist, befasst sich der Metaphernforscher Rudolf Schmitt, Professor an der Hochschule für Sozialwesen in Zittau, mit der metaphorischen Konstruktion von Geschlecht. Seine Arbeit rezipiert die vorhandenen Studien, stellt zentrale Begriffe der kognitiven Metapherntheorie vor und versucht eine Revision derselben, welche dazu beitragen könnte, Metaphernanalysen der Konstruktion von Geschlecht theoretisch und forschungsmethodisch weiter zu entwickeln, wie es im abstract heißt. Dabei kritisiert er das mangelnde Verständnis der kognitiven Metapherntheorie für die „geschlechtsblinde und geschichtsvergessene“ Konzeption von Metaphern bei Lakoff und Johnson, die „von einer allgemein-menschlichen Körpererfahrung als Ausgangspunkt metaphorischen Denkens“ ausgingen. Andererseits seien viele Forschungsarbeiten von einer Tendenz gekennzeichnet, „nicht nur Unterschiede zu beschreiben, sondern sie auch herzustellen, wo sie nicht sind, sie durch eine Fokussierung zu übertreiben oder die gefundenen Differenzen durch wissenschaftliche Beschreibung nur zu verdoppeln, statt diese auch als hergestellte auszuweisen. Diese Formen beschreiben die alltäglich übliche, in der Forschung jedoch als methodischer Fehler zu diskutierende Praxis des doing gender“. Damit ist auch das Risiko verbunden, „Unterschiede über das vorhandene Maß hinaus zu betonen, Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern auszublenden sowie Überschreitungen von Geschlechtsstereotypen zu übersehen“.
Zum vollständigen Text geht es hier…

9. April 2009
von Tom Levold
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WLAN und Nordsee

So ist das, wenn man in Urlaub fährt und das versprochene WLAN in der Ferienwohnung nicht zuverlässig funktioniert. Dann klappt es auch mit dem systemagazin nicht, das nämlich wegen der benutzten software überwiegend online bearbeitet wird. Das macht den Urlaub nicht schlechter. Dennoch wird es an dieser Stelle bis Montag keine Texte, kein Zeitschriftenarchiv und keine Bibliothek geben, dafür allerdings, das müsste sich machen lassen, Lesetipps wie gewohnt.  Ich bitte um Nachsicht 🙂

5. April 2009
von Wolfgang Loth
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Lassen sich persönliches Wohlbefinden und achtsamer Umgang mit der Umwelt vereinbaren?

So lange ein umwelt-sensibles und ökologisch verantwortliches Verhalten eher mit Verzichtserleben und Selbstquälerei in Verbindung gebracht wird, dürfte es eine ziemlich harte Nuss bleiben, hier zu einem tragfähigen commitment zu kommen. Einerseits sind Sorgen um den Zustand unserer „Welt“ (des Klimas, der Meereserwärmung, der Eisbären,…) mittlerweile en vogue – wenn auch zur Zeit finanztechnisch vernebelt -, doch mag auch kaum jemand„zurück zur Natur“, wenn die Natur es uns nicht gemütlich genug macht. Kirk Warren Brown (Foto links) (von der kanadischen McGill Universität) und Tim Kasser (Foto rechts (vom Knox College in Galesburg, Illinois) haben dazu im Jahr 2005 eine Untersuchung veröffentlicht („Are Psychological and Ecological Well-Being Compatible? The Role of Values, Mindfulness, and Lifestyle„, Social Indicators Research 74: 349-368).
Es ging ihnen um die Frage, ob es möglich sei, so zu leben, dass man sowohl das persönliche als auch das„planetarische“ Wohlergehen fördere. Als Ergebnis ihrer Studie halten sie fest, dass persönliches Wohlbefinden und ökologisch verantwortliches Verhalten als komplementär angesehen werden können. Glücklichere Menschen lebten umweltverträglicher – wenigstens die, die an dieser Untersuchung teilnahmen. Die Autoren identifizierten zwei Faktoren, die das ermöglichten: eine intrinsische Wertorientierung und Achtsamkeit. Zusammengefasst:„Die Ergebnisse dieser Studie nähren die Hoffnung, dass eine wechselseitig vorteilhafte Beziehung besteht zwischen persönlichem und planetarischem Wohlbefinden, besonders dann, wenn unterstützende Faktoren wie Achtsamkeit und intrinsische Werte kultiviert werden können“. Zur Studie von Brown und Kasser geht es hier …

3. April 2009
von Tom Levold
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Family Process 1/09

Auf unterschiedliche Weise fokussieren verschiede Beiträge im neuen Heft der Family Process auf das Thema Paarbeziehungen. Im Mittelpunkt stehen drei Beiträge einer Forschergruppe um Carmen Knudson Martin, die sich die vergleichende qualitative Untersuchung von gender- und Machtaspekten in Beziehungen von Immigranten-Paaren, afroamerikanischen Paaren der Mittelklasse sowie Iranischen Paaren vorgenommen haben (by the way: erschütternd, wie wenig diese interkulturellen Fragestellungen in unseren heimischen Diskursen immer noch verbreitet sind), ergänzt um noch zwei weitere Arbeiten zur Familiendynamik haitianischer und portugiesischer Immigrantenfamilien. Die Arbeit mit gemeinsamen Beziehungs-Zeichnungen (Relational Drawings) in der Paartherapie stellt Peter Rober vor. Ein weiterer Artikel behandelt die affektive Synchronisierung in„Dual- and Single-Smoker Couples“. Schließlich sei noch ein Beitrag zum Thema kultureller, genderbezogener und sozioökonomischer Kontexte in der therapeutischen und sozialpolitischen Arbeit von Charles Waldegrave erwähnt. Die abstracts dieser und anderer Artikel finden Sie hier! Darüber hinaus ist jetzt auch der Jahrgang 2001 der Family Process im Zeitschriftenarchiv vollständig erfasst.

2. April 2009
von Tom Levold
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Systemische Therapie in Deutschland – Rückblick und Bestandaufnahme

Unter diesem Titel hielt Kurt Ludewig im November 1998 einen Festvortrag bei der Jubiläumstagung„15 Jahre BIF – Berliner Institut für Familientherapie“ Das Institut ist nun schon 25 Jahre alt und unser Geschichte wird auch immer länger – kein Grund, nicht immer wieder mal einen Blick darauf zu werfen und sich die verschiedenen Entwicklungsstränge mal wieder vor Augen zu führen – gerade angesichts der momentanen berufs- und weiterbildungspolitischen Situation. Der Vortrag ist auch online zu lesen,
zum Volltext geht es hier…

1. April 2009
von Tom Levold
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Was wird aus Mehdorn?

Die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, hat Hartmut Mehdorn nach seinem Rücktritt vom Vorstand der Deutschen Bahn die Zuständigkeiten für Vertrieb, Vortrieb und Antrieb im Vorstand ihres Verbandes angeboten.„Als Dauervertriebene wusste ich auch schon vor meiner Vertreibung von dem mir bestimmten Platz im Stiftungsrat ‚Flucht, Vertreibung, Versöhnung‘ , was es heißt, sich nicht an seinem angestammten Platz aufhalten zu können. Die Zahl der Vertreibungen von Leistungsträgern aus ihrem Ämtern nimmt gegenwärtig in erschreckendem Maße zu. Gegen diese forgesetzten Menschenrechtsverletzungen müssen wir uns entschieden zur Wehr setzen“. Zwar gilt Mehdorn als generell an Vertriebsfragen interessiert, bislang ist aber noch unklar, ob er das Angebot annehmen wird oder nicht. Unbestätigten Berichten zufolge soll Mehdorn auch als neuer Chef der Kölner  Verkehrsbetriebe KVB im Gespräch sein, um den Weiterbau der U-Bahn voranzutreiben und die KVB durch ein neues und komplexes Tarifsystem, überzeugende Mitarbeiter-Screenings und Stillegung unrentabler Bahnverbindungen mit dem Ziel eines baldigen Börsenganges zu sanieren.

31. März 2009
von Tom Levold
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„Unterrichtest Du noch Fächer oder schon Schüler?“

Rolf Balgo, Professor für Heilpädagogik an der Fachhochschule Hannover und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für systemische Pädagogik, hat für systemagazin das Buch„Integration. Inklusive Konzepte für Schule und Unterricht“ der Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin Sabine Knauer rezensiert, das im vergangenen Jahr im Beltz-Verlag erschienen ist. Sein Eindruck:„Insgesamt betrachtet ist das Buch von Sabine Knauer aus meiner Sicht ein höchst reflexives Unternehmen, das nicht durch Trivialisierung auf endgültige und eindeutige Antworten oder auf eine Lösung aller Probleme angelegt ist, sondern das ehrlich, engagiert, kompetent und fundiert eine größtmögliche Vielfalt an Optionalitäten aufzuzeigen versucht. Dabei wird den Lesern ein anderer Blick durch die systemische Brille der Verfasserin ermöglicht, den sie folgendermaßen begründet: „Die systemüberwindende, synergetische Perspektive der Integrationspädagogik“ macht einen unablässigen Wechsel der Beobachtungsstandpunkte erforderlich, die ihrerseits eine stets neue Selbstverortung und kritische Selbstüberprüfung erfordern. Dieses Springen zwischen Standorten zieht notwendig ein fortwährendes selbstreferenzielles Sich-in-Beziehung-Setzen des Systems Integrationspädagogik sowie der sie vertretenden Personen zu den postulierten ethischen Werten nach sich; die damit verbundenen wellenförmigen Bewegungen der Destabilisierung und erneuten Ausbalancierung machen eine sensible Selbstwahrnehmung und eine Selbstthematisierung – vor allem in Hinblick auf grundlegende motivationale Beweggründe – unverzichtbar.“
Zur vollständigen Rezension…

30. März 2009
von Tom Levold
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Folter und Systemtheorie

Wer sich auf den Stand der aktuellen systemtheoretischen Debatten bringen wil, muss„Soziale Systeme“ lesen! Nachdem die Zeitschrift für eine Weile ins Trudeln geraten war, weil keine Hefte mehr erschienen, haben es die Herausgeber mit einem publizistischen Kraftakt geschafft, nun auch einen vollständigen Jahrgang 2008 zu kommen. Und was für ein Jahrgang! Das Heft 1 (Heft zwei wird demnächst hier vorgestellt) befasst sich mit der heiklen Frage Niklas Luhmanns, ob es in unserer Gesellschaft überhaupt noch unverzichtbare Normen gebe und geben könne. Eine zentrale Frage angesichts der Herausforderung, vor die die Gesellschaft im 21. Jahrhundert angesichts unüberschaubarer Bedrohungen gestellt ist. Auf einer Metaebene läuft dabei aber auch die Frage mit, welche Werkzeuge und Perspektiven die Systemtheorie in der Beobachtung und Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stellt und inwieweit sie dabei selber zum Problem wird. Die Positionen in diesem von William Rasch als Herausgeber verantworteten Heft, das zwei ins Englische übersetzte Arbeiten Luhmanns enthält (deren eine auch online zu lesen ist), gehen dabei in unterschiedliche Richtungen. So stellt beispielsweise Chris Thornhill fest:„In der modernen Gesellschaft hängt also die normative Funktion der Normen davon ab, dass sie durch ihr Schweigen die Differenzierung der Gesellschaft befördern und die eventuelle Konzentration der Gesellschaft auf normative oder politisch umstrittene Kontroversen verhindern. Luhmanns Frage, ob es unverzichtbare Werte gebe, kann also nicht entschieden und eigentlich gar nicht sinnvoll gestellt werden. Sie schreibt der Gesellschaft eine politisch zentrierte oder sogar exzeptionelle Gestalt zu, die sie tatsächlich nicht mehr annehmen kann“ Theorie kann in diesem Kontext nur noch beschreiben, was passiert, aber nicht mehr Stellung nehmen. Costas Douzinas hält dagegen:„Die (falsche) asketische Verpflichtung allein zur Beschreibung, verbunden mit der Akzeptanz der bestehenden Gesellschaftsordnung, macht die Systemtheorie zu einem wertlosen Werkzeug in einem Prozess der Verbesserung der Gesellschaft.„ Und Niels Werber geht noch weiter, indem er postuliert,„dass Luhmanns Plädoyer für ein „prinzipienloses Manövrieren“ im Falle von Ausnahmefällen die Systemtheorie erstaunlich nahe an amoralische Theorien heranrückt, wie sie in den USA besonders seit „9-11“ Konjunktur haben“. Die Aufsätze sind sämtlich in englischer Sprache verfasst,„um die anglophone Welt zu ermutigen, sich mit Niklas Luhmanns Markenzeichen der Systemtheorie auseinanderzusetzen“, wie Rasch in der Einleitung schreibt. Ein edles Unterfangen, was leider die Wahrnehmung dieser Texte in der deutschsprachigen Leserschaft wahrscheinlich schwächen wird. Immerhin gibt es zu allen Beiträgen auch deutsche Zusammenfassungen, die hoffentlich Lust auf die überaus spannende Lektüre machen.
zu den vollständigen abstracts…

29. März 2009
von Tom Levold
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Mehdorn, übernehmen Sie!

Mehdorn!
Natürlich haben wir Verständnis dafür, dass Sie jetzt jede Menge um die Ohren haben und meinen, sich nicht auch noch um Ihr Unternehmen kümmern zu können. Dennoch muss die Frage erlaubt sein: Was ist eigentlich mit Ihrer Bahn los? Schon zweimal in den vergangenen vier Wochen mussten wir die schlimme Erfahrung machen, dass der Zug nicht nur pünktlich in Köln abfuhr, sondern auch alle Anschlussverbindungen funktionierten, so dass einer pünktlichen Ankunft nichts mehr im Wege stand. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Noch schlimmer: es gab weder Doppelreservierungen noch fehlten die Wagen, für welche die Fahrgäste ihre Platzreservierungen vorgenommen hatten. Irre! Um dem ganzen die Krone aufzusetzen: keine schönen und poetischen Ansagen („wie wisch juh e pliesnt dschurneeh“) mehr, nur noch unangenehm korrekte Durchsagen in langweiligstem Schulenglisch.
Ja sind Sie denn wahnsinnig? Wollen Sie den Ruf Ihres Unternehmens vollständig ruinieren? Da haben Sie jahrelang erfolgreich alle Kraft daran gesetzt, Ihre Firma (mit großem Abstand zu allen Konkurrenten) zur unangefochtenen Number One der unbeliebtesten Unternehmen zu machen – und dann gefährden Sie Ihren Spitzenplatz mit solchen Kinkerlitzchen? Da helfen leider auch solche Spielchen wie das spontane Vertauschen der Waggon-Reihenfolge und die kurzfristige Änderung der Bahnsteige nur wenig. Denn das traurige Ergebnis bleibt: der vollständige Zusammenbruch der Kommunikation im sozialen System ICE. Worüber soll man reden, wenn die Züge pünktlich sind? Worüber soll man lachen, wenn jeder seinen reservierten Platz auch tatsächlich einnehmen kann? Wie soll man Partner fürs Leben (oder für zwei Stunden) kennenlernen, wenn alles halbwegs klappt? Wer soll Gemeinschaft stiften, wenn die Bahn sich ihrer Integrationsfunktion verweigert? Worüber soll man sich ärgern, worüber weinen?
Na also. Machen Sie endlich etwas! Hören Sie auf, die Telefonate und e-Mails Ihrer Mitarbeiter auszuspionieren! Hacken Sie lieber die Handys und Laptops Ihrer Kunden während der Fahrt! Installieren Sie Ihre Trojaner als Bildschirmschoner auf die Displays Ihrer Fahrgäste! Sorgen Sie verdammt nochmal dafür, dass Sie Nummer Eins der bad firms bleiben, die Konkurrenz schläft nicht. Und die Kreditinstitute sind Ihnen längst auf den Fersen!
Mehdorn, übernehmen Sie! Diese Nachricht vernichtet sich nach 30 Sekunden selbst.