Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin, liebe Bildlieferanten für den diesjährigen Adventskalender,
ich danke ganz herzlich für die Einsendungen zum Kalender, die zahlenmäßig genau aufgegangen sind, und freue mich, wenn das Betrachten Ihnen allen Spaß gemacht hat.
In schwierigen Zeiten wünsche ich Ihnen allen frohe, gesunde und friedliche Weihnachten
Mein 80jähriger Vater, der acht Klassen Volksschule als schulische Ausbildung durchlaufen hat, hat mir seine Begriffe „Hausmeister-Theologie“ und „Hausmeister-Psychologie“ beigebracht. Das war sein Bemühen, für ihn kaum bis wenig verständlich theologische, philosophische und psychologische Sachverhalte mit seiner Bauernschläue, in eine für Normalsterbliche verständliche Sprache zu formulieren. Letzte Woche ist mir selbst eine Art Beispiel für systemische „Hausmeister-Kybernetik“ am Fahrrad passiert:
Am Rad lässt sich der hintere Zahnkranz nicht mehr exakt schalten. Die Beobachter Johannes (Besitzer) und Ivan (Fahrradtechniker) betrachten, prüfen das System und diagnostizieren von außen, die Kette ist ausgeleiert. Eine Intervention, Kauf und Montage einer neuen Kette, wird geplant und durchgeführt. Das Antriebssystem des Fahrrads reagiert autopoietisch (DAS ist ein „Wort“ für meinen Vater) auf die Intervention von außen. Durch die neue und straffe Kette läßt sich der hintere Zahnkranz butterweich schalten. Leider rutschen nun die Ritzel des vorderen, mittleren, deutlich abgenutzte Zahnrades „durch“ die neue gespannte Kette, es ist kein Einrasten mehr möglich, die Ritzel greifen ins Leere. Das Antriebssystem hat sich wieder in „seinen“ Zustand eingependelt.
Systeme kommunizieren bekanntlich (fast global), das Beobachtersystem Ivan und Johannes will weiter intervenieren und versucht nun ein neues vorderes Zahnrad zu besorgen. Das scheint aufgrund der globalen Lieferschwierigkeiten in den vernetzten globalen System fast ein Ding der Unmöglichkeit. Diese Zahnrad ist momentan nicht verfügbar. Ich fahre nun, ohne auf den mittleren vorderen Zahnkranz zu schalten, durch das verschneite Wien.
Nachtrag eine Woche später:
Mittlerweile hat sich das System nochmals autopoietisch nachjustiert.Das Beobachtersystem (Ivan & Johannes) stellt die Hypothese auf, dass durch die straffe Kette und dem Schalten ohne vorderen Zahnkranz der Druck im System zu hoch wurde, daher hat es sich durch das Reißen einer Speiche Entlastung verschafft.
Der Wald erinnert mich an Batesons Beispiel vom Baumfäller und seine Erkenntnis: „Wenn man irgendetwas im menschlichen Verhalten erklären oder verstehen will, dann hat man es im Prinzip immer mit totalen Kreisläufen, vollständigen Kreisläufen zu tun.“ (1972, S. 589). Er zeigt mit dem Beispiel, dass wir kaum anders können als zu denken „Ich fälle einen Baum“ (1972, S. 549), anstatt den ganzen Kreislauf des Geschehens zu erfassen. Anscheinend legt das Beobachten an sich eher nahe, „Gucklochmensch“ anstatt Teil der Welt zu sein (von Foerster, 2002, S. 10). Doch – Hell und Dunkel, Licht und Schatten – selbst die Gegensätze, die sich ausschließen, bedingen sich gegenseitig, sind Teil der Welt und voneinander.
Dann Batesons ästhetische Erkenntnis: „Die „Schönheit“ der Wälder, durch die ich laufe, ist mein Erkennen der einzelnen Bäume wie auch der ganzen Ökologie der Wälder als Systeme“ (1972, S. 429) – die Frage nach Ästhetik (und damit wieder Ethik?), die mich derzeit beschäftigt.
Kybernetik, Ethik und Ästhetik – primär das ist für mich derzeit systemisch.
Bateson, G. (1972). Die Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (1. deutsche Auflage, 1985). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
von Foerster, H., & Bröcker, M. (2002). Teil der Welt. Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt (4. Auflage 2019). Heidelberg: Carl Auer.
Systemisches Arbeiten steckt voller Entdeckungen und Überraschungen, macht neugierig und sensibel dafür, dass wir häufig nur Ausschnitte eines Bildes oder Ereignisses sehen. Das verführt, erste Hypothesen zu bilden, ohne schon zu wissen in welchen Kontexten sich ein vollständigeres Bild auftut. Und auch das bildet keine „Wahrheit“ ab, sondern erzählt mir lediglich etwas über meine Beobachtungen. Systemische Arbeit wirkt auf mich als Suchende wie ein guter Krimi der meine Aufmerksamkeit herausfordert. Die Bilder sind in einem „kleinen Fischerdorf“ in unmittelbarer Nähe zur nordkoreanischen Grenze entstanden.
Im Jahr 2015 habe ich mich, ohne dass mir das damals so bewusst gewesen wäre, für das systemischste aller Hobbies entschieden. Die Bedeutung der Bienen für das Öko-SYSTEM war mir wohl bekannt. Aber was ich bei meinen Bienenvölkern im Laufe der Jahre erfahren durfte über die Komplexität von Organisationen, über Arbeitsteilung und das Prinzip der Wechselseitigkeit oder die Anpassungsfähigkeit in Krisenzeiten (die Folgen des Klimawandels sind in der Imkerei sehr deutlich zu spüren!) das hätte ich mir nicht träumen lassen….und das inspiriert mich in meiner täglichen Arbeit als systemischer Therapeut.
Renato Barachino
(Dipl.-Psychologe, Systemischer Familientherapeut (DGSF), Leiter der Erziehungs-, Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des Bistums Trier in Saarbrücken und Imker)
Ein „Systemisches Foto“? Vielleicht wäre das am ehesten eines, das zeigt, wie Menschen verbunden sein können, wenn sie sich gemeinsam auf ein drittes Thema beziehen.
Diese mongolische Nomadenfamilie stellt gerade einen neuen Filz für ihr „Ger“ her. Dies ist nur im gemeinsamen Tun möglich und im guten Kontakt mit der Umgebung, abgestimmt auf die Jahreszeit. Bei -40° im Winter kann kein Filz entstehen. Alles spielt mit. Von den eigenen Schafen kommt die Wolle. Das Pferd spendet seine Kraft. Die Steppe bietet die Arbeitsfläche. Auch mit den Göttern, den guten Geistern und mit dem „Blauen Himmel“ sind die Filzenden in Kontakt, indem sie Steppenweihrauch anzünden und ein Milchopfer bringen.
An dieser Bildergeschichte ist für mich fast alles „systemisch“, ganz besonders jedoch die Organisation des gemeinsamen Filzens. Ein weiterer „systemischer“ Aspekt ist die Jurte an und für sich, die in der Mongolei „Ger“ genannt wird. Das Wort „Ger bül“ bedeutet aber auch „Familie“, die zusammen in einem „Ger“ wohnt und es zusammen instand hält.
Was ich zeigen will, ist ein Widersinn: Sommer gegen Weihnachten, Sprache gegen Bild, im Ganzen eine antagonistische Metapher, die auch mit Hilfe der Zeit arbeitet. Man kann schließlich auch an heißen Tagen ‚Fröhliche Weihnachten‘ wünschen, ironisch, sarkastisch, wenn jemand einen Pelzmantel am Strand trägt. Der Gedanke hier ist, dass es systemische Psychotherapie genau mit solchen Verhältnissen zu tun hat – mit retrospektiver Vorausschau.