Heute vor 20 Jahren starb Heinz von Foerster, der Begründer der Kybernetik 2. Ordnung, an seinem Wohnort in Pescadero, Kalifornien, im Alter von 90 Jahren. Im von Klaus Krippendorff herausgegebenen Band „Communication and Control in Society“ (New York; Gordon and Breach) wurde ein kurzer Vortrag von ihm veröffentlicht, den er 1979 auf der Konferenz der American Society for Cybernetics (ASC) hielt. Darin fasste er noch einmal seine Grundgedanken zur „Kybernetik der Kybernetik“ zusammen: »Earlier I proposed that a therapy of the second order has to be invented in order to deal with dysfunctions of the second order. I submit that the cybernetics of observed systems we may consider to be first-order cybernetics; while second-order cybernetics is the cybernetics of observing systems. This is in agreement with another formulation that has been given by Gordon Pask. He, too, distinguishes two orders of analysis. The one in which the observer enters the system by stipulating the system’s purpose. We may call this a “first-order stipulation”. In a “second-order stipulation” the observer enters the system by stipulating his own purpose. From this it appears to be clear that social cybernetics must be a second order cybernetics—a cybernetics of cybernetics—in order that the observer who enters the system shall be allowed to stipulate his own purpose: he is autonomous. If we fail to do so somebody else will determine a purpose for us. Moreover, if we fail to do so, we shall provide the excuses for those who want to transfer the responsibility for their own actions to somebody else: “I am not responsible for my actions; I just obey orders.” Finally, if we fail to recognize autonomy of each, we may turn into a society that attempts to honor commitments and forgets about its responsibilities.«
In einem aktuellen Text aus der Zeitschrift Forum der Psychoanalyse, der online first erschienen und zu lesen ist, setzt sich Michael B. Buchholz unter dem Titel „Kann die Psychoanalyse noch aus ihren Krisen lernen?“ mit Fragen auseinander, die nicht nur die Psychoanalyse, sondern die Perspektive der Psychotherapie im Allgemeinen betreffen. Im Abstract heißt es: »Mit dem neuen Psychotherapeutengesetz ist eine ernste Lage für die Psychoanalyse entstanden. Auf die eine Gefahr, die technologische Medizinalisierung (…), wurde häufig verwiesen. Eine wachsende Abhängigkeit von der klinischen Psychologie (…) ist noch wenig gesehen. Wie kann sich die Psychoanalyse behaupten? Vorgeschlagen wird, sich verstärkt Fragen nach a) Ausbildung therapeutischer Persönlichkeiten, b) stärkerer lebensweltlicher Kontextualisierung und c) weit größerer Aufmerksamkeit der originalen Stimme der Patienten in Theorie und Kasuistik zu widmen. Loyalität gegenüber Theorie-Traditionen löst keine Probleme. Sie blockiert Umweltsensitivität und erzeugt Rückzug in Selbstbeschäftigung und beunruhigenden Mangel an Irritierbarkeit. Die viel zu loyale Bindung an Theorietraditionen, an lehranalytische Aus- und Vorbilder, supervisorische Praktiken und an fragliche Behandlungsregeln wehrt die Irritation ab, deren Bewältigung zentrale Aufgabe wäre, und entmutigt die nächste Generation. Dazu am Schluss Vorschläge.« Die Akademisierung der Psychotherapie sieht Buchholz kritisch, da sie der Ausbildung klinischer Performanz und der Entwicklung therapeutischer Persönlichkeiten eher keinen Vorschub leistet: »Performanz kann nicht final bestimmt oder eingegrenzt werden. Therapeutische Schulung ist offen, für originelle Persönlichkeiten, die einen neuen Stil, eine andere Antwort, einen besonderen, hilfreichen Humor entwickeln und im Umgang mit Patienten bezeugbar Erleichterung schaffen, die klinische Theorie nicht erwartete und nur profitieren kann. Klinisches Können sollte eine gewichtigere Stimme im kulturell-politischen Feld bekommen.«
Am Schluss schreibt Buchholz: »Medikalisierung schadet in der Psychotherapie; das ist empirisch bestens ermittelt. Indem man ein viel zu traditionelles klinisch-psychologisches und zu machtvoll implementiertes technisch-szientifisches Wissenschaftsverständnis erweitert, sehe ich Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben können. Dazu habe ich Komponenten im FLIP-Modell skizziert [Forschung – Lehre – Integration – Praxis]. Bemerken psychoanalytische Kolleginnen und Kollegen den Zustand ihrer Profession? Werden sie sich getrauen, Traditionen – etwa der Theorie, Formen der Supervision, der Lehre und kasuistischen Seminare – über Bord zu werfen, um sich Spiel-Räume zu schaffen und Alternativen zu erproben? Und diese evaluieren, um sich in der Versorgungsrealität wieder Relevanz zu verschaffen? Ob sie wagen, antiquierte Bestände den Historikern zu überlassen? Können Sie die Selbsterfahrung erweitern: von der Reflexion biografischer Zusammenhänge zur Beobachtung kommunikativer Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen, von der Wahrnehmung affektiver Resonanzen zur Reflexion von deren Nutzung, von der nuancierten Gewahrwerdung eigener kommunikativer Manierismen über Wirkung stiller Momente, aber auch die reichen Varianten des Opportunismus. Wenn diese Wagnisse, von ein- beziehungsweise ausgetrampelten Traditionspfaden abzuweichen, gelingen, könnte das „Abatmen des Meinungssmogs“, von dem Slunecko so eindrücklich spricht, für die Profession heilsam werden.«
Ein Text, den sich alle Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu Herzen nehmen sollten. Hier können Sie ihn lesen…
Heute vor einem Jahr ist Helm Stierlin im Alter von 95 Jahren gestorben. In der „Autobahn-Universität“ des Carl-Auer-Verlages ist ein Vortrag von ihm “über harte und weiche Wirklichkeiten in systemisch-therapeutischer Sicht“ zu hören, eine Aufnahme, die noch einmal seine Stimme und Vortragsweise in die Gegenwart holt. Auf der Website des Verlages heißt es: «Dieser von der Autobahnuniversität dokumentierte Vortrag, den Helm Stierlin auf dem großen Heidelberger Konstruktivismus-Kongress 1991 gehalten hat, steht geradezu paradigmatisch für das hohe Reflexionsniveau systemischer Perspektiven. Dies gilt bezogen auf konzeptionelle und praktische Aspekte therapeutischen und beraterischen Tuns genauso wie für das Verstehen politischer Entwicklungen bis hin zu solchen, die die Zuverlässigkeit demokratischer Prozesse erodieren lassen können. Noch einmal wird erlebbar, welch großen Verlust Helm Stierlins Tod bedeutet, für die gesamte Welt therapeutischer und beraterischer Professionen sowie für eine aufgeklärte politische Debatte, die diesen Namen wirklich verdiente. Die langjährigen Wegbegleiter Fritz B. Simon und Gunthard Weber haben Helm Stierlin in ihren berührenden Nachrufen auf besondere Weise gewürdigt. Gerade in dem zweiten, dem politischen Aspekt sind Stierlins scharfe begriffliche Analysen in diesem Vortrag brandaktuell, denkt man an die Verhärtung der Diskutanten in den Auseinandersetzungen um die Pandemie und die Reaktionen darauf. Im Zentrum steht das dialektische Geschehen um die Frage, wie „weiche“ und/oder „harte“ Beziehungswirklichkeiten und Weltverständnisse in Familien und Gesellschaften entstehen bzw. zu beobachten sind, und welche Interventionsmöglichkeiten angemessen erscheinen, wenn extrem unterschiedliche Bewertungen zu scheinbar unlösbaren Konflikten führen. In Bezug auf Ludwig Wittgenstein, Jay Haley, Margaret Singer, Lyman Wynne, Gregory Bateson u. a. entfaltet Helm Stierlin das gesamte Spektrum der Fragen nach Gewissheit, bezogener Individuation und symmetrisch konfligierender bzw. versöhnender Wirklichkeitskonstruktionen und der Möglichkeiten, sie begrifflich zu fassen und möglichst lösend zu behandeln. Das filigrane Spiel mal eher erhärtender, mal eher erweichender Beiträge zu einer gedeihlichen Entwicklung menschlicher Verhältnisse wird inspirierend und treffend analysiert. Einmal mehr erweist sich hier das große Potenzial systemischen Denkens und an neuerer Systemtheorie orientierter Diskurse und Praxis.«
Der Vortrag ist hier zu hören (Sie können aber auch auf die Abbildung klicken)
Psychiatrische Sachverständige werden von Gerichten zur Feststellung von Schuldfähigkeit, Selbst- oder Fremdgefährdung oder Rentenansprüchen beauftragt. Im „Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ ist festgelegt, dass vor einer Unterbringungsmaßnahme das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen hat, der die Betroffenen persönlich zu untersuchen oder zu befragen hat. In Selbstdarstellungen von Gutachtern findet sich nicht selten der Hinweis, dass es sich dabei um eine „objektive“ Beurteilung handele. Die Psychiatriekritik spätestens seit den Arbeiten von Michel Foucault hat andererseits zeigen können, dass Gutachten spezifische Narrationen sind, mit denen Lebensgeschichten und Ereignisse in eine Form gebracht werden, mit deren Hilfe der staatliche Eingriff (etwa in die Freiheit der Begutachteten) legitimiert werden soll. Aus dieser Perspektive sind Gutachten, die explizit oder implizit immer auch auf moralische Bewertungen ihrer Zeit Bezug nehmen, zwangsläufig Bestandteil einer gesellschaftlichen Herrschaftspraxis.
Da die Anordnung einer Begutachtung unabhängig von der Zustimmung der betroffenen Person ist, findet sie immer in einem strukturellen Zwangskontext statt. Die – oft negative – Reaktion auf die Begutachtung wird aber oft selbst zum Diagnostikum, mit dem dann eine freiheitsbegrenzende Maßnahme begründet wird, wie z.B. der Fall Mollath zeigte, der 2014 weithin Aufsehen erregte.
Gutachten müssen zwangsläufig in einer Sprache abgefasst sein, die die Fiktion einer objektiven, neutralen und wissenschaftlich-distanzierten Feststellung von Sachverhalten ermöglicht. Anders wäre eine Gerichtsentscheidung etwa über eine Unterbringung wohl kaum zu rechtfertigen. Das bedeutet aber, dass alle Aspekte, die die subjektive Erfahrung einer Begegnung zwischen Gutachter und Begutachtetem und die eigenen emotionalen Resonanzen im Kontakt betreffen, ausgeblendet bzw. objektiviert und in „Gutachtensprache“ transformiert werden müssen.
Diese abgedunkelte Seite der Begegnungserfahrung ist Gegenstand eines schönen Büchleins mit dem passenden Titel „Die Angst des Psychiaters vor der Nähe“, das 2022 bei Books on Demand erschienen ist. Hans Welsch, der ein Pseudonym verwendet, um die Anonymität der beschriebenen Personen zu schützen, ist Psychiater und Gutachter. In seinem Buch erzählen 13 Kurzgeschichten von seinen Begegnungen mit Menschen, die ihren Halt in der sozialen Welt verloren oder sich in eine eigene unzugängliche Welt zurückgezogen haben. In einem Nachwort schreibt der Autor: „Außerhalb seiner Praxis begegnet der Autor als Psychiater in seiner Funktion als Gerichtsgutachter den von ihm untersuchten Menschen unmittelbarer und taucht tiefer in ihre Welt ein. Er kann daher nicht anders, als sich auch berühren zu lassen. So entsteht neben der distanzierten Betrachtung, die in sachliche Feststellungen in Form eines Gutachtens einmündet, auch eine Sphäre, in der sich die Erlebniswelten von Untersucher und Untersuchtem überschneiden. Hier sind die Erzählungen von der Angst des Psychiaters vor der Nähe entstanden. Die wahren Schöpfer der hier vorgestellten Erzählungen sind die Kranken. Ohne deren Schaffenskraft, die der Psychoseforscher und -therapeut Thomas Bock wohl hochachtungsvoll Eigensinn nennen würde, wären sie nicht entstanden.“
Herausgekommen sind empathische Annäherungen an ver-rückte Lebensentwürfe und fremde Gedankenwelten, deren leidvolle, oft absurde, aber manchmal auch komischen Seiten pointiert und in einer literarisch einnehmenden Sprache zum Ausdruck kommen. Freundlicherweise hat der Autor mir erlaubt, die Erzählung „Familie macht frei“ zu veröffentlichen, die ganz gut zum Ausdruck bringt, was die Leserschaft erwarten kann. Ich kann die Lektüre nur empfehlen!
Heute würde Gianfranco Cecchin (22.8.1932 – 2.2.2004) seinen 90. Geburtstag feiern. Ursprünglich gemeinsam mit Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo und Giuliana Prata im„Gründungsteam” des„Mailänder Ansatzes”, löste er sich dann in den 80er Jahren von Selvini und arbeitete eng mit Luigi Boscolo therapeutisch und als international gefragte Lehrtherapeuten zusammen. Er ist mit vielen interessanten Konzepten in der internationalen systemischen Szene bekannt geworden, unter anderem auch für die Einführung des Begriffs der Respektlosigkeit in Bezug auf die therapeutische Haltung. Während heute allzu oft Wertschätzung für alle möglichen Ideen gefordert wird, plädierte Cecchin dafür, Respekt gegenüber Personen aufzubringen, aber nicht für Ideen und Erklärungsmodelle. Dies galt für ihn auch in Bezug auf die konzeptuellen Auseinandersetzungen im systemischen Feld, etwa zwischen strategischen und konstruktivistischen bzw. narrativen Konzepten. In seinem gemeinsam mit Gerry Lane und Wendel A. Ray verfassten Aufsatz „Vom strategischen Vorgehen zur Nicht-Intervention. Für mehr Eigenständigkeit in der Systemischen Praxis“ (Familiendynamik 17[01], 1992, S. 3-18) schreibt er über dieses Thema:
„Es erscheint uns (…) angeraten, daß der Therapeut gegenüber jeder Idee, die die therapeutische Manövrierfähigkeit und Kreativität einschränkt, eine gesunde Respektlosigkeit bewahrt. (…) Ist man zu sehr von der Nicht-Instrumentalisierung überzeugt, ist man gefangen, eingeschränkt. Ein überzeugter Anhänger des Narrativen zu werden heißt, daran zu glauben, daß eine Veränderung der Erzählung Menschen verändert. Wenn man nicht in der Lage ist, anders zu handeln, kann die Angst, zu aktiv zu sein, lähmend wirken. Der »respektlose« Therapeut bekämpft die Versuchung, jemals ein überzeugter Anhänger einer wie auch immer gearteten Idee zu werden. Auch die Überzeugung, daß man durch die Aufgabe der Idee strategischen Vorgehens eine Wirkung erzielen kann, wird dann zu einer Gefahr. Man glaubt dann zu sehr an das Instrument der Nicht-Instrumentalisierung. Die Versuchung, Kontrolle ausüben zu wollen, kehrt oft zu denen von uns zurück, die schon durch diesen Prozeß hin durchgegangen sind. (…) Eine Lösung besteht darin, sich niemals völlig von einem Modell oder einer Intervention verführen zu lassen. (…) Eine Position der hier beschriebenen Respektlosigkeit einzunehmen heißt, sich gegenüber jeder verdinglichten »Wahrheit« leicht subversiv zu verhalten. Fühlt man sich einem Wertesystem zu sehr verpflichtet, setzt man sich der Gefahr aus, instrumentalisiert zu werden. Wir persönlich sind jetzt bereit, zu spielen. Wir können spielen, indem wir respektlos sind. Dies kann nur geschehen, indem wir die Verantwortung für unsere eigenen Handlun gen und Überzeugungen übernehmen, ohne uns instrumentalisieren zu lassen oder eine strategische Position einzunehmen. Wir können es wagen, unsere eigenen Ressourcen zu nutzen, um zu intervenieren, Rituale zu konstruieren, umzudeuten. Allerdings müssen wir für unser Handeln die Ver antwortung tragen und dürfen niemals vergessen, daß wir der Versuchung ausgesetzt sind, zu glauben, daß unsere Interventionen vorhersagbare Ergebnisse verursachen oder schaffen können. (…) Auf dem Weg zu einer Position der Respektlosigkeit muß man versuchen, sich von der kooptierenden Natur der Werte, über die ein Konsens besteht, zu befreien, und willens sein, nicht bedingungslos das zu tun, was der Staat oder die Institution, oder selbst die Klinik, in der man arbeitet, von einem verlangen. Das gibt dem Therapeuten die Freiheit, spielerisch zu sein, ohne dem eingeschränkten Bedeutungssystem der Familie bzw. der Institution zu verfallen. Er ist frei, um nach absurden wie auch tragischen Aspekten der Familiengeschichte zu suchen. (…) Es ist die Aufgabe des Therapeuten, die Gewißheit des Klienten zu unter graben. Es geht darum, jene Aspekte der Realität der Klienten, die sie daran hindern, die von ihnen gewünschten Veränderungen zu machen, zu unterminieren. Nimmt der Therapeut eine respektlose Position ein, ist er skeptisch gegenüber Polaritäten. Er ist frei von nicht-instrumentellen Positionen des »Ich sollte nicht hineingehen und eine Idee präsentieren, wie sich Menschen verändern können«, und von strategischen Positionen des »Ich muß eine Taktik entwickeln«. Mit Respektlosigkeit führt der Therapeut eine Idee ein, ist aber nicht unbedingt der Meinung, daß Menschen ihr folgen sollten. Er macht nur Vorschläge, die vielleicht hilfreich sind.“
Heft 1 des systeme-Jahrgangs kreist um das Thema Sucht. Im Editorial heißt es: „„Wie lässt sich Systemisches aushalten?“ Diese Frage stellt Wolfgang Loth zu Beginn seines Beitrags, mit dem wir dieses Heft eröffnen. Inspiriert von vier Büchern des Philosophen Michael Hampe setzt er sich darin auseinander mit dem, was Systemisches ausmacht, wie es die Fragen des Lebens und den Zusammenhang aller Dinge durchdringen könnte. Er schenkt uns bedeutsame Gedanken in besonderen Zeiten. Im Folgenden finden sich in dieser Ausgabe – ursprünglich angeregt durch eine Anfrage der Fachgruppe Sucht der SG – unterschiedliche Beiträge und Perspektiven rund um das Thema Sucht: Jane Busch, Frank M. Fischer, Holger Meyer, Daniela Saric und Ronny Siegert stellen das klinische Behandlungsangebot von Teen Spirit Island, einer auf Sucht- und Traumatherapie spezialisierten kinder- und jugendpsychiatrischen Station vor. Diesem liegt ein mehrphasiges, integratives und auf Bindungsarbeit basierendes Konzept zugrunde. Frank M. Fischer schildert die einzeltherapeutische Arbeit mit einer Jugendlichen, bei der insbesondere durch die Betrachtung von Ego-States ein Zugang zu inneren Prozessen und zu Veränderung gefunden wird. Eingebettet war diese Therapie in das stationäre Angebot von Teen Spirit Island. Um paartherapeutische Arbeit und die Bedeutung der Emotionsregulation im Kontext Sucht geht es im Beitrag von Mieke Hoste. Sie beschreibt, wie der Einbezug eines emotionsfokussierten Ansatzes den Paaren neue Kommunikationswege eröffnen und diese im therapeutischen Raum erproben lassen kann. Mit Medienabhängigkeit befasst sich Andreas Gohlke. Anhand der Beschreibung des als Open-Source-Projekt entwickelten Manuals Quest2B bietet er methodische Anregungen für die Beratung und Begleitung von Personen mit sogenannten „Internetbezogenen Störungen“. Katharina Prünte lässt Elsa N., die Angehörige eines Alkoholikers, sprechen und diskutiert kritisch die Verwendung des Begriffs „Co-Abhängigkeit“. Ein Beitrag, der zur Diskussion einlädt. Prof. Dr. Jochen Schweitzer hat im Herbst 2021 seine wissenschaftliche und lehrende Tätigkeit beendet. Anlässlich dessen fand ein virtuelles Abschiedssymposium statt. Tanja Kuhnert berichtet in ihrem Beitrag darüber. Sie macht deutlich, welche Relevanz Jochen Schweitzers bisheriges Wirken für die Fundierung und (Weiter-) Entwicklung des systemischen Ansatzes hatte und hat.“
Beim 3. Kongress „Reden reicht nicht!?“, der 2019 in Bremen stattfand, führte Michael Bohne einen Workshop zum Thema Auftrittscoaching mit PEP – Spitzenleistungsförderung und mentale Stärke in der klassischen Musik (Livecoaching mit Instrument oder Gesang)“, dessen Aufzeichnung hier betrachtet werden kann. Er arbeitet live mit einer Sängerin auf der Bühne, um Besonderheiten von PEP und ihrer praktischen Umsetzung live zu demonstrieren. Wichtig ist ihm dabei, dass der Coach in der gleichen Rolle ist, wie die künstlerischen Protagonistinnen: Es ist nichts abgesprochen, das Risiko der Unvorhersehbarkeit beraterischer Begegnung wird angenommen, und gerade dadurch kann sich vieles von dem Potenzial, das PEP als Methode des Auftrittscoachings birgt, zeigen und entfalten.
Unter diesem Titel veröffentlicht Sascha Dickel, Professor am Institut für Soziologie der Universität Mainz mit dem Arbeitsbereich Mediensoziologie & Gesellschaftstheorie einen Open Access-Artikel „Zur systemtheoretischen Selbstbeschreibung der digitalen Gesellschaft“, der 2022 im Berliner Journal für Soziologie erschienen ist. In seiner Einleitung schreibt er: „Vor dem Hintergrund der Digitalisierung stellt sich für Sozial- und Gesellschaftstheorien fast zwangsläufig die Frage, wie zeitgemäß ihre eigenen theoretischen Instrumente (noch) sind, gilt der seit mindestens drei Jahrzehnten ablaufende Prozess der Digitalisierung doch als anhaltender Epochenbruch, der auch und gerade dazu zwingt, die Frage nach dem ,Sozialen’ neu zu stellen. Ansatzpunkte dafür gibt es viele: Wie etwa lassen sich Gesellschaften begreifen, in denen medial vermittelte, ,synthetische Situationen’ (…) zum Normalfall des Miteinanders werden? Oder: Wie ist Sozialität beschreibbar, die – etwa im Kontext sozialer Medien – fundamental von digitalen Interfaces und Infrastrukturen abhängt, in denen das Soziale selbst zum Objekt von Designprozessen und Realexperimenten wird (…)? Und wer gilt in dieser digitalen Welt überhaupt als Teilnehmer:in am Sozialen? Nur Menschen oder auch Computer und Algorithmen? (…)? Muss man das theoretische Verständnis des Sozialen grundlegend von seinem humanistischen Ballast befreien (…)? Oder geht es vielmehr darum, die Besonderheiten menschlicher Sozialität gegenüber algorithmischer Operation und ,Künstlicher Intelligenz’ zu verteidigen (…)? Müsste eine Theorie der digitalen Gesellschaft selbst mit digitalen Begriffen operieren (…)? Oder sollte sie sich im Gegenteil von einem solchen Sprachgebrauch distanzieren, um digitale Sprechweisen von außen beobachten zu können (…)? Kurzum: Was sind die Folgen sozial- und gesellschaftstheoretischer Festlegungen für die Beobachtung dessen, was heute als ,Digitalisierung’ in aller Munde ist? Der Verhandlung dieser Fragen widmet sich dieser Beitrag anhand der soziologischen Systemtheorie.“
Mit dem Thema Krise und Krisen ist das aktuelle Heft der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung beschäftigt. Zum Inhalt schreibt Cornelia Tsirigotis in ihrem Editorial: „Mit Krisen und Krisenerleben beschäftigen sich die AutorInnen dieses Heftes: volatil, unsicher, komplex, ambig – Guido Strunk, Marcus Hausner, André Martin Poimer & Marcel Selinger durchleuchten VUKA auf dem Hintergrund der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen. Thomas Reyer nutzt die Perspektive der Transformationsforschung, um angesichts der oben beschriebenen Herausforderungen Veränderungsdynamiken zu erkennen und Handlungsoptionen für SystemikerInnen zu entwickeln. Ängste und Unsicherheit sind Anlässe von Jugendlichen, die in der Krise psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen: Martina Frey und Ingo Spitczok von Brisinski schildern die Prozesse von Krisenbewältigung in vielfältigen Beispielen. Ramona Thümmler untersucht die Identitätsarbeit und -entwicklung von Kindern und Jugendlichen angesichts der Krise. Marina Barz reflektiert die Kommunikation im professionelle und privaten Kontext angesichts der Corona-Krise.“
Nachzutragen ist an dieser Stelle auch das vorherige Heft 2, das dem Thema Kultur und Migration gewidmet ist. Keine systemische Zeitschrift hat dieses Thema so konsequent verfolgt wie die ZSTB in den vergangenen Jahren, weshalb der Titel auch die IX enthält, die auf die neunte Ausgabe zu diesem Themenkomplex verweist. Es geht um die Förderung von Migrantenfamilien, um Flucht und Verarbeitung von Fluchterfahrungen, aber auch um einen neuen Blick auf Obdachlose und die damit verbundene Straßenkultur.
Wie schon bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe von systhema erwähnt, ist Gesa Jürgens, Mitbegründerin des Instituts für Familientherapie Weinheim, am 3. Mai gestorben. Mit freundlicher Genehmigung der systhema erscheint an dieser Stelle der Nachruf von Cornelia Hennecke und dem Teams des IFW, der einige Stimmen zum Abschied versammelt hat. In der nächsten Ausgabe von systhema soll noch ausführlicher auf Gesa Jürgens eingegangen werden.
Hier der Text des Nachrufes:
Uns erreichte im Institut am 4. Mai die traurige Nachricht, dass am 3.5.2022 unser frühere Kollegin Gesa Jürgens verstorben ist.
Gesa gehörte mit zur Gründergeneration des IF Weinheim und hat zwischen 1975 und 2008 mit ihrem Wissen als Familientherapeutin und Dozentin, ihrem unverwechselbaren Gespür für heilsame Prozesse und großem Vertrauen in Menschen und die Kraft der Begegnung wesentliche Grundlagen unserer Weiterbildungen und der ‚Weinheimer Didaktik‘ mit etabliert und dabei hunderte Teilnehmer*innen in ihrer Entwicklung begleitet.
Das Psychologischen Privatinstituts für Systemische Beratung (PPSB) in Hamburg hat im vergangenen Jahr ein „systemisches Kinderschutzprogramm“ unter dem Titel „Navigation in rauen Gewässern“ veröffentlicht, in dem die Einrichtung von „Lotsenstellen“ in Organisationen gefordert wird, die die Kinderschutz-Praxis der jeweiligen Organisation anleiten, beraten, kontrollieren und auch disziplinarisch überwachen sollen. In den Verlagsinformationen heißt es: „Im Kinderschutz begibt man sich oft in sprichwörtlich raue Gewässer – Untiefen, Brandung und Stürme sind keine Seltenheit und brauchen eine starke Navigation. Das Kinderschutzprogramm des Autor*innenteams des PPSB-Hamburg hilft, das Steuer in jeder Situation fest in der Hand zu halten.“ Martina Furlan vom DKSB Dortmund und Lehrtherapeutin (SG) am Institut an der Ruhr, hat das Buch gelesen und ist mit Vielem, wenngleich nicht Allem einverstanden. Ihre Rezension hat mich ebenfalls zur Lektüre gereizt, ich bin dabei aber zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen. Mir ist nicht richtig klar geworden, was das „Systemische“ an diesem Konzept sein soll. Zwei ausführliche Rezensionen und eine gute Gelegenheit für die Leserschaft, sich selbst ein erstes Bild zu machen!
Vermischtes gibt es im neuen Heft der systhema: Von Themen wie Migration, Identität und Resilienz, über systemisches Denken und Handeln in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Motivierende Gesprächsführung, Sensibilisierung gegenüber Diskriminierung bis hin zu Bibliotherapie und Berufsberatung ist vieles dabei, zudem viele Rezensionen. Traurig die Nachricht, dass Gesa Jürgens (*1944), eine der frühen Mitbegründerinnen des Instituts für Familientherapie in Weinheim gestorben ist. Cornelia Hennecke hat einen Nachruf mit vielen Stimmen von Wegbegleitern verfasst. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…
WIESBADEN – Im Jahr 2021 wurden in Deutschland durch richterlichen Beschluss rund 142 800 Ehen geschieden. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, ist die Zahl der Scheidungen gegenüber 2020 um knapp 1 100 oder 0,7 % gesunken. Bereits im Vorjahr war sie um 3,5 % zurückgegangen. Seit 2012 ist die Zahl der Scheidungen jährlich gesunken, mit Ausnahme eines leichten Anstiegs im Jahr 2019. Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Zahl der Scheidungen sind somit in diesem Verlauf nicht erkennbar. Da einer Scheidung in der Regel eine Trennungszeit von mindestens einem Jahr vorausgeht, können sich solche Effekte auch erst langfristig zeigen.
Etwas mehr als die Hälfte (51,5 %) der 2021 geschiedenen Ehepaare hatte minderjährige Kinder. Von diesen hatten wiederum 49,5 % ein Kind, 39,5 % zwei und 11,0 % drei oder mehr Kinder. Insgesamt waren im Jahr 2021 etwa 121 800 Minderjährige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.
Die meisten der 2021 geschiedenen Ehen (81,4 %) wurden nach einer vorherigen Trennungszeit von einem Jahr geschieden. Scheidungen nach dreijähriger Trennung machten einen Anteil von 17,6 % aus; dann wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist. Bei 1,0 % waren die Regelungen zur Scheidung vor einjähriger Trennung oder Scheidungen nach ausländischem Recht maßgebend. Etwa 22 900 oder 16,1 % aller geschiedenen Paare waren bereits mindestens im 25. Jahr verheiratet. Im Durchschnitt blickten die Paare auf 14 Jahre und 6 Monate Ehedauer zurück. Vor 25 Jahren waren Ehen bereits nach durchschnittlich 12 Jahren und 2 Monaten geschieden worden. Mitverantwortlich hierfür war der niedrigere Anteil geschiedener Langzeitehen: 1996 wurden mit 18 000 nur 10,3 % der geschiedenen Paare im Jahr ihrer Silberhochzeit oder danach geschieden.
Bei 88,9 % der Ehescheidungen wurde der Scheidungsantrag mit Zustimmung des Ehegatten oder der Ehegattin gestellt. Bei 6,9 % wurde der Antrag von beiden Ehepartnern zusammen eingereicht. Bei den anderen 4,2 % stimmten der Ehegatte oder die Ehegattin dem gestellten Antrag nicht zu.
2021 ließen sich etwa 1 000 gleichgeschlechtliche Paare scheiden. 2020 waren es etwa 900 gewesen. Die „Ehe für alle“ war in Deutschland im Oktober 2017 eingeführt worden. Gleichgeschlechtliche Paare, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, können diese nicht durch Scheidung, sondern durch Aufhebung beenden. 2021 wurden mit rund 1 000 Aufhebungen von Lebenspartnerschaften etwa 100 oder 9,1 % weniger erfasst als im Vorjahr. Damit ist die Zahl das zweite Jahr in Folge gesunken. Hier findet zunehmend eine Verschiebung von den Aufhebungen zu den Scheidungen statt.