systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

24. November 2013
von Tom Levold
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Notiz zur Liberalen Ironikerin und zu Poetischem Denken

Matthias Ohler, Bad Dürkheim

Richard Rorty gehört zu den Autoren, die in der systemischen Szene zu wenig wahrgenommen oder diskutiert werden. Eine von ihm eingeführte, sehr überzeugende Denk-Figur ist die der liberalen Ironikerin. Rorty stellt sie in seinem Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität vor, das 1989 bei Cambridge University Press erschien und bereits im gleichen Jahr in deutscher Sprache bei Suhrkamp. So liest sich das:
Dieses Buch versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten. Es zeichnet eine Gestalt, die ich „liberale Ironikerin“ nenne. Meine Definition des „Liberalen“ übernehme ich von Judith Shklar, die sagt, Liberale seien die Menschen, die meinen, dass Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun. „Ironikerin“ nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind – (…).Liberale Ironiker sind Menschen, die zu diesen nicht auf tiefste Gründe rückführbaren Bedürfnissen auch ihre eigenen Hoffnungen rechnen, (…) dass Leiden geringer wird, dass die Demütigung von Menschen durch Menschen vielleicht aufhört.Konkret führt die Exposition seines Ziels Richard Rorty zu der Überlegung:
Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als „einen von uns“ sehen statt als „jene“, hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind. Das ist eine Aufgabe (…) für Sparten wie Ethnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstücke und vor allem Romane. (…)
Auf systemtheoretisch könnte man, was Rorty avisiert, vielleicht so verstehen: der Gedanke, psychische, biologische und soziale Systeme würden nur in einem doch noch zu rettenden, bislang noch unverstandenen Ganzen unser Bild vom ganzheitlich zu verstehenden Menschen erlauben, führt in eine totalitäre, menschliche Möglichkeiten, menschlich zu sein, extrem behindernde Forderung nach Gleichschaltung.
Ich verstehe die liberale Ironikerin als die Figur – oder sagen wir ruhig: als die Person, die das unternimmt, was ich mit poetisch denken bezeichne. Es ist eine Form des Denkens, die – unter Beibehaltung auch des Ziels von Verbindlichkeit – weniger argumentiert als vielmehr radikal beschreibt. Mit einem Anspruch auf Wahrheit allerdings, die sich aber in dem erweist, was uns jetzt möglich wird zu tun, das uns niemals eingefallen wäre, ja, wozu wir gar nicht in der Lage gewesen wären, bevor so beschrieben wurde. Hier sind Texte von Arendt, Beauvoir, Bonder, Camus, Freud, Heidegger, Lessing, Maturana, Proust, Reinhard, Simon, Wittgenstein und all die unveröffentlichen Wunderwerke der „Namenlosen“ nicht aufeinander reduzierbar, sondern am gleichen Webeprozess beteiligt – alle auch mit dem gleichen Risiko, zeitweise ausgemustert zu werden.
Hannah Arendts Idee, niemand habe das Recht, zu gehorchen, ist so ein typisch poetisches Denken. Durch ihren geschickten sprachlichen Spielzug bringt Hannah Arendt die nur scheinbar unter gegenseitigem Ausschluss stehenden Sprachspiele gehorchen und ein Recht haben in einen Zusammenhang, wodurch zu gehorchen fürderhin immer eine Entscheidung sein wird, für die man selber die Verantwortung trägt. Insofern ist die Idee auch nicht selbstwidersprüchlich, wie von einigen, die sich´s einfach machen wollen, behauptet wird, sondern überwindet den Kleingeist dieser Logik durch poetischen Scharfsinn. Könnte man sagen.

23. November 2013
von Tom Levold
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Haustiere als kommunikative Ressourcen

In einer schönen Studie, die 1988 im von Hans-Georg Soeffner herausgegebenen Sonderband„Kultur und Alltag“ der Zeitschrift„Soziale Welt“ erschienen ist, befasst sich der Soziologe und Interaktionsforscher Jörg R. Bergmann (Foto: uni-bielefeld.de), bis zu seiner Emeritierung 2011/12 an der Universität Bielefeld tätig, mit der kommunikativen Beziehung zwischen Mensch und Tier. Bergmann schreibt: „“Daß Menschen mit Tieren sprechen, das ist uns im Alltag keinerlei Rätsel und scheint auch für die Wissenschaft so schimärenhaft nicht. Vor vierzig Jahren bereits behauptete ein prominenter Mitbegründer der vergleichenden Verhaltensforschung von sich,„er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ (- so der Titel seines Erstlingswerks). Und heute ist es eine Heerschar hochgerüsteter Zoologen, Ethologen, Tierpsychologen, Primatologen und anderer Verhaltensforscher, die sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der Mensch-Tier-Kommunikation beschäftigen. Doch die Arbeiten dieser Wissenschaftler lassen immer aufs neue an eine offenbar weitsichtige Bemerkung Montaignes denken, der vor über 400 Jahren im Zweiten Buch seiner Essays schrieb:„Der Mangel, der ein gegenseitiges Verständnis zwischen Tieren und Menschen verhindert, warum sollte der nicht ebensogut bei uns wie bei ihnen zu suchen sein?“. Montaignes Zweifel erhält nämlich gerade dann eine besondere Bedeutung und Aktualität, wenn man ihn auf die Arbeiten dieser modernen Verhaltensforscher bezieht. Nahezu alle diese Arbeiten durchzieht nämlich ein grundsätzlicher Mangel, der signifikant in dem eben zitierten Buchtitel zum Ausdruck kommt: während dort noch die kommunikative Leistung eines Menschen, mit Tieren zu reden, in den Mittelpunkt gerückt und als Thema des Buches avisiert wird, ist davon im Buch selbst, in dem es primär um die Schilderung der Verhaltensweisen verschiedener Tiergattungen geht, kaum mehr die Rede. Das aber kennzeichnet die Arbeiten der modernen Verhaltensforschung zur Mensch-Tier-Kommunikation durchgängig, der Mangel nämlich, daß in ihnen die Funktionsweisen und Organisationsprinzipien der menschlichen Kommunikation als bekannt vorausgesetzt und wie selbstverständlich als Bedingungen der Kommunikation mit Tieren präsupponiert werden. In kaum einem Fall wird es für notwendig befunden, den kommunikativen Part, den Menschen in der Kommunikation mit Tieren spielen, zum Thema der Untersuchung zu machen. Welches kommunikative Verhalten wir Menschen im Umgang mit Tieren zeigen, das wissen diese Forscher immer schon und scheint ihnen jedenfalls irrelevant. Für die Untersuchung der Mensch-Tier-Kommunikation ist das jedoch ein elementares Versäumnis. Denn was immer das Tier als seinen Teil in den Austausch mit einem Menschen einbringt, gewiß verlassen wir uns im Umgang mit Tieren zunächst auf unsere gattungs- und kulturspezifischen Fertigkeiten und Routinen der Kommunikation. Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen haben weder das Ziel, die Kritik an der Forschung über Mensch-Tier-Kommunikation im Detail zu belegen und auszuführen; sie beanspruchen auch nicht – einer gewissen Forschungstradition folgend -, Verständigungsmöglichkeiten zwischen Mensch und Tier zu bestimmen, noch geht es in ihnen um die„Sprache der Tiere“. Stattdessen soll an einem kleinen Datenkorpus explorativ verfolgt werden, wie Menschen im häuslichen Bereich kommunikativ mit Tieren – und das heißt hier: mit ihren Haustieren – umgehen. Gefragt wird also nach Strukturen der menschlichen Kommunikation, in deren Verlauf sich Kontakte mit Haustieren realisieren. Zu neuen Erkenntnissen über das Verhalten von Haustieren wird die Untersuchung der Mensch-Tier-Kommunikation nur insoweit führen, als wir darin etwas über uns und unsere Kommunikationspraxis erfahren.“
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22. November 2013
von Tom Levold
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Klaus Dörner wird 80!

Klaus Dörner, die zentrale Figur der sozialpsychiatrischen Bewegung in Deutschland, feiert heute seinen 80. Geburtstag. systemagazin gratuliert von Herzen! Dörner, der Medizin, Soziologie und Geschichte studierte, war von 1980 bis 1996 ärztlicher Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh. Seine Kampfesfreude und Energie im Einsatz für Patientenrechte und ein humanes psychiatrisches Hilfesystem sind ungebrochen, noch heute fährt er kreuz und quer an bis zu 200 Tagen durch die Republik und hält Vorträge zu diesen Themen. Zum Geburtstag haben sich die drei Verlage, in denen er seine wesentlichen Werke veröffentlicht hat, nämlich der Paranus-Verlag, der Psychiatrie-Verlag und der Schattauer-Verlag, etwas besonderes ausgedacht. Die Herausgeber Hartwig Hansen, Christian Zechert und Fritz Bremer haben 80 „Gastgeber“, die Dörner zu einem Vortrag besucht hat, gebeten, etwas über ihre Begegnungen und Erfahrungen mit Dörner zu berichten. Herausgekommen ist ein bunter Strauß an Würdigungen durch Weggefährten, den Cornelia Tsirigotis und Andreas Manteufel gelesen haben. Ihre Eindrücke, die systemagazin als Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung aus systhema und der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung bringt,
finden Sie hier…

20. November 2013
von Tom Levold
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Dieter Hildebrandt (23.5.1927-20.11.2013) – Einer, der fehlen wird

Vorgestern vor einem Jahr ist Daniel N. Stern, einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen der letzten Jahrzehnte, gestorben. Er hat nicht nur maßgeblich dazu beigetragen, dass die klassische psychoanalytische Ein-Personen-Entwicklungstheorie von einem intersubjektiven Ansatz abgelöst wurde, seine Arbeiten sind auch äußerst anschlussfähig für systemische Konzepte. Zum Erfolg der großen EFTA-Tagung in Berlin 2004, dem bislang größten systemischen Kongress in Europa, trug er mit einem Hauptvortrag bei. Am 24. April 2010, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod, hielt er einen Vortrag zum 50-jährigen Bestehen des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt zum Thema „A Developmental Perspective on Intersubjectivity from Birth on“, der in diesem Video dokumentiert wird.

13. November 2013
von Tom Levold
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Was kann ein Therapeut tun, wenn der Klient nicht mehr kommt?

Mit dieser Frage hat sich Haim Omer in einem Beitrag mit dem Titel „Einen Brief schreiben, wenn die Therapie ungünstig zu Ende gegangen ist?“ auseinandergesetzt, der zunächst 1991 in„Psychotherapy“ erschienen und in deutscher Sprache im Jahre 2000 in der Zeitschrift systhema (Heft 2, S. 159-174) veröffentlicht worden ist. Im abstract heißt es: „Vorgeschlagen wird ein post-therapeutischer Brief, mit dem auf misslungene Beendigungen reagiert werden kann, wenn der Klient nicht mehr für einen korrigierenden Dialog erreichbar ist. Es wird davon ausgegangen, dass sich ein schlechter Therapieabschluss aus einer negativen komplementären Beziehung entwickelt, in der das Vorgehen des Therapeuten die Nichtkooperation des Klienten in einer sich selbst aufrechterhaltenden Schleife steigert und umgekehrt. Der Brief versucht auf diesen Prozess einzugehen. Fallbeispiele erläutern die Prinzipien des Briefaufbaus und seine möglichen Wirkungen auf Problemverhalten sowie auf die zwischenmenschliche Atmosphäre zwischen Therapeuten und Klienten.“
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8. November 2013
von Tom Levold
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Zur Lage der Sozialen Arbeit

Aus der aktuellen Herbstproduktion des Paranus-Verlags in Neumünster bringt systemagazin einen Auszug. Das Buch, herausgegeben von von Mechthild Seithe & Corinna Wiesner-Rau, beide Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, versammelt anonymisierte Texte von Professionellen aus Arbeitsfeldern wie Allgemeiner Sozialer Dienst, Ambulante Psychiatrie, Arbeit mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, Arbeit mit behinderten Menschen, Berufsberatung, Einzelhilfe mit behinderten Erwachsenen u.a., Erziehungsberatung, Jugendamt, Kinderschutzarbeit, Krisenwohnung, Migrationsberatung, Mobile Jugendarbeit, Randgruppenarbeit, Schulsozialarbeit, Soziale Gruppenarbeit, Sozialpädagogische Familienhilfe, Sozialpsychiatrie, Stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, Suchtberatung, Wohnungslosenhilfe, Zugehende Berufsberatung. In diesen Texten geht es um die Entwicklung im psychosozialen Bereich, die zunehmend unter die Räder einer neoliberalen Steuerungs- und Optimierungslogik gerät. In der Verlagsinformation heißt es: „Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter berichten in diesem Buch, was sie heute im Alltag ihrer Profession an Zumutungen und Halbheiten erleben. Unter dem Diktat eines angeblich alternativlosen Sparens verkümmert ihr Einsatz immer mehr zu einer „Fast Food-Sozialarbeit“, die Schritt für Schritt ihre Fachlichkeit und ihre ethischen Werte einbüßt. Soziale Arbeit wird im Kontext neoliberaler Politik gegängelt. Hilfe wird oft gar nicht mehr gewährt oder billigere, aber weniger sinnvolle Hilfen werden der notwendigen vorgezogen. Und den Klientinnen und Klienten wird, statt sie sozialpädagogisch zu begleiten, häufig längst mit Druck und Sanktionen begegnet. „Das kann ich nicht mehr verantworten!“ Immer wieder werden Empörung und Ohnmacht darüber deutlich, als Teil einer menschenfeindlichen Sozialpolitik selbst zu Mittäterinnen und Mittätern zu werden oder die Entwürdigung der Klientel tatenlos hinnehmen zu müssen. Dieses Buch will das Schweigen über oft skandalöse Zustände in der Sozialen Arbeit von heute endlich brechen.“
Zum Textauszug… 

7. November 2013
von Tom Levold
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Der Besen, mit dem die Hexe fliegt

Unter diesem metaphorischen Titel haben der Philosoph und Psychotherapeut Günter Gödde und der Psychoanalytiker Michael B. Buchholz eine fulminantes zweibändiges Werk über die „Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten“ herausgegeben. Die Bände sind 2012 im Psychosozial-Verlag in Gießen erschienen. Lothar Eder hat die beiden Bände mit über 1300 Seiten für systemagazin gelesen. Er schreibt: „Worum geht es? Als Ausgangspunkt dient Goethes Gedicht vom Zauberlehrling; dieser bedient den Besen (in der Analogie der Herausgeber: die Psychotherapie), da ihm aber Worte und Einsicht fehlen, gerät er außer Kontrolle. Erst die Worte des Meisters („In die Ecke, Besen, Besen …“) können ihn zähmen. In Fortführung dieser Analogie führen Gödde und Buchholz aus, dass erst eine Art „hexischer Fähigkeit“ – Fantasieren im Sinne Freuds, eine Metapsychologie, die sich dem Spekulieren, dem Ahnen und der Intuition verpflichtet – dem Besen das verleiht, was er (also die Psychotherapie) braucht, um nützlich zu sein. Ohne dieses hexische Element bleibt der Besen nichts als ein Instrument zum Reinemachen, will sagen: phantasie- und intuitionslose, mechanische Anwendung von Manualen oder vorgegebenen Behandlungsschritten in der Psychotherapie. Eine Überbetonung des „Hexischen“ unter Ausblendung von empirischen Befunden andererseits führe ins Chaos, in die Verwüstung. Beide Seiten, Empirie und Intuition, eine naturwissenschaftlich-technische und eine geisteswissenschaftlich-humanistische Kultur, zwei Flügel also seien zum Fliegen notwendig. Mit der Überbetonung der empirischen Seite und einer technisch fokussierten Therapeutik, die sich an störungsspezifischen Aspekten orientiere, mache sich die Psychotherapie, um im Bild zu bleiben, flugunfähig. Dies führt zur Kernthese des Werkes: Psychologie (implizit als Grundlagenwissenschaft der Psychotherapie vorausgesetzt) sei als Wissenschaft der Komplementarität zu verstehen. Komplementarität sei (explizit im Sinne Batesons) die verbindende und übergreifende Sichtweise des harten (naturwissenschaftlich-empirischen) und des weichen (Interpretation, Deutung und Intuition betonenden) Denkstils. Als Wurzel dieser komplementären Denkweise nennen die Herausgeber in ihrer Einleitung die Quantenphysik Bohrs der 1930er Jahre. Ein Phänomen (Licht) kann aus 2 Perspektiven betrachtet werden, als Teilchen oder Welle. Erst beide Sichtweisen zusammen machen eine vollständige Erfassung des Gegenstandes möglich. Damit sind Gödde und Buchholz bei einem für Systemiker vertrauten Sowohl-als-auch statt eines Entweder-oder angekommen. Auch sind naturwissenschaftlichen Analogien einer systemischen Leserschaft aus der eigenen Domäne vertraut.“ Wie es den Herausgebern und AutorInnen gelingt, diese komplementäre Denkweise zu entfalten, bringt Eder in seiner ausführlichen Rezension den Lesern näher,
die Sie hier lesen können