systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

14. Dezember 2012
von Tom Levold
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Küsse für den Therapeuten – Begrüßungsrituale

Kurt Ludewig, der das heutige Adventskalendertürchen öffnet, ist als Deutsch-Chilene ohnehin für kulturelle Unterschiede sensibilisiert, musste aber die Erfahrung machen, dass sich auch diese Unterschiede im Laufe der Zeit schneller ändern können als erwartet:

In September 1987 wurde ich eingeladen, eine einmonatige Gastdozentur am Instituto de Psicología der Universidad de La Frontera in Temuco, Chile, durchzuführen. Ich sollte die dortigen Hochschuldozenten auf den neuesten Stand in Sachen systemisches Denken und systemische Praxis bringen. Als gebürtiger Chilene hatte ich, obwohl ich schon mehr als 25 Jahre im Ausland gelebt hatte, wenig Schwierigkeiten, mich in der spanischen Sprache zu Hause zu fühlen. Allenfalls fehlten mir hier und da einige Fachbegriffe, die ich dann aber auf Englisch äußerte, sodass einer der teilnehmenden Kollegen sie ins Spanische übersetzten konnte. Der jugendliche Slang und einige Sitten hatten sich seit meiner Auswanderung zwar etwas verändert, doch gelang es mir, fast alles zu verstehen und mich angemessen zu verhalten. Erstaunt war ich allerdings zunächst, als ich von den Frauen, die ich zum ersten Mal begegnete, gleich mit einem Wangenkuss begrüßt wurde. Der gegengeschlechtliche Wangenkuss hatte sich als Begrüßungszeremoniell etabliert. Eine solche Form der Annäherung war damals in Deutschland ziemlich undenkbar und wäre als distanzlos bzw. grenzüberschreitend gewertet worden. Für mich war sie anfangs gewöhnungsbedürftig. Mit dem Wetter im südchilenischen Frühling hatte ich ebenfalls wenig Schwierigkeiten. Es war dort genau so kühl und regnerisch wie das Wetter im Hamburger Frühling, an den ich mich mittlerweile gewöhnt hatte. Die Stadtbilder der Gegend, aus der ich kam, nämlich Zentralchile, hatten sich stark verändert. Die gemächlichen Chalets und die baumschattigen Alleen, die meiner Geburtsstadt ein besonders Flair verliehen, waren größtenteils mehrstöckigen Wohnblöcken und breiten Autostraßen gewichen. Schließlich hatte sich die Bevölkerung im letzten Vierteljahrhundert mehr als verdoppelt. Chile stand zu der Zeit immer noch unter einer Militärdiktatur, und das hatte darüber hinaus Vieles im Umgang der Menschen untereinander verändert. An der Universität wurde ich früh gewarnt, sparsam mit öffentlichen politischen Äußerungen umzugehen, denn man rechnete damit, dass unter den Dozenten Spitzel waren. Bei privaten Treffen unter Menschen, die sich gegenseitig vertrauten, war es aber möglich, über alles offen zu reden. Und das tat man auch ausführlich. Man konnte dabei eine Ahnung davon bekommen, dass die Zeiten der Diktatur in nicht all zu großen Ferne zu Ende gehen würden. Das geschah auch zwei Jahre später, als der Diktator durch öffentliche freie Wahlen abgewählt wurde.
Im Rahmen meiner Gastdozentur hatte ich mir vorgenommen, einige Live-Demonstrationen von Familientherapien durchzuführen. Dafür sollte die vorhandene Einwegscheibe genutzt werden. Die teilnehmenden Dozenten würden dem Familiengespräch von draußen anschauen und später mit mir diskutieren. Meine erste Sitzung mit einer chilenischen Familie hat mich zu Anfang ziemlich verunsichert, eigentlich sollte ich sagen: ‟entwaffnet”. Es handelte sich um ein junges Ehepaar mit drei Kindern zwischen sechs und elf Jahren. Als ein in Deutschland, zumal in Norddeutschland beruflich sozialisierter Familientherapeut hatte ich mir angewöhnt, die Sitzung mit einer eher distanzierten Haltung zu beginnen. Das sollte sowohl der Familie als auch mir ermöglichen, uns langsam aneinander anzunähern, ohne uns durch zu starke Involviertheit gegenseitig zu überfordern.
So war meine Erwartung auch, als die chilenische Familie den Therapieraum betrat. Ich ging auf sie zu und bot ihnen meine Hand zur Begrüßung an. Der Familienvater nahm meine Hand und drückte sie herzlich – so weit, so gut. Dann wandte ich mich der Mutter zu und bot ihr ebenfalls die Hand an. In typisch chilenischer Manier übersah sie diese Geste, ging statt dessen auf mich zu und küsste mich auf die Wange. Ich stand da ziemlich ratlos und wusste zunächst nicht, was ich als nächstes tun sollte. Es war aber nicht nötig, dass ich etwas tat, denn die drei Kinder kamen der Reihe nach auf mich zu und drückten mich sanft nach unten, um mir mit einem ‟Hola tio” auf die Wange zu küssen. (In Chile war es damals und ist vielleicht heute noch Usus, dass Kinder für sie wichtige Erwachsene mit ‟tio” anreden, also als Onkel bezeichnen.)
Dankenswerterweise hat die Kollegin, die mit mir als Kotherapeutin die Sitzung durchführen sollte, die Situation übernommen und einige Zeit damit verbracht, der Familie die Besonderheiten des Settings zu erklären. Diese Zeit habe ich tatsächlich gebraucht, um mich von der Überraschung und Verunsicherung zu erholen, die diese vielen Küsse ausgelöst hatten. Das weitere Gespräch ging um die Probleme, die sie überwinden wollten. Das unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich aus Deutschland kannte. Zum Abschluss des Gesprächs wurde ich aber wieder von der Frau und den drei Kindern herzlich geküsst. Bis dahin hatte ich mich aber daran gewöhnt und war nicht mehr überrascht. Ich begann zu verstehen, dass das Ansinnen, die Durchführung von therapeutischen Gesprächen nach standardisierten Maßgaben zu gestalten, nur dann Sinn macht, wenn man sie an den Gepflogenheiten einer bestimmten Kultur orientiert. Diese Erfahrung sollte mir dann in späteren Jahren bei den Gesprächen helfen, die ich in anderen Ländern als Demonstration durchführte. Ich lernte, mit geringeren vorgefertigten Erwartungen an die Klienten heranzugehen.

13. Dezember 2012
von Tom Levold
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(Noch mehr) Ukrainische Episoden

Nachdem gestern Rudolf Klein mit uns seine Impressionen aus der Weiterbildungsarbeit in der Ukraine geteilt hat, gibt es heute noch einen zweiten Blick auf diese Zeit von Barbara Schmidt-Keller, die gemeinsam mit ihm diese Zeit in Ivano-Frankivsk erlebt und gestaltet hat:

Ukrainische Episoden

Einige Episoden während unserer verschiedenen Aufenthalte in der Ukraine sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Vassily hatten wir ja bereits in Deutschland kennen gelernt. Igor, sein Freund und Kollege und unser Chauffeur, hatte uns in Lemberg vom Flughafen abgeholt (Die Abenteuer der transukrainischen Autofahrten sind schon gestern an dieser Stelle ausführlicher behandelt worden). Am nächsten Tag lernten wir den Rest der Kerngruppe kennen, die zusätzlich aus  Viktor und Ira, beides Psychiater, und Oleg, der als Dolmetscher für uns arbeitete, bestand. Ira, eine attraktive Frau um die 40, hatte in der Vorbereitungsphase neben ihrer Tätigkeit in der Klinik und an der Uni zusätzlich Sekretariatsarbeit für das Systemische Projekt übernommen  und unsere ins Ukrainische übersetzten Handouts und Arbeitsblätter gestaltet.
In den ersten Kontakten mit ihnen und auch mit der Gesamtgruppe sind mir die Rituale der Begrüßung und Kontaktaufnahme am Anfang ein Rätsel geblieben.Während Rudi von den einzelnen Teilnehmern der Gruppe mit großer Höflichkeit und sehr respektvoll begrüßt wurde, nickte man mir eher aus der Ferne zu.
Ich überprüfte kurz, ob ich einen Stenoblock in der Hand und einen Bleistift hinter dem Ohr hatte, dem war nicht so. Auf den nächsten Würdenträger, der uns vorgestellt wurde, es war der Chefarzt der Klinik, der uns die Räume für das Seminar zur Verfügung gestellt hatte, trat ich dann auch entschlossen zu und schüttelte ihm die Hand. Er schien etwas überrascht, reagierte aber souverän.
Oleg, unser  Dolmetscher, erklärte mir anschließend, dass es in der  Ukraine als unhöflich angesehen werde, einer Frau die Hand zu geben, weil dies als eine Respektlosigkeit angesehen werde (Ob die Erklärung stimmt, welche ich an anderer Stelle gelesen habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese besagt, dass die Frau, die nach einem Händeschütteln in die Küche zurückkehrt, die ihr angestammter Platz ist, sich die Hände dann ständig waschen müsse, bevor sie wieder mit den Lebensmitteln hantiert, und dass man ihr dies respektvoll ersparen möchte).
Ob es auch als respektlos  angesehen wurde, als Frau diesbezüglich initiativ zu sein und die Hand eines verdutzten Mannes zu ergreifen, oder ob hier andere Bewertungskategorien gelten, ist mir nie wirklich klar geworden. Aber im Laufe der beiden Jahre begegnete man mir mit freundlicher Nachsicht. Meine rechte Hand führte manchmal ein Eigenleben und wollte schneller Guten Tag sagen, als mein Gedächtnis brauchte, um die kulturellen Unterschiede in den Arbeitsspeicher zu laden.
Und so stellten wir uns wechselseitig darauf ein, uns die Hände zu schütteln oder auch nicht, je nach dem, welcher Impuls auf welcher Seite vom jeweiligen Gegenüber zuerst dekodiert wurde.
Rudi berichtet an anderer Stelle über die korrekte Zusammensetzung eines ukrainischen Frühstücks, das wir häufig in einem Café zu uns nahmen.

Es bestand aus Eiern in jeder Zubereitungsform, süßen und salzigen Pfannkuchen, eingelegten oder frittierten Fischen, Würstchen, Kuchen, Buchweizengrütze, Brot und Butter, Marmelade, Käse oder Aufschnitt. Längere Zeit gingen wir davon aus, dass diese Angebotspalette typisch für dieses spezifische Café war, und eine Ähnlichkeit mit dem typischen ukrainischen Frühstück nicht bestünde.
Weit gefehlt. Staunend hörten wir dem Bericht einer jungen Germanistikstudentin zu, die Oleg gelegentlich beim Dolmetschen vertrat, als diese höflich nach unserem Frühstück gefragt und anschließend erzählt hatte, welche verschiedenen kalten und warmen Gerichte sie an diesem Morgen bereits zu sich genommen hatte.
Ihre Mutter, so erzählte sie, stehe an jedem Morgen um 5:00 Uhr auf, um der Familie ein Frühstück zu bereiten, welches mindestens aus drei warmen und frisch zubereiteten Gerichten bestehe.  Danach gehe sie selbst zur Schule, wo sie als Lehrerin arbeite.
Alles andere sei mit der weiblichen Ehre und dem Anspruch, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, nicht zu vereinbaren.
Oxana & Svetlana, zwei gestandene Frauen im mittleren Alter mit fast erwachsenen Kindern und beide als Oberärztinnen in der Psychiatrie tätig, bestätigten mir das in einer Unterhaltung am Rande der Mittagspause. Allerdings erzählten sie auch, wie erschöpft  von diesem Mammutprogramm in Familie, Haushalt und Beruf sie waren.
Die Situation der Frauen in der Ukraine blieb ein besonderes Thema. Viele Frauen sorgten alleine für das Einkommen der Familien. Die Arbeitslosigkeit der Männer war sehr hoch und für Frauen gab es Jobs auf dem grauen Arbeitsmarkt von Pflege, Kinderbetreuung und als Hausangestellte. Der Anteil weiblicher Migranten, die zum großen Teil illegal im Dienstleistungssektor im westlichen Europa tätig waren (und oft in der Zwangsprostitution landeten), lag damals im 7-stelligen Bereich – die genaue Größenordnung weiß ich nicht mehr. Ob es mittlerweile weniger oder doch eher mehr geworden sind? Der Versuch, die Zahl schnell zu googlen, führte auf eine unendliche  Anzahl von einschlägigen Kontaktbörsen.
Auch eine ukrainische Familie, die wir im Rahmen eines Live-Interviews in der Klinik kennenlernten, war von dieser Thematik betroffen. Die 20jährige Ola, die seit ihrem 16. Lebensjahr fast schon Dauergast in der Psychiatrie war, war von ihrem behandelnden Psychiater mit ihren Eltern eingeladen worden. Ola hatte bereits die meisten  Interventionen der osteuropäischen Psychiatrie kennengelernt. Sie war mit Elektroschocks, Neuroleptika, Insulinschock und Hypothermie behandelt worden. Eine Besserung wurde nicht erreicht. Jetzt sollte die Wunderwaffe der Systemischen Therapie zum Einsatz kommen.
Wir bemühten uns, einerseits die Erwartungen der Gruppe zu minimieren und andererseits, uns auf die Familie einzustellen. Die Mutter lebte mit der älteren Tochter seit 4 Jahren in den USA und arbeitete mit greencard in einem privaten Haushalt. Ein halbes Jahr nach ihrer Abreise war Ola zum erstenmal psychiatrisch behandelt worden.
Der Vater war seit etlichen Jahren arbeitslos und trank zuviel. Die Ehe bestand zumindest formal noch, der Vater hatte aber nicht ohne die Großmutter mit in die USA  umziehen wollen. Die Großmutter väterlicherseits lebte in der Nähe. Sie war 1947 im Rahmen der polnischen Operation Weichsel zwangsumgesiedelt worden, war früh verwitwet und hatte ihre beiden Söhne alleine großgezogen. Ola und ihr Vater waren die einzigen Angehörigen in der Nähe, der andere Sohn mit seiner Familie lebte in Portugal.
Ola wollte nicht ohne den Vater emigrieren, die Mutter nicht ganz zurückkommen. Olas ältere Schwester war mittlerweile in den USA verheiratet. Zum Zeitpunkt des Familiengesprächs war die Mutter wegen der Krise der jüngeren Tochter für einige Wochen in die Ukraine zurückgekehrt.
Wir sprachen mit der Familie über die Nöte der vergangenen Jahre, die sich wechselseitig blockierenden Loyalitäten und die Auswirkungen von Ola ’s psychotischen Krisen auf Bindung und Distanz.
Die Tochter hatte seit einem halben
Jahr kaum etwas geredet und niemandem auf der Station ihr Gesicht gezeigt, welches sie unter einer tief in die Stirn gezogenen Baseballmütze versteckte. Wir fragten die Eltern, ob sie es für möglich hielten, dass Ola sich in sich zurückgezogen habe, da die Optionen für eine befriedigende Veränderung zur Zeit so unerreichbar schienen.  Ola schob die Mütze zurück und beteiligte sich am Gespräch.
Als das Gespräch vorbei und die Familie bereits verabschiedet war, kehrte der Vater in den Seminarraum zurück und schenkte uns eine Tüte mit Äpfeln. Eine würdevolle Geste, die uns berührte. Wir saßen mit der Gruppe zusammen und aßen Äpfel und ließen den Tag ausklingen.

12. Dezember 2012
von Tom Levold
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Alles ist okay!!


Interkulturelle Zusammenarbeit kann sehr oft ungemein komisch sein, und davon gibt es heute jede Menge. Rudolf Klein hat in den Jahren von 2003 bis 2005 gemeinsam mit seiner Frau Barbara Schmidt-Keller ein systemisches Weiterbildungscurriculum in der Ukraine durchgeführt, ein Projekt mit vielen Hindernissen und wunderlich-wunderbaren Erfahrungen. Aus seinen Tagebuchnotizen hat er einen Text für den Adventskalender erstellt, für dessen Lektüre man sich unbedingt Zeit nehmen sollte:

Ukraine hin und zurück – Tagebuch einer interkulturellen Zusammenarbeit

Barbara Schmidt-Keller und ich waren lange Jahre in einer Suchtberatungsstelle des Caritasverbandes beschäftigt. Die zuständige Diözese unterhielt eine Partnerschaft mit einer Diözese in der Ukraine – Ivano-Frankivsk. Dort war ein Hochschullehrer für Psychiatrie namens Wasilij neben seiner Hochschultätigkeit in der Jugendarbeit engagiert.
Wasilij hatte die Idee, eine psychotherapeutische Ausbildung mit dem Schwerpunkt „Sucht“ aus Deutschland zu importieren. Er war aufgrund seiner deutschen Sprachkenntnisse und seines Einblickes in den psychotherapeutischen Bedarf seiner ukrainischen Heimat für eine solche organisatorische Aufgabe prädestiniert.
Wasilij besuchte im Rahmen eines Aufenthalts in Deutschland mehrere psychotherapeutische Institute, sprach mit den jeweiligen Ausbildern und entschied sich letztlich für eine systemische Ausbildung. In diesem Zusammenhang lernte er auch Barbara und mich kennen und fragte an, ob wir Interesse hätten, eine solche Ausbildung für eine von ihm „handverlesene“ Gruppe anzubieten. Die Kosten für dieses Projekt wurden durch die EU gedeckt. Träger war der Caritasverband.
Die Ausbildung setzte sich aus sechs fünftägigen Wochenkursen im Abstand von etwa drei Monaten zusammen und fand von 2003 bis 2005 in der Psychiatrie von Ivano-Frankivsk statt. Die Anreise erfolgte mit dem Zug nach Frankfurt, mit dem Flugzeug nach Lemberg (Lviv) und dann mit dem Auto nach Ivano-Frankivsk, das ca. 180 km südlich von Lemberg in den Ausläufern der Karpaten liegt. Die Übersetzung sollte durch einen eigens dafür engagierten Übersetzer erfolgen. Alle anderen organisatorischen Regelungen wie Unterkunft und Verpflegung sollten von Wasilij vorgenommen werden.
Die besonderen Erlebnisse, die sich aus der Begegnung zwischen teilweise unterschiedlich kulturell geprägten Erwartungen ergaben, habe ich damals in einer Art Tagebuch festgehalten. Einige Auszüge habe ich für den diesjährigen Adventskalender ausgesucht. 

1. Woche   

Anreisetag
Die Reise verläuft bis Lemberg unproblematisch. Züge und Flugzeug sind pünktlich. Wir werden in Lemberg von Wasilij und dem Fahrer Igor abgeholt. Igor lernen wir erst hier kennen. Er ist Psychiater, nimmt am Kurs teil und hat sich seinen alten Ford durch Maurerarbeiten während seines Urlaubs in London verdient. Die Autofahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk wirkt abenteuerlich, gibt aber auch einen ersten Einblick in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Ukraine. Zur Bewältigung der ca. 180 Km langen Strecke benötigen wir dreieinhalb Stunden. Die relativ lange Fahrdauer ist u.a. auch dadurch zu erklären, dass an der Grenze zwischen zwei Provinzen die Straße am Ende der einen Provinz ca. ein Meter höher liegt als sie am Beginn der anderen Provinz weitergeht. Beide Provinzen können sich seit Jahren nicht über den genauen Grenzverlauf einigen, sodass eine auf gleicher Höhe verlaufende Straße bisher nicht realisierbar war. Dieser Umstand wird bis ans Ende unserer Ausbildungsreihe so bleiben. Dieses unüberwindliche Hindernis kann nur durch eine Ausweichstrecke über einen Feldweg umfahren werden.

1. Tag
Der Kurs startet offiziell mit 22 Personen. Unangemeldet sind noch zwei Psychiaterinnen erschienen und werden von Wasilij aufgenommen. Ein Sponsor der Gruppe aus Lemberg (er bezahlt für einige Teilnehmer aus Lemberg den gesamten Aufenthalt, ist Geschäftsmann und Abgeordneter in irgendeinem politisch bedeutsamen Gremium) wünscht die Teilnahme seiner Gattin. Diese wird ebenfalls aus strategischen Gründen aufgenommen.

3. Tag
Der direkte Vorgesetzte von Wasilij und Igor lädt sich selbst in einem Befehlston ein und droht bei Verhinderung damit, den beiden die nächsten Kurse schwerer zu machen (Urlaub nicht genehmigen usw.). Es besteht die Hypothese, dass er seine Tochter noch in dem Kurs unterbringen will. Er erscheint verspätet, da er es als die Pflicht von Igor ansieht, ihn mit dem Auto abzuholen und anschließend wieder zurück zu fahren. Igor musste allerdings zuerst uns transportieren.
Der Vorgesetzte sitzt anfangs im Außenkreis und wird während einer Rückmelderunde in den Kreis integriert. Nach der ersten Einheit verabschiedet er sich. Barbara und ich bedanken uns für sein Interesse und teilen ihm mit, dass er bei einem erneuten Besuch willkommen sei.
Die Ehefrau und Tochter (ca. 8 Jahre) von Pater Vitali, einem Teilnehmer des Kurses, erscheinen verspätet und möchten als „interessierte Gäste“ zuhören. Mit Vitali und der Ehefrau wird in freundlichem Ton geklärt, dass diese Veranstaltung eine Lehrveranstaltung ist, Schweigepflicht besteht und persönliche Dinge zur Sprache kommen. Daher sei ihre Teilnahme nicht möglich. Außerdem sei die achtjährige Tochter vermutlich überfordert.
Eine Musiktherapeutin erscheint und möchte unangemeldet integriert werden. Parallel muss ein vom Bischof angemeldeter Priester seine Teilnahme absagen. Dieser wird durch einen anderen Priester ersetzt. Mit diesem Argument gelingt es Wasilij auch besser, die Musiktherapeutin abzuweisen. Der Kurs besteht inzwischen aus 25 Personen.

2. Woche

Anreisetag
Statt um 11.20 Uhr fliegt das Flugzeug erst um 21.00 Uhr nach Lemberg, nachdem zunächst wegen eines Schneesturmes in Kiew von einer zweistündigen, dann von einer fünfstündigen Verspätung und dann von einem Flug ab 21.00 Uhr nach Kiew informiert wurde. Eine Zwischenlandung in Lemberg sei aufgrund des Nebels nicht machbar. Die Rückreise nach Lemberg sollte von Kiew aus mit dem Bus in der Nacht erfolgen. Kurz vor Abflug in Frankfurt erhalten wir auf Nachfrage die Information, dass eine Landung doch noch in Lemberg vorgesehen sei. Ein Anruf bei Wasilij ermöglicht, dass wir um 24.00 Uhr in Lemberg abgeholt werden. Die Autofahrt inklusive Zollkontrollen ermöglicht den Bezug des Hotelzimmers in Ivano-Frankivsk um 3.30 Uhr.

1. Tag
Wir beginnen mit zwei Stunden Verspätung – wegen der Anreiseprobleme. Der Vorlesungssaal ist verschlossen. Der Schlüsselinhaber ist für unbekannte Zeit unterwegs. Die Gruppe begnügt sich mit einem zu kleinen Raum. Es erweist sich als positiv, dass die Priester noch fehlen (Wochenende), da nicht alle einen Platz finden würden. Nach zwei Stunden ist der Vorlesungssaal geöffnet – allerdings ist er so kalt, dass man darin nicht arbeiten kann. Es bleibt am heutigen Tag bei dem kleinen Raum. Für den nächsten Tag ist das Erwärmen des Vorlesungssaales vorgesehen. Möglicherweise ist wegen des Wochenendes nicht geheizt. 
Eine Teilnehmerin ist in die BRD ausgewandert. Dafür rückt eine neue Teilnehmerin nach. Sie ist eine frisch promovierte Ärztin, Tochter des Lehrstuhlinhabers, der in der ersten Woche unangemeldet erschien und als Beobachter fungierte. Angenehmer Nebeneffekt: Alle Teilnehmer, die an der Universität angestellt sind, sind nun offiziell für die Veranstaltungen freigestellt. Der organisatorische Hintergrund ist damit zusätzlich abgesichert. Wir werten die Aufnahme der neuen Teilnehmerin durch Wasilij als eine taktisch kluge Entscheidung.
Ein Auszubildender in systemischer Familientherapie erscheint unangemeldet und bittet um den Status eines Beobachters. Dies wird von Wasilij abgelehnt mit d
em Hinweis an uns, dieser Kollege sei ein „Spion“ der analytisch orientierten Psychotherapie.

3. Tag
Wir beginnen mit einer Verspätung von 30 Minuten, weil der für uns vorgesehene neue Raum vormittags zwar für uns reserviert wurde, nun jedoch noch nicht zur Verfügung steht. Die Benutzung des Vorlesungssaales wird nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen. Nach einer gewissen Verzögerung entpuppt sich der neue Raum als das Schulzimmer auf der kinderpsychiatrischen Station. Der Raum ist größer als der andere Ausweichraum, allerdings zur Hälfte mit Schultischen und integrierten Bänken versehen. Die Heizung ist kaputt und der Raum somit kalt.
Die Gruppe lässt sich von diesen Veränderungen und Vorkommnissen überhaupt nicht beeindrucken. Sie arbeiten konzentriert und offensichtlich mit Spaß.

3. Woche

Anreisetag
Wir sind bei 8 Grad plus in Frankfurt weggeflogen und bei minus 9 Grad gelandet. Dieses Mal sind wir in einem anderen Hotel untergebracht. Ein Hotel von historischer Bedeutung: 1918 wurde hier die westukrainische Republik ausgerufen. Möglicherweise sogar aus dem Hotelzimmer zur Straße hin, in dem wir nun wohnen.

1. Tag:
Heute liegt die Temperatur bei minus 14 Grad. Außer vier Gruppenmitgliedern sind alle anwesend. Eine Teilnehmerin hat vermutlich gerade ihr Kind bekommen. Ein Priester ist wegen der bevorstehenden Fastenzeit unter Arbeitsdruck. Zwei Mitglieder fehlen noch ohne Begründung. Dafür ist ein neues Mitglied, Anatolj, in die Gruppe aufgenommen worden – ein weiterer Psychiater. Die Gruppe besteht nun aus 26 Personen.

2. Tag:
Es wird wärmer: 8 Grad minus. Die vier gestern noch fehlenden Gruppenmitglieder sind heute da. Die frisch gebackene Mutter ist auch anwesend. Sie hat einen Sohn geboren und muss während des Tages zum Stillen nach hause. Morgen beginnt die Fastenzeit. Vermutlich wird dann auch der noch fehlende Priester erscheinen. Am Abend nach dem heutigen Seminar fing es zu regnen an. Das führt zu starkem Glatteis, was die Abfahrt in der Psychiatrie wegen völlig vereisten Autoscheiben erheblich verzögert. Die Fahrt ist ebenfalls langwierig, funktioniert aber ohne Unfälle.

3. Tag:
Noch wärmer: 0 Grad. Allerdings hat es in der Nacht weiter geregnet und gleichzeitig gefroren. Es befinden sich ca. 3 cm Eis auf allen Gehsteigen und Seitenstraßen. Die Bewegungsfähigkeit ist enorm eingeschränkt. Ein Glatteis wie schon lange nicht mehr. Wir kommen ca. 45 Minuten zu spät. Interessanterweise sind (fast) alle Teilnehmer bereits da. Auch der gestern noch vermisste Priester.

5. Tag:
Über Nacht hat es zwischen 5 und 8 cm geschneit. Außerdem müssen wir noch bestellten Kuchen aus einer Bäckerei abholen. Wir fahren dennoch zur normalen Zeit ab und kommen entsprechend spät in der Psychiatrie an. Die Gruppe ist vollständig anwesend. Da am heutigen Tag v.a. Übungen, Rollenspiele und Supervisionsanliegen bearbeitet werden, werden verschiedene Kleingruppen gebildet. Die Gruppe überrascht uns erneut ob ihres Improvisationsvermögens: Fünf Kleingruppen in einem Raum. Die Kleingruppen haben nur feste Schulbänke zur Verfügung, die sie, je nach Gruppengröße, im Raum immer wieder neu verteilen und so mit einer hohen Disziplin arbeiten.
Wir erfahren heute von einer „Beschwerde“ der Köchin, die für uns in der Psychiatrie eigens das Mittagessen zubereitet. Es gab immer eine Vorspeise, einen Hauptgang, einen Nachtisch und anschließend Kaffee. Die Köchin, eine kleine und ziemlich korpulente Frau hat Wasilij mitgeteilt, dass wir unhöflich seien: „Die trinken ja noch nicht einmal Wodka nach dem Essen.“

6. Tag:
Dieses Mal fahren wir „nur“ eine Stunde verspätet von Ivano nach Lemberg. Die Gründe sind unklar. Die Fahrt durch schneebedeckte Landschaften und vorbei an vereisten Sträuchern ist jedoch sehr schön. Die HWS-Symptome nehmen aufgrund mangelhafter Stoßdämpfer im alten Ford merklich zu. Lemberg ist sehr schön. Wir trinken am alten Marktplatz phantastisch guten Espresso.

7. Tag:
Eine Stunde vor Abfahrt mit dem Taxi zum Flughafen beginnt es stark zu schneien. Dies hat zur Folge, dass der Abflug um eine Stunde verzögert wird. Alle Anschlusszüge sind damit unerreichbar. Die von Wasilij ausgehändigten 50 Gryvna (falls das Taxi teurer werden sollte), wird mir an der Zollkontrolle vor der Ausreise von einem (vermutlich korrupten) Zollbeamten ohne Aushändigung irgendeiner Quittung abgenommen. Den Rest von zwei Gryvna und einigen Kopeken darf ich als Souvenir behalten.

4. Woche

Anreisetag
Auf der Fahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk werden wir darüber informiert, dass der Chef des Lehrstuhls, dessen Tochter Mitglied in der Gruppe ist, uns für Spione hält und davon ausgeht, diese Ausbildung mache die Auszubildenden zu Zombies. Allerdings scheint er dies nur den Kollegen der Abteilung vorzuwerfen. Seine Tochter bleibt dennoch weiterhin Ausbildungsteilnehmerin. Neben psychiatrischen Diagnosen wird von Wasilij und Igor noch eine zerebrale Schädigung des Chefs als Erklärungsursache in Erwägung gezogen.
Igor, bislang einer der langsamsten, reaktionsverzögertsten, vorsichtigsten und unsichersten Fahrer unseres bisherigen Lebens, erweist sich heute  als wahrer Henker am Steuer. Das einzige, was ihm geblieben zu sein schien, ist die langsame Reaktion.

1. Tag   
Das Gebäude der Psychiatrie ist frisch gestrichen. Am Fahnenmast hängt eine deutsche Flagge – zu Ehren der deutschen Gäste. Damit sind wir gemeint. Das Seminar findet heute im großen Vorlesungssaal statt, der auch zu Beginn der Ausbildung als Ausbildungsraum gedient hat. Auch dieser ist komplett renoviert. Das Dach ist repariert, der Boden ausgebessert und lackiert, Fenster erneuert, die Wände gestrichen, neue Heizkörper hängen an der Wand. Es ist hell, freundlich und aufgrund des Wetters angenehm temperiert. Allerdings dünstet der Fußbodenlack in einer Art aus, dass man Leberschädigungen und Hirnschwund befürchten muss.  
Ein unbekannter Kollege erscheint und bittet um eine Position als Gasthörer. Nach eingehender Diskussion wird dies aus Rücksicht auf die Gruppendynamik von Wasilij abgelehnt. Da der Kollege in einer systemisch orientierten Arbeitsgruppe in Lemberg eingebunden ist, bietet ihm Wasilij eine Kooperation außerhalb der Ausbildungsgruppe an.

2. Tag
Zwei der fehlenden KollegInnen erscheinen heute. Die drei anderen KollegInnen lassen sich entschuldigen, da sie aus finanziellen Gründen die Reise von ihren jeweiligen Heimatstädten nach Ivano-Frankivsk und den Aufenthalt z.Zt. nicht finanzieren können.

4. Tag
Wir beginnen mit dem Seminar erst um 12.00 Uhr, da der Übersetzer, Oleg, in seinem Hauptberuf als Professor für Germanistik (Schwerpunkt: Metaphern) noch Diplomprüfungen abnehmen muss.
Außerdem müssen wir unser Visum um einen Tag verlängern lassen. Aus Sicht von Wasilij stellt das aber kein Problem dar. „Alles ist okay!!“ (Wahlspruch und Kampfruf – oder Beschwörungsformel (?) von Wasilij).
Es erweist sich als komplizierter als gedacht. Gestern, am Nationalfeiertag, hat Wasilij zumindest die schriftliche Vorbereitung für die Verlängerung des Visums vorgenommen. Der Caritasdirektor hat diesen Antrag aber noch nicht unterschrieben. Seine Sekretärin ist auch noch nicht zum Dienst erschienen. Der Direktor war gestern in Lemberg und kam spät nach hause. Ohne seine Unterschrift sinken die Chancen, kurzfristig eine Verlängerung des Visums zu bekommen. Wir verbringen die Wartezeit mit einem Frühstück (wir: Pfannkuchen mit Quarkfüllung und Kaffee; Wassilij und Igor: Pfannkuchen mit Pilzfüllung, Würstchen, Suppe, Schweinefleisch und Tee).
Endlich liegt die Unterschrift des Direktors vor und wir fahren zum Ausländeramt. Dort wird hinter verschlossenen Türen irgendetwas verhandelt. Wir benötigen „nur noch“ zwei Passbilder, dann ist „alles okay“. Dies geschieht im Raum gegenüber der Antragsstelle. Den Raum teilen sich vier P
ersonen, von denen einer arbeitet (die Passbilder macht) und die anderen sehr interessiert zuschauen. Dann stellt sich heraus, dass Wasilij morgen erneut mit den Passbildern und irgendwelchen Bescheinigungen des Caritasverbandes beim Amt erscheinen muss, damit der Rest (hoffentlich) erledigt werden kann. Aber: „Alles ist okay!“.
Nachdem dieser Vorgang insgesamt zweieinhalb Stunden gedauert hat, versuchen wir den Fahrer Igor zu finden, der die Zeit brauchte, um seine Vorderreifen vulkanisieren zu lassen. Leider ist er zu spät, da die Straßen nach einem sehr langen Wochenende (Nationalfeiertag) total verstopft sind. Während der Wartezeit bekommen wir per Handy die Information, dass der Übersetzer Oleg dienstverpflichtet wurde und zwei Stunden länger bleiben muss. Glücklicherweise kommt ein deutsch sprechender Mitarbeiter der Malteser, Igor, vorbei und erklärt sich zur zweistündigen Übersetzung bereit: „Alles ist okay!!“

5. Tag
Wasilij kommt später zum Seminar, da er die Angelegenheit mit unserem Visum erledigen muss. Gegen 11.30 Uhr erscheint er im Seminar und erklärt, dass alles geregelt sei. Allerdings mussten die Pässe noch im Amt bleiben. Sie können erst am nächsten Tag (Abreisetag nach Lemberg) abgeholt werden. Aber: „Alles ist okay!“
Da Wasilij morgen um 14.00 Uhr Promotionsprüfungen hat, vereinbaren wir, dass er einen Fahrer besorgt, der uns nach Lemberg fährt. Die Abfahrt wird auf 11.30 Uhr festgelegt.
Das Seminar endet in guter Stimmung und das Organisationsteam um Wasilij, Victor, Ira und Igor lädt uns zu einem Wochenendhaus eines Freundes am Fuße der Karpaten ein – zu einem Abschlussessen, wie es heißt. Dort erwartet uns eine wunderschöne Landschaft mit einem abgelegenen neuen Holzhaus und einem Weiher, durch den ein Bach fließt und in dem man angeln kann. Es werden insgesamt 5 Hechte gefangen (einer von mir!!), von denen einer sofort zu einer Suppe verarbeitet wird. Anschließend gibt es gegrillte Fleischspieße mit Blumenkohlsalat und danach die gegrillten übrigen Hechte mit einem Kartoffel-Pilz-Püree – und reichlich Wodka. Es ist ein sehr schöner Abend, an dem ein Trinkspruch den anderen jagt: „Auf die Frauen“, “ „Auf die Liebe“, „Auf den Frieden“, “Auf die Gesundheit“, „Auf die deutsch-ukrainische Freundschaft“, „Auf die orangene Revolution“, „Auf das Leben“, „Auf die Kinder“, „Auf die Zukunft“…, gefolgt von einem Glas Wodka, wobei Wodka-Gläser in der Ukraine fast hiesigen Wassergläsern entsprechen. Für die anwesenden Frauen gibt es statt Wodka süßen Wein. Wir kehren erst weit nach Mitternacht eher mehr als weniger betrunken in unser Hotel zurück.

6. Tag
Wasilij will heute die Sache mit den Visa endgültig klären. Die Abfahrt soll um 11.30 Uhr erfolgen. Die Spannung steigt. Das Visum wird problemlos verlängert: „Alles ist okay!“
Allerdings verzögert sich die Abfahrt, da der Fahrer vom Malteser-Chef für eine andere „dringendere“ Fahrt eingesetzt wurde. Früheste Abfahrt: 12.30 Uhr. Der Fahrer erscheint pünktlich, bittet jedoch um eine zehnminütige Pause. Die Abfahrt erfolgt letztlich kurz vor 13.00 Uhr. Die Fahrt verläuft unproblematisch. Unterwegs sehen wir zwei fliegende Störche und ein Nest auf einer Kapelle mit mindestens drei jungen Störchen.

5. Woche

Anreisetag
Wasilij und Igor holen uns am Flughafen ab. Igor wird durch extrem schlechte Straßenverhältnisse (der Winter hat seine Spuren in Form riesiger Schlaglöcher hinterlassen) davon abgehalten, uns mit einer unnachahmlichen Mischung aus halsbrecherischer Fahrweise und langsamer Reaktion von Lemberg nach Ivano-Frankivsk zu befördern. Man kann ja auch mal Glück haben.
Wasilij teilt uns mit, dass der Übersetzer Oleg kurzfristig nach Kiew abgeordnet wurde und daher eine Studentin von ihm die Übersetzung übernehmen wird. 

1. Tag
Der Hörsaal, angekündigt als seit langer Zeit fest organisierter Raum für die fünf Tage, ist besetzt. Wir müssen erneut in das Schulzimmer der Kinderpsychiatrie ausweichen. Das kennen wir ja bereits. Morgen soll alles anders werden. Elena, die Übersetzerin tut ihr bestes. Allerdings überträgt sich ihre Unsicherheit etwas auf uns, was den Anfang nicht gerade einfach macht. Da müssen wir durch. Ersatz gibt es nicht.

3. Tag
Der Seminartag verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Eine „Kiewer Torte“, die eine Teilnehmerin (Natalja) mitbringt, schmeckt ausgezeichnet. Dadurch wird zwar die Nachmittagspause zu lang – wir teilen die Torte mit allen – es lohnt jedoch. 

5. Tag
Heute ist Sonntag. Das Seminar neigt sich dem Ende zu. Dennoch eine sehr positive Überraschung. Die Toilettenspülung in der Psychiatrie funktioniert heute zum ersten Mal für diese Woche. Das Wasser läuft hörbar in den Spülkasten und er lässt sich betätigen. Wir freuen uns und sind auf die sechste Woche gespannt.

6. Tag
Heute geht es zurück nach Lemberg. Wasilij und Igor fahren uns. Wir starten pünktlich. Unterwegs besichtigen wir Halics (garantiert falsch geschrieben), zwischen 1100 und 1200 Sitz eines Königs, mindestens aber eines Fürsten. Eine schöne kleine Stadt mit einer interessanten Festung, die sich gerade im Wiederaufbau befindet. Barbara macht schöne Fotos. Danach wieder in Richtung Lemberg. Igor fährt wie ein Irrer. Wir versuchen uns strikt an der Überlegung zu orientieren, dass Igor sicher genau so wenig vorzeitig ums Leben kommen möchte wie wir und er zwischen den Seminaren auch Auto fährt – ohne erkennbaren körperlichen Schaden. Irgendwie scheint er Situationen völlig anders einzuschätzen als wir.
Einmal überqueren ca. 30 Gänse die Straße. Die Gänsegruppe ist von weitem gut zu erkennen. Igor fährt ungerührt mit gleicher Geschwindigkeit auf die Gänsegruppe zu.  Etwa 10 Meter vor den Gänsen tritt er plötzlich mit aller Entschiedenheit auf die Bremse und rutscht in die Gänsegruppe. Die Tiere springen, fliegen, rennen, schnattern. Federn flirren auseinander. Der Anblick erinnert an eine Kissenschlacht. Igor wartet einen kurzen Moment ungerührt. Die Tiere – alle leben noch – verlassen beleidigt die Straße. Igor drückt  aufs Gas und weiter geht’s.
Die Begegnung Igors mit dem Fahrradfahrer, der in der Abenddämmerung mit einem uralten, unbeleuchteten Fahrrad auf der linken Straßenseite unterwegs ist und mit letztem Schwung kopfüber den lebensrettenden Straßengraben erreicht, muss nicht detailliert erzählt werden. 
In Lemberg angekommen machen wir eine kleine Stadtbesichtigung, trinken wieder einmal hervorragenden Espresso und merken langsam, dass uns das Seminar viel Kraft gekostet hat.

6. Woche

Anreisetag
Die letzte Ausbildungswoche bricht an. Die Fahrt nach Ivano-Frankivsk verläuft wie immer. Igor fährt aber vorsichtig, jedoch extrem unsicher. Auf der Fahrt erfahren wir, dass der Dolmetscher Oleg nicht engagiert werden konnte. Stattdessen soll uns die Dolmetscherin vom letzten Aufenthalt, Elena, übersetzen. Angeblich habe sich die Ehefrau von Oleg durchgesetzt. Diese monierte, dass Oleg zeitgleich einen Auftrag in Österreich annehmen könne – mit dem Vorteil, dass die ganze Familie dort Urlaub machen kann.
Die Hitze in Ivano-Frankivsk ist fürchterlich. Die Temperatur in unserem Zimmer unter dem Dach erinnert stark an die schlimmsten Nächte in Korsika. Die Moskitos auch. Nur verfügten wir in Korsika über Moskitonetze. Hier sind wir leichte Beute. Unbeeindruckt von der Hitze scheinen die ukrainischen Autofahrer und Discobesucher sich an neue Lautstärkenrekorde heranzuwagen. Die Bässe der Autos, die Musik- und Auspuffanlagen vollbringen wahre Wunder – bis ca. 3.00 Uhr in der Nacht.

2. Tag
Ein Abschlussfest am Ende dieser Woche ist zwar oft kommuniziert worden, keineswegs aber organisiert. Zunächst sieht es danach aus, dass es im Caritas-Gebäude stattfinden soll. Heute fährt Wasilij zur Caritas und bittet einen Pater, die Gruppe am Samstag zu segnen. Plötzlich könnte der Seminarsaal die bessere Lokali
tät sein. Warum, ist unklar. Nun soll es nach Ende des Seminars eine kleine Feier geben. Diese wird mit nicht-alkoholischen Getränken bestritten, da mindestens zwei bekennende trockene Alkoholiker in der Gruppe sind. Außerdem soll es süße Speisen geben (Kuchen, Kekse usw.). Allerdings weiß der Chefarzt der Klinik noch nichts davon. Wasilij will alles klären: „Ist kein Problem. Alles ist okay.“  

3. Tag
Heute wird endgültig festgelegt, dass morgen nach dem Seminar die Abschlussfeier stattfinden wird. Dazu soll das Seminar bereits um 17.30 Uhr enden.
Am Abend trifft der Referent aus Deutschland eigens für die Zertifikatübergabe ein. Wasilij hat auch den Chefarzt eingeladen. Oxanna wird in ihrer Doppelrolle als Bezirkspsychiaterin und Kursteilnehmerin gemeinsam mit einem Vertreter der Stadt der Feier einen offiziellen Charakter verleihen.

4. Tag
Für den Abend ist die Abschlussfeier mit Zertifikatübergabe geplant. Wasilij und das Organisationsteam verbringen fast die gesamte Mittagspause damit, Kuchen und Süßigkeiten zu kaufen.
Nach Abschluss des Seminartages kann die Abschlussfeier beginnen. Allerdings sind die Zertifikate von uns noch nicht unterschrieben. Das ist aber insofern kein Problem, weil sich herausstellt, dass der Bischof samt seinem Nachfolger irgendwohin gefahren ist und ebenfalls noch nicht unterschrieben hat. Das Zertifikat kann somit nicht übergeben werden. Die Gruppe trifft sich möglicherweise zu diesem Zweck noch einmal. Oder Wasilij versendet die Zertifikate per Post: „Alles ist okay!“
Oxanna kann nun doch nicht kommen – ebenso wie vier Teilnehmer. Sie sind auf verschiedenen Hochzeiten eingeladen. Diese häufen sich, weil dies der letzte Samstag vor einer zweiwöchigen Fastenzeit ist und während der Fastenzeit nicht geheiratet wird. Der Priester, der die Gruppe segnen wollte (oder sollte) erscheint ebenfalls nicht. Die Stimmung ist dennoch (oder gerade deshalb?) gut.  Es werden mehrere rührende und durchaus glaubhafte Dankesreden gehalten.

5. Tag
Heute ist der letzte Seminartag von insgesamt 30. Es herrschen ambivalente Gefühle. Einerseits eine gewisse Erleichterung, dass es nun ein Ende hat. Wir haben doch viel Energie gelassen und viel gearbeitet. Andererseits eine gewisse Wehmut, v.a. der Gruppe gegenüber. Wir sind gespannt, wie es laufen wird.
Die Gruppe ist vollzählig anwesend. Der Tag verläuft ruhig. Die Verabschiedung ist humorvoll und nicht zu überschwänglich. Wir werden reich beschenkt, was mit Sicherheit Transportprobleme aufwerfen wird. Wir verabschieden uns von allen. Jetzt ist es vorbei.
Nach Ende des Seminars besuchen wir einen Künstler in seinem Atelier. Ein Besuch, der schon oft angekündigt worden war, bislang aber nicht realisiert werden konnte. Auf dem Weg dorthin sehen wir Straßen mit beeindruckend schönen, aber heruntergekommenen Häusern, die eine Ahnung über das Vorkriegsleben in Ivano-Frankivsk zulassen.
Das Atelier war so, wie man sich ein Atelier vorstellt: Chaotisch, vollgepackt mit irgendwelchen Dingen und Bilder über Bilder. Diese sind sehr unterschiedlich. Teils gegenständlich, teils abstrakt, teils an Ikonen erinnernd. Wir kaufen nach einiger Überlegung ein Bild und freuen uns, nun auch Kunst aus der Ukraine in unserem Haus zu haben.

6. Tag
Es regnet in Strömen. Wir frühstücken in einem kleinen Lokal, das nach Wasilij Angaben den Charme der ehemaligen Sowjetunion versprüht. Es gibt starken Kaffee und Vareniki (vermutlich auch falsch geschrieben: eine Art Ravioli mit einer Quark-Kartoffelfüllung, zerlassener Butter und Speck).

7. Tag
Wir fahren pünktlich vom Hotel zum Flughafen. Dort erwartet uns Wasilij und verabschiedet uns. Das Projekt ist für uns zu Ende. Wir checken pünktlich ein, wir sitzen pünktlich in der Maschine, das Flugzeug hebt pünktlich ab, wir landen pünktlich und wir erwischen sogar den Zug, der uns pünktlich mit drei Umstiegen um 15.06 Uhr nach Hause bringt.
 
Nachlese:
So viel Zeit ist vergangen, so viele Menschen haben wir kennen gelernt, so viele Eindrücke in einem für uns fremden Land bekommen und so viel Unerklärliches, Unfassbares, Unergründliches erfahren. Soviel Ärgerliches, Lustiges, Liebevolles erlebt. Dennoch hat immer nur einer recht behalten: Wasilij. Denn: „Alles ist okay!“
Zwei Jahre nach Abschluss des Kurses – wir hatten bereits mit Wasilij darüber nachgedacht, einen Aufbaukurs anzubieten, bekamen wir die traurige Nachricht, dass Wasilij im Alter von 43 Jahren plötzlich verstorben war. Mit seinem Tod endete das Projekt, an das wir heute noch gerne denken. Und gerne riefe ich ihm noch zu: „Alles ist okay.“ Ich bin sicher, dass er beim Lesen dieser Zeilen auf seine ganz persönliche und schöne Art lachen würde.
Wasilij, Ira, Victor, Igor, Oleg, Elena, Oxanna und alle anderen werden uns in Erinnerung bleiben. Eine Fotografie der Ausbildungsgruppe hat einen Ehrenplatz in unserer Praxis.

11. Dezember 2012
von Tom Levold
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Du sein Künstler

Nachdem gestern ein Beitrag aus Österreich den systemagazin Adventskalender bereichert hat, tut das heute ein Text von Martin Rufer aus der Schweiz:

Ich erzähle von einem Mädchen, das den Bombenangriff  auf Sarajewo zwar überlebte, aber unter posttraumatischen Symptomen litt. Zum Termin, den ich in unserer Beratungsstelle vereinbarte,  kamen Melina (deren Name ich geändert habe) und ihre Mutter, die aber beide kaum Deutsch sprachen. Die Mutter selber wollte meinen Praxisraum, trotz freundlicher Einladung, auch nicht betreten, gab mir aber zu verstehen, dass Melina später vom Vater hier abgeholt würde.
Aufgrund der Verständigungsprobleme, aber spürbarer Offenheit und Neugier, entschied ich mich, mit Zeichnungen zu arbeiten. Melina begann auch sofort zu zeichnen und es gelang ihr wider mein Erwarten erstaunlich gut, ihre Traumageschichte (Luftangriff, Schutzraum, Angst, Ressourcen…) zu Papier zu bringen, so dass wir nach kurzer Zeit eine Anzahl Zeichnungsblätter vor uns liegen hatten.
Genauso wie die Eltern – sowohl im Prozess des Zeichnens  (in sensu), wie schliesslich auch auf den Zeichnungen selber (figürlich) – präsent waren, genauso wurde für mich beobacht- und spürbar, was in der Literatur als„Resilienz“ oder bei Antanovsky als„sence of coherence“ beschrieben wird.
Ich war in dieser auch für mich ungewohnten Stille tief berührt und somit selber in leichter Trance, als plötzlich die Türe aufgestossen wird und ein grosser, kräftiger, sichtlich überraschter Mann, den ich sofort als Melinas Vater identifiziere, in meinem Praxisraum steht, auf mich zukommt und sagt:„Ich habe gedacht, meine Tochter gehen zu Doktor und jetzt ich sehen Du sein Ki(ü)nstler“. Er drückt mir fest und fast freundschaftlich die Hand, nimmt seine Tochter liebevoll in die Arme, bedankt sich und beide – in sichbar entspannter Mimik und Gestik – verabschieden sich…
Geblieben sind mir die Zeichnungen und eine berührende Erinnerung, was Psychotherapie ausmacht (Selbstorganisation!) und warum ich bis auf den heutigen Tag gerne systemisch„therapiere“…

10. Dezember 2012
von Tom Levold
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Erinnerungen an Kopftuchzeiten …

Sabine Klar, Lehrtherapeutin aus Wien, ist Autorin der Geschichte zum 10.12. im Adventskalender. Sie berichtet eindrucksvoll und freimütig vom Versuch eines inneren Kulturwechsels, der mißlang und gleichzeitig in eine andere Form innerer Unabhängigkeit führte:

Ich bin eine Grenzgängerin – man kann das als verrückt bezeichnen, als Narretei – für mich ist es der Versuch, der Vielfalt, der ich in meinem Leben begegne und begegnet bin, gerecht zu werden und mich dennoch verantwortlich zu entscheiden. Es war für mich immer schon so, dass mir viele verschiedene Wege gleichermaßen richtig erschienen, daß ich sie verstehen und nachvollziehen konnte. Zeitweise habe ich mich auf einen dieser Wege verpflichtet – weil ich ihn intensiver, sozusagen von innen heraus verstehen wollte. Zu anderen Zeiten habe ich mich von denselben Wegen gelöst – um andere Menschen besser begreifen zu können und um wieder mehr Weite und Freiheit zu erfahren.
Vor inzwischen etwa 15 Jahren bin ich ein Jahr lang „unter dem Kopftuch gegangen“ – im vollen Bewusstsein der Provokation, die damit für mein Umfeld verbunden war, denn ich war damals schon zehn Jahre lang Psychotherapeutin, fünf Jahre Lehrtherapeutin und voll in meinem Beruf und in das konstruktivistische Denken integriert. Ich konnte meine Entscheidung damals gut nachvollziehen, wollte Heimat in einer religiösen Bindung erleben und mich gleichzeitig mit „Haut und Schleier“ auf eine Liebesgeschichte mit einem Mann einlassen. Daher stürzte ich mich in den Fluss und schwamm an ein völlig unbekanntes Ufer, kehrte zu einem einfachen Kinderglauben zurück, trat ein in eine Welt, wo es Gerechtigkeit gibt, Ordnung, Vorherbestimmung und Sicherheit. Vieles war echte Suche und echtes Finden – sich einem Gott überlassen, von dem man sich kein Bild machen darf und in dieser Hingabe Frieden finden; die Integration dieser Haltung in den Alltag; die Einfachheit und Nüchternheit des Ritus. Ich wollte zuhause sein – bei dem islamischen Mann, bei den islamischen Frauen, in der religiösen Gemeinschaft. Außerdem war ich vom Exotischen fasziniert und habe bei manchen Aussagen genickt und gestrahlt, obwohl sich mein Denken und mein Gefühl dagegen sträubten. Ich habe zugestimmt, um dazuzugehören. In diesem Rollenverhalten hätte ich mich fast verloren. Ich wußte gar nicht mehr, wer ich war – zeigte mich in der Arbeit mit Klienten anders als in der islamischen Gemeinde, anders als bei meinen Verwandten, bei meinen Dienstgebern, bei meinen Freunden. Ich konnte mich selbst in den verschiedenen Kontexten meines Lebens nicht mehr wieder erkennen. Schließlich begann ich meine Kinder in eine Richtung zu beeinflussen, zu der ich nicht stehen konnte und auch meine Therapien verloren an Qualität.
Heute erscheint mir diese Phase nur mehr schwer nachvollziehbar. Es war sicher die eigenartigste und befremdlichste Zeit meines Lebens, gespickt mit komischen Situationen: Ich bin z.B. mit dem Kopftuch bis zur Türe meiner therapeutischen Praxis gegangen, habe es dort abgelegt, um die KlientInnen nicht zu verwirren, und es beim Weggehen wieder angelegt. Ich bin in der Mittagspause in die nahe Moschee beten gegangen und habe mich dort mit konvertierten Österreicherinnen getroffen und ihren Eheproblemen zugehört. Dieselben Frauen kamen dann mit ihren vorwiegend arabischen Männern zu mir in Paartherapie, weil sie mir vertrauten. Sie konnten gut akzeptieren, dass ich im Kontext meiner Arbeit kein Kopftuch trug, im Umfeld der Moschee und auf der Straße aber schon. Die Kenntnis der religiösen Vorschriften war sehr hilfreich bei diesen Paartherapien. Die österreichischen Frauen kannten sich besser damit aus als ihre arabischen Männer, was ihnen ermöglichte, diese auf einer ihnen entsprechende Weise zu anderen Verhaltensweisen anzuregen.
Als ich von neuem aufbrach, das Kopftuch ablegte und andere Beziehungswege beschritt, empfand ich Gefühle von Verrat und von schmerzlichem Verlust. Gleichzeitig erschien es mir ungeheuer befreiend, wieder unabhängig von diversen Normen und Bindungen denken und Menschen mit anderen Vorstellungen nahe kommen zu können. Ich spürte damals sehr deutlich, wie vorläufig meine Entscheidungen waren und wie sehr die Sichtweise, mit der ich mich jeweils identifiziere, zur Konstruktion meiner Persönlichkeit und der Welt, in der sie lebt, beitrug. Alte Bindungen lösten sich wieder auf, neue entstanden. Ich fühlte wie ein anderer Mensch, wusste eine Zeitlang gar nicht so recht, wer ich war.
Die Folge dieser Lebenserfahrung ist zum einen, dass ich kein Einzelnes mehr absolut setzen möchte, auch meine diversen Rollen, Meinungen und Glaubensvorstellungen nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder erkennen würde, wenn ich in einer anderen kulturellen Umgebung auf mich träfe und verstehe Menschen besser, die in solchen sozialen Kontexten leben. Andererseits widerstrebt mir seitdem die Idee noch mehr als früher, meine Identität ausschließlich relational aufzufassen oder als bloße Erzählung narrativ zu dekonstruieren. Ich habe erlebt, dass dieses Motiv zu einer Selbstauflösung führen kann, die in Handlungsunfähigkeit und großem Unwohlsein mündet.
Manchmal berichte ich anderen Menschen über die Geschichten meines Lebens. Die damit verbundene Resonanz bietet mir einen Ort für einen Hauch sozialer und damit nicht mehr einsamer Kontinuität meines Ichs. Gleichzeitig höre ich mir zu, wie ich über mich erzähle und erkenne mich wieder, was mir in aller Veränderung Stabilität verleiht. Schön wäre, wenn das Fließen und die Vergänglichkeit umgeben wäre von etwas, das zuwendend, warm und nicht gleichgültig ist. Ich wünsche mir immer noch ein Du, das zumindest die Kontinuität der Erinnerung bietet – und damit einen Hauch „Überleben“, ein Stück hinausgezögerte Sterblichkeit.

9. Dezember 2012
von Tom Levold
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Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation

Im Jahre 2001 erschien in einem von Veronika Tacke herausgegebenen Sammelband über„Organisation und gesellschaftliche Differenzierung“ ein nun auch im Netz zu findender Text von Tania Lieckweg, heute systemische Organisations- und Managementberaterin bei osb Berlin GmbH (Foto: dortselbst) und Christoph Wehrsig, Soziologie an der Universität Bielefeld, über das Wechselverhältnis der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme einerseits und von Organisation andererseits, wobei sie sich gegen die Annahme wenden, dass durch die Ausdifferenzierung von Funktionsystemen schon festgelegt sei,„dass dass die Identität von Organisationen durch die Funktionssysteme bestimmt wird und umgekehrt Organisationsprozesse bruchlos den jeweiligen Funktionssystemen zugerechnet werden. Dabei wird übersehen, so behaupten wir, dass es sich bei der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften um einen doppelten Differenzierungsprozess handelt: Die Differenzierung von Funktionssystemen eröffnet die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung von Organisationen, die ihrerseits die weitere funktionale Differenzierung trägt. Das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft ist als ein komplementäres Steigerungsverhältnis zu verstehen. Damit ist die Frage freigesetzt, wie die Eröffnung von Möglichkeiten und jeweilige Limitationen, die die Ebenen wechselseitig einander zur Verfügung stellen, evolutionär ineinander greifen. Dies versuchen wir im vorliegenden Text zu beantworten, indem wir von der Annahme ausgehen, dass Organisation und Gesellschaft in einem Verhältnis vertikaler doppelten Kontingenz zueinander stehen“
Zum vollständigen Text…

9. Dezember 2012
von Tom Levold
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Weihnachten mitten im Jahr – ein Kind wird geboren

Der heutige Beitrag im Adventskalender stammt von systemagazin-Leserin Bernita Schönröck:

Bis vor einigen Jahren war ich in der Schwangerschaftskonfliktberatung tätig. Das folgende Erlebnis stammt aus dieser Zeit.
Eine Vierzigjährige kommt in die Beratungsstelle. Sie stellt sich vor – ein deutscher Name und ich höre es sofort an ihrem russischem Akzent: sie ist Spätaussiedlerin.  Sie ist erschrocken und fassungslos. Sie sei schwanger, sie wisse nicht, wie sie das ihrem Mann sagen solle, das Kind zu bekommen: unmöglich. Die anderen Kinder sind 12 und 14, sie sind doch schon groß und in Russland geboren und überhaupt: sich in Deutschland zurechtzufinden sei so schon schwer genug. Sie seien gerade aus der zu kleinen Wohnung in das neu gebaute, für eine vierköpfige Familie geplante Haus gezogen. Der Mann habe so lange nach einer guten Arbeit suchen müssen. Sie würden sich immer noch nicht richtig zurechtfinden, in dem fremden Land, das ihres sein soll. – Und dann ein Kind?  Sie nimmt den Beratungsschein.
 Tage darauf  ist sie wieder da. Ihr Mann habe sie in den Arm genommen. Warum um alles in der Welt hast du geglaubt ich wolle kein Kind? Es sei großartig, sie würden das schon schaffen. Sie hätten  im Haus auch Platz für ein drittes Kind. Sie selbst freut sich und sie freut sich nicht. Sie freut sich darüber, dass ihr Mann für sie da ist, dass sie ein Paar sind. Und doch bleibt sie selbst, auch wenn das Kind jetzt kommt,  skeptisch. Ich begleite sie durch die Schwangerschaft. Als das Kind auf der Welt ist sagt sie:
„Wissen sie, wir sind nirgends zu Hause. In Russland waren wir die Deutschen und hier sind wir die Russen. Ich hoffe für mein Kind, meinen Sohn, dass er der erste von uns sein wird, für den das keine Bedeutung mehr hat.“

8. Dezember 2012
von Tom Levold
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Hoffen auf den Weltmarkt

Die Geschichte von Bernd Schmid aus Wiesloch hinter dem heutigen Adventskalendertürchen berichtet von seinen Erfahrungen als Coach und Organisationsberater in Russland, die noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen:

Wiener Kollegen hatten eine Einladung nach Leningrad, wie es damals noch hieß, und baten mich, mit zu kommen. Ich war völlig unerfahren bezüglich der Länder hinter dem „eisernen Vorhang“. Dieser begann sich gerade zu öffnen und Michael Gorbatschows Glasnost und Perestroika waren die Hoffnungsbegriffe in dieser Zeit. Für viele dort und auch für uns war es eine Zeit neuer Horizonte – und der Schwierigkeiten, diese einzuschätzen. Mitten im Januar also, bei nasskalten Schneewetter, besuchten wir ein Maschinenbau-Kombinat im heutigen Sankt Petersburg. Während einer Werksführung wurde uns gezeigt, wo mitten im Werksgelände die Front im Zweiten Weltkrieg verlaufen war. Die Deutschen hatten versucht die Leningrader auszuhungern, was unsägliche Leiden mit sich brachte. Geschichte plötzlich hautnah. Wir sahen uns unvermittelt einerseits als Nachfahren einer Täternation, andererseits richteten sich ausgerechnet auf uns Hoffnungen, irgendwie mit dem Kapitalismus  zurecht zu kommen. Im ersten ausgebrachten Toast des Generaldirektors kam dies so Ausdruck: „Wir sind bereit uns große Mühe zu geben und wollen dem Weltmarkt entgegenkommen. Wir hoffen und wünschen, dass  der Weltmarkt auch uns entgegenkommt“. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr mich das russische Sentiment anrühren konnte. Umso schmerzlicher, dass wir natürlich zur erwarteten Brüderlichkeit auf dem Weltmarkt nichts beitragen konnten.
Später haben wir dann für viele Jahre ein Maschinenbauunternehmen in Orsk im Süduralgebiet begleitet. Management Seminare für das Direktorium, Unterstützung und Beratung im Bereich beruflicher Bildung und im Kindergarten Bereich. Man verstand, wie umfassend die anstehenden Umwälzungen sein würden. Die Menschen, die uns dort als Partner gegenüberstanden, waren bislang überzeugte Kommunisten gewesen. Jetzt mussten sie eine neue Orientierung finden. Und ihrer Mentalität entsprechend, suchten sie zunächst Kontakt zum Mitmenschen im Partner, um über Vertrauen entscheiden zu können. Begegnungen, für die uns systemische Ausbildungen wenig vorbereitet hatten. Zum Beispiel besuchte uns der Leiter der dortigen Handelsschule nach den Seminaren spät abends in unserem Quartier. Er stellte einen Korb frischer Erdbeeren und eine große Flasche Wodka auf den Tisch und lud uns ein, mit ihm über Weltanschauungen zu sprechen. Ich erinnere mich nicht, was wir gesprochen haben, was auch damit zu tun hat, dass am Ende die Wodkaflasche leer war. Doch künftig war er für uns ein zuverlässiger Partner. Leider wurden viele damals hoffnungsvoll angegangene Entwicklungen durch kapitalistische Prozesse  innerhalb von Russland und ökonomische Machtergreifungen durch Oligarchen zunichte gemacht. Geblieben sind einige freundschaftliche Beziehungen und eben solche Erinnerungen.

7. Dezember 2012
von Tom Levold
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Als ich einmal fremd war und auf den Hund kam

Heute öffnet Dörte Foertsch das Adventskalendertürchen und macht darauf aufmerksam, dass interkulturelle Verständnis nicht nur zwischen Europa und Papua-Neuguinea vonnöten sein kann, sondern auch, wenn mal als Berlinerin in die Uckermack zieht:

Das Thema interkultureller Begegnung und Erfahrung taucht oft in einem Zusammenhang auf, wenn Menschen verschiedener Nationalität und Sprache zusammen leben. In diesem Sinne über Kultur und Interkulturalität zu reden berücksichtigt manchmal wenig, daß es diverse Kulturen und Sprachen verschiedenster Art auch im eigenen Land geben kann. Menschen sprechen die gleiche Sprache und verstehen sich dennoch nicht, bleiben sich fremd oder erleben sich als feindselig und bedrohlich. Der Mensch aus Papua Neu-Guinea lädt manchmal mehr dazu ein, neugierig auf seine Kultur zu werden und ihn über seine Geschichte auszufragen als mein Nachbar in der Uckermark. Jetzt erreiche ich mit dem Wort Uckermark hoffentlich einiges Erstaunen, Fragen danach, wo das wohl sein könnte oder auch ein wohliges„das habe ich schon mal gehört“ oder gar„da war ich auch schon einmal“.
Die Uckermark ist eine Landschaft nördlich von Berlin in Brandenburg mit dem Naturschutzreservat Schorfheide. Es ist dort hügelig, es gibt Wälder und viele Seen, Landwirtschaft und wenig Arbeitsplätze.
Seit 1990 hat unsere Familie dort ein Haus in einem kleinen Dorf mit insgesamt 70 Häusern, einer alten Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert, einem Gutshaus, das bis Ende der achtziger Jahre als Kinderheim betrieben wurde. Es gibt dort keine Kneipe und kein Lebensmittelgeschäft, nur einen Briefkasten und Zigarettenautomaten.
Die Häuser dort sind als Siedlerhäuser nach 1945 aus den alten Gutsgebäuden von Flüchtlingen, heute würde man von Migranten sprechen, aus dem Osten erbaut worden. Die Grundstücke sind alle gleich groß, die Menschen hatten ein wenig zum Bewirtschaften und Tiere, unser Haus hatte eine kleine Wohnung mit Küche und zwei Schlafräumen, einen Stall nach hinten raus und im Dach einen Heuboden. Es gab ein Plumpsklo hinterm Haus und lediglich kaltes Wasser. Mit der Bodenreform in der ehemaligen DDR fingen viele Menschen dort an, in den LPGs zu arbeiten, nach der Wende wurden die meisten arbeitslos.
Der frühere Besitzer hatte keine Familie und verkaufte das Haus aus Altersgründen.
Eine unserer ersten baulichen Maßnahmen bestand darin, den aus Blech gestanzten Zaun abzureißen ohne schon zu wissen, wie und ob wir einen Ersatz finden wollten. Das Grundstück war also offen geworden.
Die erste Begegnung mit dem dortigen Pachtförster war sehr feindselig, ruppig und rauh. Wir hatten eine Retrieverhündin, die wir ohne Leine liefen ließen. An einem der ersten Tage dort raste wutentbrannt der Pachtförster mit seinem Jeep auf unser Grundstück. Sein Jagdgewehr hing über seine Schulter und er baute sich klein und schmächtig vor uns mit den Worten auf: „Wenn dieser Hund noch einmal ohne Leine auf dem Grundstück herumläuft, erschieße ich den.“
Da fühlten wir uns wie Feinde aus dem fernen Berlin, die alles wegnehmen wollen. Wir hatten gegen viele „Regeln“ verstoßen, ein Hund ist dort ein Wachhund, der laut bellend an der Leine liegt um Einbrecher zu beängstigen. Der Zaun ist dazu da, das wenige Eigentum zu begrenzen, welches mühsam erhalten werden muß. Der frei umherlaufende Mensch und Hund zerstört die Natur, wenn man ihn und sie nicht kennt.
Heute haben wir eine herzliche und freundschaftliche Beziehung zueinander.
Die fing an, als im nächsten Frühjahr die Störche auf der Wiese hinterm Haus nach Würmern suchten und unser Hund ein Jagdverbot bekam. Dann trafen wir uns, als die alte kopfsteingepflasterte Straße im Dorf  abgerissen wurde um eine überdimensionierte Teerstraße zu bauen und wir protestierten dagegen. Wir trafen uns, um gemeinsam gegen die Wiedereinrichtung einer großen Schweinemastanlage und den Bau einer riesigen Biogasanlage zu protestieren. Der Protest gegen und für brachte uns zusammen.
Dieser Förster ist ein naturverbundener Mensch, kennt die heimischen Tiere und Pflanzen und die wiederkehrenden Störche. Das ist unsere gemeinsame Sprache geworden. Die Uckermark ist eine Gegend, in der die Menschen alle Fremde geblieben sind. Dort gibt es kaum alte Menschen, die dort geboren sind und kaum junge Menschen, die dort bleiben wollen. Es sind überwiegend entwurzelte Menschen, die froh zu sein scheinen, wenn nichts passiert. Manchmal habe ich den Eindruck, unter diesen Voraussetzungen kann nur schwer und sehr langsam etwas wie eine eigene Kultur entstehen. Wenn dann „die Berliner“ kommen wirkt das bedrohlich. Störche haben es gut, sie kommen im Frühjahr und fliegen im Herbst wieder in den Süden, wie die anderen Zugvögel auch.

6. Dezember 2012
von Tom Levold
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Kurt Ludewig zum 70. Geburtstag

Heute feiert Kurt Ludewig seinen 70. Geburtstag. In den vergangenen 30 Lebensjahren hat er die Entwicklung der Systemischen Therapie nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern auch international maßgeblich mitgestaltet, wozu ihn seine chilenische Herkunft ebenso wie sein mehrjähriger Aufenthalt in den USA prädestiniert hat. Seiner Übersetzung von Humberto Maturanas und Francisco Varelas Buch „Der Baum der Erkenntnis“ ins Deutsche ist zu verdanken, dass die Arbeiten der beiden Chilenen hierzulande einem größeren Publikum bekannt geworden sind. Auch der Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie innerhalb der systemtherapeutischen Szene hat er wichtige Wege gebahnt. Seine zahlreichen Aufsätze sowie das eigentlich – auch wenn als solches nicht vermarktete – allererste deutschsprachige Lehrbuch der systemischen Therapie, nämlich „Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis“ aus dem Jahre 1992, haben bis heute einen weitreichenden Einfluss auf das Systemische Feld. Kurt Ludewig ist nach wie vor einer der am meisten zitierten Autoren – und das völlig zu Recht aufgrund der Gründlichkeit, Komplexität und Themenvielfalt seiner Arbeiten. Im Unterschied zu manchen anderen war er aber niemals ein bequemer Autor, der sich allzu schnell auf einen Kompromiss à la „kritisierst Du mich nicht, kritisiere ich Dich nicht“ eingelassen hätte, vielmehr kämpfte er – bei aller Verbindlichkeit in der Form – immer mit Leidenschaft für seine Ideen, Konzepte und Modelle. In den über 25 Jahren, die wir miteinander zu tun haben, mal enger, mal weniger eng, haben wir uns von Anfang an bis heute immer wieder ebenso heftig wie wohlwollend über unsere Ansichten und Positionen auseinandergesetzt und manchmal auch darüber gestritten, was nicht dazu führte, dass wir sie hätten aufgeben müssen, aber in jedem Fall dazu, dass wir sie im Zuge dieser Herausforderungen zwangsläufig besser, klarer und präziser formulieren mussten. Unsere Freundschaft hat das vertieft.
Den Lebensweg von Kurt Ludewig an dieser Stelle nachzuzeichnen würde diesen Rahmen sprengen, stattdessen ist nun in der Systemischen Bibliothek des systemagazin das ausführliche Interview mit Kurt nachzulesen, das Günter Reich für den „Kontext“ im Jahre 2008 geführt hat und in dem Kurt seinen Weg von Chile nach Europa und in die Systemische Therapie ausführlich erzählt.
Kurt war und ist nicht nur einer der führenden theoretischen Köpfe der Systemischen Szene, sondern auch ein enorm effektiver Organisator und jemand, der durch seine Initiative, seine Emotionalität (die im erstaunlichen Kontrast zu Inhalt und Form seiner theoretischen Leidenschaften steht) und seine fachpolitische Tatkraft Dinge besser als die meisten voranbringen kann. Als Gründungsvorsitzender der Systemischen Gesellschaft hat er dies sechs Jahre lang vielfach unter Beweis gestellt. Auch in diesen gemeinsamen Vorstandsjahren konnten wir aus unseren manchmal unterschiedlichen Vorstellungen immer wieder Funken schlagen, die in der Lage waren, größere Feuer zu entzünden und Prozesse in Gang zu bringen. 2004 organisierten wir dann gemeinsam (mit Gisal Wnuk-Gette, Anni Michelmann, Arist von Schlippe, Wilhelm Rotthaus und Friedebert Kröger) den großen EFTA-Kongress mit 3.500 Teilnehmern im Berliner ICC, der größte Kongress, den eine spezielle Therapieschule bis dahin in Europa zusammenbekommen hat. In den drei Jahren der Vorbereitungszeit lernte ich dann noch einmal einen Kurt kennen, der mich als Manager mit seiner Genauigkeit, einer unglaublichen Energie und einem noch unglaublicheren Gedächtnis überraschte und begeisterte (chapeau!!) – ohne ihn wäre der Kongress nicht ein solcher Erfolg geworden. Neben aller professioneller Verbundenheit hat sich zwischen uns über alle diese Jahre bis heute eine Freundschaft entwickelt, die ich nicht missen möchte. Dazu zählen viele Begegnungen an vielen (Veranstaltungs-)Orten ebenso wie die wechselseitige Begleitung in widrigen Lebensphasen.
All dies ist Grund genug, heute das Glas auf Kurt Ludewig zu erheben, ihm zu danken, was er in seinem Leben zustande gebracht hat, und ihm nachzusehen, was gewiss auch nicht gelungen ist. Auch wenn er beschlossen hat, im fortgeschrittenen „Rentenalter“ in erster Linie zu privatisieren,  ist sicher auf die eine oder andere Weise mit ihm zu rechnen – unter anderem mit einem neuen Buch, das demnächst bei Carl Auer zu erhalten sein wird. Kurt, im Namen vieler Freunde und Weggefährten: Auf Dein Wohl und Alles Gute für die kommenden Jahre!