systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

20. Dezember 2013
von Tom Levold
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Matthias Ohler: Ich gehöre allen. Mir gehört niemand.

Matthias Ohler, Bad Dürkheim:

So könnte man aphoristisch eine Denkmöglichkeit formulieren, die mir die erste Begegnung mit Texten Humberto Maturanas vor nahezu dreißig Jahren anbot.
Es war schon eine Art Befreiungserlebnis. – So etwas sollte man ja mit aller gebotenen Vorsicht sagen, aber ich traue mich nach sorgsamer Prüfung tatsächlich, es so nennen.
Aphorismen sind, aus meiner Sicht, Erfahrungssätze, die kurz vorm Status der Gewissheit stehen, aber noch durchscheinen lassen, dass sie aus einem oft lange erfahrenen Weg dorthin entstanden sind – und lieber nicht als fraglose Gewissheiten enden wollen.
1986 stand für mich fest, dass ich nach dem Universitätsexamen nach Tibet gehen werde. Wollte Erleuchtung suchen. Da fielen mir durch Vermittlung Hans Rudi Fischers diese Texte von Humberto Maturana ins Leben. – Folge: Ich konnte hier bleiben.
Dies steht auf einer mit persönlichen Kommentaren versehenen Literaturliste, die ich im Rahmen von Weiterbildungen zu einigen Grundbegriffen von Konstruktivismus und Systemtheorie ausgebe, bei der Empfehlung für Maturana, Humberto: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden 1982, Vieweg.
Tatsächlich verstand ich zunächst nur Bruchteile dessen, was mir in diesen alle meine Konzentration fordernden Texten angeboten wurde. Ich verstand aber sofort, dass es hier für mich auch um Chancen ging, ganz neue Ideen zu bekommen zur BeHandlung einer von mir so erlebten Grundspannung des Daseins: allein sein und zusammen sein mit Anderen. Einige heftige Konflikte, beispielsweise in Freundschaften und unserer anarchistischen Theatergruppe, hatten mich mit dieser Grundspannung immer wieder in unsanfte Berührung geraten lassen. In Maturanas Konzeption lebender Systeme als autopoietische Systeme zogen sehr neue, einleuchtende Ideen auf, die helfen konnten, die paradox anmutenden Anforderungen, die sich mir stellten, akzeptieren, ja begrüßen und auf jeden Fall besser aushalten zu können, weil ich erlebte, wie ich handlungsfähiger wurde. Besonders im Kontakt mit anderen Ideen, wie beispielsweise den Sprachspielen als Untersuchungsmethode in Ludwig Wittgesteins Philosophischen Untersuchungen oder phänomenologischen Analysen wie Jean-Paul Sartres Der Blick in Das Sein und das Nichts entfaltete sich das Autopoiese-Konzept in einer eigenen Autopoiese von Lebensbewältigung über nützliches Philosophieren und sinnstiftende Theorie, die sich immer in der Prüfung am eigenen Erleben, Tun und Aushalten zu bewähren hatte.
Die Erfahrungen in der seither ununterbrochenen Beschäftigung mit größer angelegten theoretischen Entwürfen haben mir immer wieder gezeigt, dass Theorie zu betreiben im wahrsten Sinne des Wortes ein lohnendes Geschäft ist. Der return on investment ist in der immer aufs Neue erfahrenen Erhöhung von Selbstwirksamkeit zu sehen, die diese Beschäftigung hervorbringt. Am deutlichsten, wenn man selber mit Freuden theoretisiert und dabei lernt, aufzupassen, welche Folgen sich als nützlich herausstellen – und welche nicht.
Wie fragt man gut nach dem Guten? Wie erkennt man Einladungen zu fragwürdigen anthropologischen Konzepten und schlägt sie gewinnbringend aus? Wie verhindert man, für weise gehalten zu werden – besonders von sich selbst – und bleibt fähig, zu Entscheidungen beizutragen, die sich als weise heraus stellen könnten?
Im Zentrum guter Bildung steht nicht ein Katalog von „tools of tooligans“, sondern die Suche nach Verlässlichkeit in der Vorläufigkeit. Nennen wir es vorerst Sichere Kontingenz. Das muss kein Ende finden.

19. Dezember 2013
von Tom Levold
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Björn Enno Hermans: Vom Supervisor zum Schreiben ermuntert…

Gerne trage auch ich eine Geschichte zum Adventkalender des systemagazin bei, die etwas mit meiner ersten wirklichen Schreiberfahrung (so etwas wie Diplomarbeit u.ä. mal nicht mitgezählt) zu tun hat. Und es hat mit dem systemagazin und seinem Betreiber Tom Levold zu tun, dem ich dafür noch heute sehr dankbar bin.
Aber wie kam es dazu? Ich arbeitete 2006 in der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (Elisabeth-Klinik) als Psychologe und Stationstherapeut auf der Psychotherapiestation für Jugendliche.
Seit etwa zwei Jahren war Tom Levold unser Supervisor und so kam es, dass er uns auch von seinem damals noch recht neuen und jungen Projekt, dem systemagazin, berichtete.
Begeistert las ich fast jeden Tag die neuen Beiträge und nach einer Supervision kamen Tom und ich noch kurz ins Gespräch. Ich berichtete ihm, dass ich im März zur Systemischen Forschungstagung nach Heidelberg fahren würde und darauf schon sehr gespannt sei. Tom sagte, dass er noch nicht wisse, ob er teilnehmen könne und fragte mich sofort, ob ich nicht Lust hätte, einen Tagungsbericht für das systemagazin zu verfassen. Etwas „veradttert“ sagte ich sofort ja, da ich mich über die Wertschätzung und das offensichtliche Zutrauen dieser Aufgabe freute. Auf der anderen Seite begannen Gedanken, wie das wohl gut zu bewerkstelligen sei – einen solchen Bericht hatte ich schließlich noch nie geschrieben und ich wollte mich bei der systemischen Leserschaft sicher auch nicht gleich blamieren. Parallel hatte mich Tom ermuntert, doch vielleicht auch einmal über eine Rezension nachzudenken. Das fand ich eine wirklich gute Idee und beschloss mich mit einer solchen quasi schon mal „warm zu schreiben“, bevor ich dann im März nach Heidelberg fahren würde. Gesagt getan und so war die Rezension eines notfallpsychologischen Handbuchs fertig und schon im systemagazin veröffentlicht, bevor ich dann nach Heidelberg zur Forschungstagung fuhr. Dort war ich dann tatsächlich aufgeregt vor lauter Inhalten und systemischer Prominenz. Ganz entgegen meiner eigentlichen Gewohnheit machte ich mir ständig Notizen, um auch ja nichts wichtiges zu vergessen. Schon auf der Rückfahrt im Zug tippte ich dementsprechend auch schon die ersten Zeilen in den Laptop und war auch nach der Rückkehr bemüht, den Bericht möglichst zeitnah fertig zu stellen. Gar nicht so einfach, denn vor lauter detaillierten Notizen und Erinnerungen fiel es schwer, zu priorisieren und einen möglichst intressanten Sprachstil zu finden. Dementsprechend war ich dann auch wieder etwas nervös, als ich das fertige Werk an Tom gemailt hatte. Würde es ihm gefallen, oder vielleicht auch gar nicht? So schlimm war es dann nicht, denn der Bericht wurde ohne Veränderungen im systemagazin veröffentlicht.
Meinen heutigen Adventkalenderbeitrag habe ich zum Anlass genommen, den Text von damals noch einmal im systemagazin zu lesen. Fast hatte ich befürchtet, mit dem zeitlichen Abstand von heute vielleicht mit dem Produkt nicht mehr zufrieden zu sein.
Doch, ganz im Gegenteil, konnte ich noch einmal schöne Erinnerungen an die damalige Tagung in Heidelberg an mir vorbeiziehen lassen.
Diese ersten Gehversuche für das systemagazin im Jahr 2006 haben mich dann auch motiviert, weitere Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern in Angriff zu nehmen. Und wenn ich 2014 zu Beginn der ersten europäischen Forschungstagung in Heidelberg das Grußwort der DGSF sprechen darf, werde ich mich sicher an 2006 und an den Tagungsbericht zurückerinnern. Ich bin also wirklich dankbar, mit so einer einfachen Frage auf die Spur von Veröffentlichungen gesetzt worden zu sein. Danke Tom! 

18. Dezember 2013
von Tom Levold
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Joachim Hinsch: Leichter wäre es gewesen, einen Beitrag zu schreiben, bevor ich die anderen gelesen habe. Aber dazu müsste man halt schneller sein

Mein Lernen war immer eher durch persönliche Begegnungen und Nebensächliches geprägt, weniger durch die einsame Lektüre wichtiger Bücher. Der Wechsel von der psychoanalytischen zur strukturellen Familientherapie passierte mir dadurch, dass Welter-Enderlin den zentralen Begriff des Widerstandes der Psychoanalyse in ein anderes – systemisches – Licht setzte, das mich total faszinierte. Zum Verständnis des Problemsystems wiederum, das uns Kurt Ludewig in einem Seminar in Wien vermitteln wollte, kam ich nicht bei diesem Seminar, sondern weil ich Kurt im Rahmen einer „Dienstreise“ in meiner Heimatstadt Hamburg besuchen wollte, ihn sozusagen zu diesem Zwecke utilisierte und ihm dort bei seinen Therapien zuschauen konnte. Also quasi ein Heimaturlaub auf Kosten des Arbeitgebers. Den ersten Artikel, den ich gemeinsam mit Egbert Steiner in der Familiendynamik („Metaphern“) veröffentlichen konnte, entstand dadurch, dass Egbert hinterm Spiegel saß und in seiner großen Belesenheit entdeckte, was ich dort unter dem Aspekt eines systemischen Verständnisses praktizierte. So lernte ich durch mein eigenes Tun, weil er dieses Tun in eine systemische Sichtweise brachte. Ich war sehr stolz auf uns und unseren Artikel, auch wenn ihn offensichtlich außer dem Gutachter niemand gelesen hat. Ein anderer Artikel über das Jugendamt wurde von Tom Levold gelesen und in sein wunderbares Konzept vom Problembesitz gebracht. So hatte ich auch dazu einen Zugang. Unter diesem Aspekt konnte ich übrigens später die Trilogie von Stieg Larsson lesen, wo er das Leben der Lisbeth Salander einerseits aus der Sicht der Jugendamts- und Psychiatrieakten  und andererseits aus seiner eigenen Sicht erzählt. Zwei Welten, die sich aus  unterschiedlichem Problembesitz ergeben. Aber nie war und bin ich mir sicher, ob ich die großen Denker unserer Zunft wirklich verstanden habe. Doch da kam mir ein kleiner Beitrag von Fritz Simon im Internet über Fußball und System in die „Finger“, wo er verständlich macht, dass Regeln ein System machen, Menschen dessen Umwelt sind. So begriff ich Systeme jetzt wirklich (?) und freute mich, dieses Verständnis auch in meiner Erinnerung an die Kinderlektüre „Pinocchio“ wieder zu finden: die Marionette, die durch eine dumme Laune einer Fee sich ohne Fäden/Erwartungen bewegen konnte und dadurch in ziemlich viele Probleme geriet. Zum guten Schluss kommt er dann doch wieder an die Strippen menschlicher Erwartungen und wird ein braver Junge. Ganz anders als Hänsel und Gretel, die sich nicht an die Erwartungen halten. Gretel verstreut Brotkrümel, was jeder Erwartung an ein halbwegs vernünftiges Mädchen widerspricht. Deshalb streiten sich Hänsel und Gretel aber nicht, was man doch wohl erwarten könnte, sondern suchen sich eine reiche Frau, töten sie, klauen ihr Gold und gehen zum Vater zurück, was nur dadurch gerechtfertigt ist, dass die Mutter sich als die wahrhaft Böse herausstellt.
Die Liste von Romanen, Erzählungen, Märchen, Liedern und Gedichten, Filmen, die unser therapeutisches Tun bereichern können, ist unendlich, muss aber wohl von jeder TherapeutIn selbst entdeckt werden, obwohl ich große Lust hätte, viel mehr zu erzählen.
Natürlich haben mich auch manche Bücher inspiriert, besonders in den letzten Jahren Luhmann. Ich weiß nicht, ob ich ihn so verstanden habe, wie er es sich trotz aller Kontingenz wohl wünschen würde. Aber er hilft mir unglaublich, die Kommunikation, die Paare trennt und sich aufeinander beziehen lässt, zu verstehen, Ärger in Verstehen zu verwandeln, zu begreifen, dass der Anspruch von Paaren, einander zu verstehen, unerfüllbar ist und dass ich sie auch nicht verstehen muss, aber trotzdem hilfreich sein kann.

17. Dezember 2013
von Tom Levold
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Lisa Reelsen: „Leben, um davon zu erzählen“ (G.G. Márquez)?

Hören kommt vor Sprechen, Lesen vor Schreiben… so heißt es in der Literatur zum Fach „Deutsch als Fremdsprache“.
Gereimtes zu hören gefiel mir sehr früh, die gesungenen Lieder meiner Mutter, ihre witzigen Sprüche und Spiele mit Sprache. Die Zitate von Joachim Ringelnatz und  Heinz Erhardt, die mein Onkel bei seinen sonntäglichen Besuchen fast nebenbei zum Besten gab, liebte ich. Ich blätterte mich durch die dicken Willhelm-Busch- Bücher meines Vaters und amüsierte mich über die Zeichnungen. Fips, der Affe … Als ich lesen konnte, tackerte ich mir wohl selbst ein ordentliches Repertoire lustiger, „sinnloser“ Verse in mein Stammhirn. Zu fast jeder Zeit kann ich sie heute noch abspulen.
In der Grundschule las ich mich eher durch die Internats-, Pferde, und Abenteuerbücher für Mädchen. Allesamt waren sie einfach gestrickt, es gab die klare Trennung zwischen Böse und Gut und am Ende gingen alle Geschichten wunderbar friedlich aus. Deshalb mochte ich sie wohl. Bei jedem Einkauf mit meinen Eltern bettelte ich und ich bekam sie auch.
Der Versuch, mich in der „richtigen“ Literatur zu bewegen, ging – 9-jährig – sehr schnell schief… zunächst jedenfalls. Denn im Gymnasium arbeiteten wir 1969 mit dem Lesebuch „Wort und Sinn“, damals ein für Kinder wenig ästhetisch ansprechendes Buch. Viele, sehr viele kleingedruckte Texte, daneben – fast als missglückte Entschuldigung für die vielen Buchstaben – einige wenige Bilder aus der Kunst, zwar in Hochglanz gedruckt, doch dafür schwer: Caspar David Friedrich war vertreten und ich kann mich an ein Gemälde erinnern, das Heinrich den VIII. abbildete, welches wir beschreiben sollten. Ich versagte darin völlig, fand wohl nicht die passenden Worte.
Dann nahm ich das Lesebuch eines Abends mit ins Bett. „Die rote Katze“, dieser vielversprechende Titel für ein Kind, reizte mich. Doch diese, für mich mehr als traurige Geschichte von Luise Rinser, ließ mich verzweifelt die halbe Nacht weinen und  Lesebücher, die wir in der Schule nutzten, nahm ich nie wieder freiwillig in die Hand. Luise Rinser entdeckte ich erst viel später wieder neu. Der Deutschunterricht bis zur 10. Klasse war extrem langweilig, das Lesen empfand ich vor allem in der Pubertät als lästig und nervtötend. Durch die Interpretationsmanie mancher Lehrer, und das Sezieren von Texten u.a. mit der Frage: „Was möchte uns der Autor damit sagen (und wehe, ihr ratet nicht richtig)?“ ließ mich die Literatur meiden. Auch an den Texten von Brecht fand ich erst nach dem Abitur Gefallen. Doch mein Französischlehrer in der 11. Klasse machte uns mit Sartre vertraut. „Huis clos“ – und er ließ uns die darin beschriebene Situation imaginieren. Drei Eingeschlossene in einem Zimmer in der Ewigkeit und unsterblich… Keine traditionelle Interpretation, dafür subjektive Annäherung an den Inhalt und dann an die Form. Er war begeistert und diese Begeisterung schwappte auf viele von uns über, auch auf mich. Dann erzählte er von Albert Camus. Bevor wir „Der Fremde“  zu lesen begannen, ging ich davon aus, dass er eine Frau meinte. Ich hatte sie anfangs unter Alberca Mus abgespeichert. Ich musste darüber lachen, als ich vor ein paar Wochen in der Zeit einen langen Artikel über ihn las. Der Zugang zum Absurden über Ionesco und Beckett bereicherte mich ebenfalls und ich begann das Theater zu lieben.
Mit dem Schreiben war es ähnlich. Anfangs gerne schreiben, dann schreiben müssen und anschließend nicht mehr wollen. Später wieder genießend, so auch eine besondere, seit 20 Jahren dauernde Brieffreundschaft innerhalb Deutschlands, die der Technik trotzt und vielleicht deshalb so wärmt.
Als Zwölfjährige sah ich eines Abends 1973 das Fernsehspiel „Der Zweck heiligt die Mittel“. Ein Film mit Fritz Ungelter als Regisseur und Jörg Pleva als einen der Hauptdarsteller. Das Beziehungsgeflecht der Personen in diesem Film war dermaßen komplex – zumindest für mich, und gleichzeitig so faszinierend, dass ich noch am Abend begann, diese Geschichte aufzuschreiben, damit ich sie nicht vergaß. Jörg Pleva starb in diesem Sommer 2013 und ich erinnerte mich an die nächtliche Aktion. Es ging um ein Familienunternehmen, das weiß ich noch und um verschiedene Ideen, die aufeinander trafen. Man blockierte sich gegenseitig und griff zu unschönen Mitteln, die Situation zu lösen, daher wohl der Titel. Ob es ein guter Film war oder nicht… – mich hatte er jedenfalls beeindruckt und zum Schreiben veranlasst.
Trotz oder wegen meiner Liebe zu Literatur und Theater und der für mich damit verbundenen einzigartigen Möglichkeit, mich mit den Gedanken anderer, auch denen von fantasierten Personen, in einer dichten Form auseinanderzusetzen, studierte ich zunächst nicht Deutsch, sondern u.a. Mathematik. Das Examen konnte ich nicht gleichzeitig mit den Mitgliedern meiner Lerngruppe ablegen, da mich eine fette Grippe über zehn Tage ins Bett geschleift hatte. Ein Freund aus dieser Gruppe brachte mir „Hundert Jahre Einsamkeit“ vorbei, durchaus ironisch gemeint von ihm, da ich doch schon so lange malad im Bett hing. Er habe es ausgewählt, da es an der Kasse im Buchladen lag, meinte er und da immerhin eine Zahl im Titel vorkäme. Selbst lese er ja nicht, fügte er noch hinzu. Es war 1982 und Gabriel García Márquez hatte den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Vor dem dicken Buch hätte ich wohl schon vor dem ersten Satz kapituliert, doch lag ich flach, hatte viel Zeit und als der Kopfschmerz nachließ, begann ich zu lesen. Um den Überblick der vielen Personen mit dem Namen Antonio Buendía nicht zu verlieren, malte ich mir auch dazu einen Stammbaum. Das Buch las ich in wenigen Tagen durch und es hat mich verändert. Ich legte es eine Weile sogar stets in meine Nähe und bedauerte es ausgelesen zu haben. Lateinamerikanische Literatur las ich von diesem Zeitpunkt an kreuz und quer, wie süchtig danach. Ich denke an „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ und mein Erstaunen darüber, dass auch in diesem Buch die dargestellten Beziehungen für den Leser nicht entwickelt werden. Sie sind einfach da, sie brechen ebenso plötzlich ab und machen stutzig. Ich erinnere mich, dass darin sehr ausführlich über mehrere Seiten die erfolgreiche Rettung eines Papageis aus einem Baum beschrieben wird. Auf den nächsten Seiten wird fast im Nebensatz ganz beiläufig erwähnt, dass der Mann, der Retter des Papageis, dann gestorben ist. Keine weiteren Erläuterungen. Das ist sie, diese selbstverständliche Unmittelbarkeit, über die ich anfangs beim Lesen gestolpert bin und die ich jetzt oft als Antwort auf die Frage, warum ich Südamerika so mag, gebe. Durch Kolumbien bin ich gereist, auf den Spuren von Márquez. Mittlerweile habe ich viele Romane auf dem iPad, nur um manchmal auf Reisen ein paar Sätze in den schon gelesenen Büchern nachzulesen.
Ganz sicher wegen der lateinamerikanischen Literatur zog es mich nach dem Studium beruflich nach Südamerika, wo ich schon einige Zeit meines Lebens verbracht habe, drei Jahre in Argentinien, drei Jahre in Mexiko und nun schon wieder zwei Jahre in Chile. Ich halte u.a. Seminare zu „Kreativem Schreiben“ im Rahmen des Faches „Deutsch als Fremdsprache“, lasse schreiben und erzählen, während ich selbst schreibend am PC eher mit Protokollen von Beratungen nach Schulbesuchen zu tun habe. Die Studenten, die sich zunächst oft nicht trauen, lassen sich dann doch auf den Schreibprozess ein und freuen sich an den Ergebnissen. Und nun habe ich einfach auch mal wieder ein bisschen was anderes aufgeschrieben. Mehr soll es auch nicht sein. Dass ich übrigens mein Mathe-Examen noch gut bestand, verdanke ich dem nicht les
enden Studienfreund, der mich bis zum Nachholen der Prüfungen kurzfristig wieder auf die Welt der Zahlen einstimmte.
Den Zugang zu systemischen Texten fand ich auch erst nach und nach. Die Fachliteratur eröffnete mir eine weitere Welt. Sie strengt mich oft an, ähnlich wie die Unmittelbarkeit hier in Chile, doch ich möchte beide nicht missen. Jetzt setze ich mich auf meinen Balkon, genieße den sehr warmen Sommer hier in Santiago und beginne das Buch von Harald Irnberger zu lesen, eine Biografie von G.G. Márquez mit dem Untertitel „Die Magie der Wirklichkeit“, die ich schon seit langer Zeit besitze, für die ich mir jedoch noch keine Zeit genommen habe. Ich glaube, ich beginne mit dem Kapitel „ Befreiung durch die Kraft der Einbildung“.
»Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ (G.G. Márquez)

16. Dezember 2013
von Tom Levold
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Dominik M. Rosenauer: Leseerlebnisse

Ich lese gerne, seit ich lesen kann. Schon auf dem Schulweg bin ich oft mit Buch in der Hand lesend nach Hause gegangen. Im Studium dann weniger gerne, weil die Lehrbücher in deutscher Sprache den Nachteil haben, dass sie meist ziemlich unlesbar geschrieben sind – vor allem, wenn man sie z.B. mit englischen vergleicht. Fachliteratur hat oft den Nachteil, dass in vielen Worten wenige Neuheiten versteckt sind.
Wenn es dann löbliche Ausnahmen gibt, fallen die besonders auf. Eine dieser auffallenden Ausnahmen fiel mir zufällig in den Schoß und wurde sogar zur Basis meiner Diplomarbeit: George Alexander Kellys„Psychology of Personal Constructs“. Ein Buch, das in den Fünfziger Jahren in Amerika verlegt wurde und dort so wenig Nachhall fand, dass es zu Beginn des dritten Jahrtausends kaum aufzutreiben war. Es war ein wenig seiner Zeit voraus: mitten in der Hochblüte der dunklen Zeit des Behaviorismus kam da einer mit konstruktivistischen Ideen.
Ein zweites Leseerlebnis dieser Art hatte ich dann Jahre später bei Marshall McLuhans Werk „Understanding Media“. Nur ein Jahrzehnt nach Shannon und Weaver sprach da einer über Medien und Kommunikation auf eine ganz andere Art. Eine Art, die heute beim Lesen noch modern und kreativ erscheint. 40 Jahre vor dem Internet und mindestens 60 Jahre vor den sozialen Netzwerken wurde das „global village“ vorweg genommen und damit die Einfachheit der Kommunikation über den ganzen Planeten und deren Auswirkungen auf uns Menschen als Gesellschaft. Auch die Unterschiede der Medien und deren unterschiedliche Auswirkungen auf die Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung („hot and cold media“) war ein Denkansatz, der seiner Zeit weit voraus war – und heute über weite Strecken in Vergessenheit geraten ist. Denn auch das moderne Internet und dessen diverse Spielarten (Chat, Video-Übertragung, statische Webseiten versus soziale Netzwerke) lassen sich mit dem Gerüst dieser Überlegungen viel besser verstehen und in ihrer Bedeutung ermessen.
Die Leistung solcher Wissenschafter ist meines Erachtens gar nicht hoch genug einzuschätzen. Immerhin war das Terrain damals denkbar ungünstig für theoretische Überlegungen, die völlig konträr zum damaligen mainstream liefen. Heute ist es mit Sicherheit einfacher, Konstruktivist zu sein. Man ist einer unter vielen. Es ist auch bezeichnend, dass beiden Wissenschaftern zu Lebzeiten nie die Bedeutung zukam, die sie eigentlich verdient hätten. Und diese „Ächtung“ der Scientific Community zieht sich bis heute fort. Denn wer weiß schon, was hinter den Schlagworten „the medium is the message“ tatsächlich steht?

15. Dezember 2013
von Tom Levold
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Ulrich Sollmann: Dem erlebten Gedanken schreibend Ausdruck verleihen

Ich war keine Leseratte. Meine Vorliebe galt der damals so genannten „Schundliteratur“. Diese war in meiner Jugend  der pädagogische Gattungsbegriff für Mickey-Mouse-Hefte, Fix & Foxi, Sigurd, Nick der Weltraumfahrer oder Jerry Cotton. Ich favorisierte die eher kürzeren, heute würde man sagen „bildgestützten“ Texte, deren Lektüre mich durch das Zusammenspiel von lustigen Bildchen, kurzen Texten und plakativen, daher umso spannenderen Inhalten lockte.
Diese meine spezielle Vorliebe begleitet mich seitdem im Leben auch als Schreiberling. Anfangs versuchte ich mich im akademischen Schreiben, später musste ich für die Krankenkassen Berichte schreiben:  Psychotherapieanträge, Verlängerungs- und Abschlussberichte. Diese gehörten zu meiner Abrechnungspraxis im Rahmen der Kostenerstattung (lange vor Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes). Leider wurden die Berichte durch die Kassen nicht bezahlt. Wie also, so dachte ich mir damals, könnte man die Verpflichtung der Krankenkasse gegenüber, die Verantwortung den Klienten gegenüber, aber auch die Lust auf meine eigene Freizeit sinnvoll miteinander verbinden?
Im Rahmen von Weiterbildungs-Workshops wurden damals einige meiner Kommentare zu Konzepten von Körperpsychotherapie und Gruppenprozessen  auf Tonband festgehalten. Ich war also ein wenig vertraut mit Tonband und Diktiergerät, auch wenn sich die auf dem Tonband festgehaltenen Diskussionen anfangs doch eher kryptisch anhörten.
Die Hemmschwelle einem solchen Gerät gegenüber war also niedrig und verbunden mit der Not, Effizienz im Rahme der Abfassung von Berichten walten zu lassen, ermöglichte mir das einen Zugang zum eleganten Schreiben, anfangs im Bereich Psychotherapie, später dann im Bereich Populärliteratur, bis hin zu meiner heutigen Schreibe im Blog oder Kolumne. Einen Zugang, der eher kurz und bildhaft ist, „plakativ wirkend“ und spannungsvoll. Heute weiß ich, dass ich hierdurch ganz unterschiedliche Lesergruppen erreichen kann.
Damals hatten wir gerade unsere beiden Kinder bekommen, was meine Zeit zum Abfassen solcher Berichte natürlich noch schmälerte. Lediglich in der Zeit, wenn meine Frau und die Kinder mittags schliefen, bot sich mir die Möglichkeit, überhaupt Berichte zu schreiben.
Allmählich entwickelte ich bei den gesprochen-geschriebenen Texten eine gewisse Fertigkeit. Meine Sekretärin tippte die Berichte und legte sie mir zur Korrektur vor. Im Laufe der Jahre verfeinerte ich Konzept, Struktur und Stil meiner „Schreibe“:  den Therapieprozess nachzuerleben, nach-zu-denken und gestützt durch meine stichwortartigen Aufzeichnungen ins Mikrofon des Diktiergeräts zu sprechen. Im Laufe der Zeit verringerte sich der Diktier-Aufwand erheblich. Gleichzeitig machte es mir sichtlich Spaß, die Berichte zu verfassen.
Ich gewann Zeit. Dies wirkte sich auch ökonomisch aus. Und ich bekam Lust auf mehr. Mehr zu diktieren, mehr diktierend auszuprobieren, mehr mich selbst diesbezüglich zu entwickeln, sowie mehr Lust, über Klienten und mich in der Therapie zu schreiben.
Der Umstand, dass die Berichte in der Regel kommentarlos vom medizinischen Dienst der Krankenkassen, sprich vom Gutachter, akzeptiert wurden, machten mir Mut, meine Berichte schließlich nur noch so abzufassen.
Um nahe genug auch am Klienten zu sein, gab ich vor Abfassen des Berichtes einen Fragebogen aus, um mich später auch auf die konkreten (Selbst-) Aussagen der Klienten stützen zu können. Insoweit machte ich die Erfahrung, dass ich die wesentlichen „Anspruchsgruppen“ befriedigte: Krankenkasse, medizinischer Dienst, Klienten, mich selbst.
Anfang der 90-er Jahre begann ich dann in dieser Form ausführlich, differenziert, bildhaft und „professionell unüblich“ über Körperpsychotherapie, über Klienten und mich zu schreiben, was wiederum einen wesentlichen neuen Einfluss auf meinen Umgang mit Klienten in der Therapie und mit mir selbst ausübte. Während ich zuvor über Fälle schrieb, kam es mir vor, dass ich nun therapeutische Geschichten schrieb.
Psychotherapie ist eine gemeinsame soziale Aktion von Klient und Therapeut. Ein Dialog, der die vergangene Wirklichkeit, die Lebensgeschichte erinnern und erleben lässt sowie durcharbeiten hilft – auf eine Weise, dass das Früher und das Heute miteinander vereinbart sind.
Dieser Rekonstruktion von Wirklichkeit in der Therapie steht das aktuelle Geschehen in der Therapiesituation, in der Therapiebeziehung selbst gegenüber. Klient und Therapeut erschaffen gewissermaßen gemeinsam ihre lebendige Wirklichkeit. Diese Konstruktion von Wirklichkeit ist ein kreativer, einmaliger Vorgang, in den die Selbst-Erfahrung sowohl zur Selbst-Findung als auch zur Selbst-Erfindung wird. Das Geschehen in der Psychotherapie, die Therapiebeziehung, ist somit immer Beschäftigung mit der Vergangenheit und situationsspezifische, neue Gestaltung zugleich. Etwas, an dem Klient und Therapeut gleichermaßen beteiligt sind.
Das Zusammenspiel der von mir gelebten, unterschiedlichen Rollen kann m.E. am Besten als ein narratives Geschehen beschrieben werden. Bin ich doch zugleich immer als Therapeut, als „Vertreter“ der Krankenkasse, als Mensch, als Mann, als Vater oder Schreiberling mit im Spiel. Narrativ zu schreiben meint m.E. gerade in der Körperpsychotherapie auch über noch-nicht-bewusste, nicht bewusste, unbewusste Dinge zu schreiben, die nicht selten wie ein Geheimnis wirken. Therapie wird zur gemeinsamen Spurensuche von Klient und Therapeut, zu einer Entdeckungsreise ins Unbekannte.
Die therapeutische Geschichte ist also keine Fallgeschichte im herkömmlichen Sinne. Sie zeigt wie ich Therapie mache und wie das wirkt, was da wirkt. Sie ist ein Ausschnitt aus einem oft jahrelangen, hochkomplexen Prozess einer Therapiebeziehung, die sowohl durch Übertragungselemente, reale körperliche Begegnung als auch andere Formen der Realerfahrung zugleich gespeist wird. Die therapeutische Geschichte kann m.E. besonders subtil dynamische, atmosphärische und nicht-bewusste Aspekte des Therapiegeschehens spiegeln. Dies ist in herkömmlichen Fallschilderungen, sogenannten Fall-Vignetten so nicht möglich, sind diese doch eher anonym, abgespalten, zu stark eingegrenzt, seziert.
Ich hoffe, durch die therapeutische Geschichte in einen „Zwischenbereich“ vordringen zu können und diesen zu beschreiben. Gemeinsam mit den Klienten den Ort „magischer Geheimnisse“ zu betreten, das dort wirkende Unbekannte, die Spannung, die Aufregung oder gar die irritierende Langeweile zu erleben, um dann diesem Zwischenraum, diesen Zwischentönen menschlichen Lebens Gestalt zu verleihen. Indem ich Vergangenes und Zukünftiges in der therapeutischen Geschichte verknüpfe, hilft diese, zu verstehen, schafft aber gleichzeitig auch etwas Neues, indem sie eine Wirkung beim Klienten, bei mir und bei möglichen Lesern hervorruft.
Anfang der 90er Jahre habe ich in zwei Büchern zahlreiche solcher therapeutischen Geschichten erzählt. Habe zuvor die Klienten um Erlaubnis gebeten, ihnen anschließend den Text zur Lektüre und Korrektur vorgelegt. Sie hatten nach der Lektüre des endgültigen Textes  immer noch die Möglichkeit, ihre Einwilligung zurückzuziehen. Eindrucksvoll war dabei, wie die Lektüre der therapeutischen Geschichte durch den Klienten sich wiederum auf den Therapieprozess selbst auswirkte.
Insoweit schließt sich für mich der Kreis in der Begegnung zwischen Klient und Therapeut. Hierüber auf diese Weise zu schreiben wurde zu einer der wichtigsten „lessons learnt“ in meinem persönlichen und beruflichen Leben.
Auch wenn einige die therapeutischen Geschichten für „professionelle
Schundliteratur“ halten möchten, so stehe ich weiter zu meiner schon in der Kindheit entwickelten Vorliebe zu eben jenem Zugang zum Lesen, zum Schreiben und zum Menschen.

14. Dezember 2013
von Tom Levold
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Petra Bauer: Fallstudien verfallen

Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber meine Begeisterung für systemisches Denken entsprang einem Ort, an dem man diese Begeisterung bis heute selten vermutet: einer traditionsreichen deutschen Universität. Genau gesagt war es die Eberhard Karls Universität zu Tübingen, die sich im Übrigen derzeit mit dem bemerkenswerten Claim „Innovativ.  Interdisziplinär. International. Seit 1477“ (www.uni-tuebingen.de/aktuelles/veroeffentlichungen/imagebroschuere.html) schmückt. Innovativ war sie selbstverständlich auch schon Ende der 1980er Jahre, als ich dem Ende meines Pädagogikstudiums entgegen strebte. In ihren altehrwürdigen Gemäuern war neben viel Historischem auch Platz für Neues und einer dieser Plätze war ein von Ewald Johannes Brunner  geleitetes Seminar zu Konzepten der Familientherapie. An die einzelnen Inhalte des Seminars kann ich mich, soviel muss ehrlicherweise eingestanden werden, nicht mehr so genau erinnern. Aber dass ich mit der abschließenden Hausarbeit zur Familientherapie der Mailänder Schule und der Lektüre ihrer faszinierenden Schriften (vor allem ‚Magersucht‘ von Mara Selvini-Palazzoli und natürlich ‚Paradoxon und Gegenparadoxon‘ von der gesamten damaligen Mailänder Gruppe) Wochen und Monate zugebracht habe, das ist mir eindrücklich  im Gedächtnis geblieben. Letztlich habe ich diese Hausarbeit dann viel zu spät abgegeben, was sicher nicht nur der vertieften Beschäftigung mit den paradoxen Interventionen, sondern auch einigen unaufschiebbaren handlungspraktischen Zwängen, die Studierende bis heute chronisch plagen, geschuldet war. Dennoch: spätestens nach erfolgreicher Abgabe war ich der der Suggestionskraft der leicht dahin geschriebenen Bücher und den vermeintlich so spielerisch daherkommenden Interventionen der Mailänder Gruppe völlig erlegen.
Es war sicher auch nicht ihre Schuld, dass ich in meiner ersten beruflichen Praxis als Sozialpädagogin in der Psychiatrie mit den Erträgen meiner intensiven Lektüre schnell an die Grenzen stieß. Die reale Welt einer großen psychiatrischen Landesklinik war ganz anders als gedacht und überraschend schnell änderte sich dort erstmal gar nichts. Hätte ich den Klassiker von Erving Goffman ‚Asyle‘ und seine scharfsinnige Analyse psychiatrischer Anstalten als totaler Institutionen früher gelesen, wären mir manche harten Erfahrungen mit der Institution vielleicht erspart geblieben, aber diese Lektüre kam erst später, als ich das Buch im Rahmen meiner Dissertation häppchenweise durchgearbeitet habe. Das ist nicht gerade leichte Kost, auch wenn amerikanische Soziologen allemal verständlicher schreiben als ihre deutschen Kollegen (allen voran der systemische Übervater Luhmann).
Was sich aus meiner Psychiatriezeit und der damit verbundenen Ernüchterung bis heute gehalten hat, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber vermeintlich schnell wirkenden Interventionen und viel-versprechenden Methoden. Daher lese ich in der Regel auch keine Methodenbücher. Geblieben ist mir  auch die Suche nach einem umfassenderen Verständnis von psychischen Krankheiten. Dabei sind mir viele Bücher aus den Reihen systemischer Vordenker und Nachdenker wichtig geworden; hängen geblieben bin ich dann aber vor allem an der Geschichte von Alfred, einem als schizophren diagnostizierten jungen Mann. Alfreds Familie wurde von dem Soziologen Bruno Hildenbrand über eine lange Zeit intensiv teilnehmend beobachtet oder vielleicht in diesem Fall besser, im Alltag begleitet. In „Alltag und Krankheit“ hat er seine Beobachtungen zu einer ethnographischen Fallanalyse verdichtet, die einen romanhaft hineinzieht in die Geschichte, das alltägliche Leben und die alltäglichen Dramen dieser Familie. Dass es nicht beim puren Einblick bleibt, ist der Rückbindung der Beobachtungen an soziologische Theorien – der Lebenswelt, der Phänomenologie u.a. – zu verdanken. Dieses familiendynamische und phänomenologische Verständnis von psychischen und anderen ‚Störungen‘ finde ich bis heute allemal spannender und auch systemischer als so manche naturwissenschaftlich angehauchten Systemtheorien. Aber natürlich kann man das nicht so einfach gegeneinander ausspielen.
Mit Alfred bin ich nicht nur einem Modell, sondern auch einer Forschungsmethode verfallen, der qualitativ-rekonstruktiven (Einzel-)Fallstudie. Das ist in Zeiten, in denen harte Zahlen und quantitative Daten Hochkonjunktur haben, für eine Wissenschaftlerin nicht immer ganz einfach durchzuhalten. Dennoch sind Fallstudien einfach ein großartiger Zugang zu sozialen Welten in Familien, Teams, Organisationen und Regionen, wenn es tatsächlich gelingt, einen analytischen Zugang und vertieftes Verstehen mit dem Eintauchen in eine spannende Geschichte  zu verbinden. Daher würde ich mal etwas kulturpessimistisch angehaucht sagen: so lange es noch Verlage gibt, die auch umfangreiche fallrekonstruktive Studien (geht meist nicht unter 250 Seiten ab) veröffentlichen und solange es noch Menschen in Wissenschaft und Praxis gibt, die damit etwas anfangen können, sollte man dranbleiben. In diesem Sinne – falls Sie zu denen gehören, die wissenschaftliches systemisches Denken (zum Thema Psychiatrie und Familie) in Form von gut gemachten Fallstudien spannend finden, hier einige überhaupt nicht repräsentative sondern extrem subjektiv gefärbte Empfehlungen:

Allert, Tilman (1997): Die Familie. Fallstudie zur Unverwüstlichkeit  einer Lebensform. Berlin: De Gruyter.
Floeth, Thomas (1991): Ein bißchen Chaos muss sein. Die psychiatrische Akutstation als soziales Milieu. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Hildenbrand, Bruno/Welter-Enderlin, Rosemarie (2004) : Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Hildenbrand, Bruno (2006): Alltag und Krankheit. (2. Aufl.) Stuttgart: Klett Cotta.
Kastl, Jörg Michael (2009): Hannes K., die Stimmen und das persönliche Budget. Soziobiographie einer Behinderung. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Rosenthal, Gabriele/Stephan, Viola/Radenbach, Niklas (2011): Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von „Russlanddeutschen“ ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

13. Dezember 2013
von Tom Levold
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Cornelia Tsirigotis: Schreiben – ein dialogisches Medium?

Schreiben habe ich eigentlich nicht gemocht und nicht gekonnt. Meine Deutschnoten aus der Schulzeit verrate ich niemandem. Allenfalls Briefe habe ich geschrieben, wenn ich etwas zu erzählen oder meine jugendlichen Lebensphilosophien an FreundInnen heranbringen wollte. Später, im Griechenlandjahr 1981, im Bergdorf ohne Wasser und Strom waren Papierbriefe sowieso das einzige Medium des Kontaktes mit Familie und FreundInnen in Deutschland.
Lesen allerdings war ab den ersten Monaten in der Schule meine Lieblingsbeschäftigung. Wenn ich kein neues Buch hatte, las ich die bereits gelesenen noch einmal und entdeckte Neues darin. Die Eltern drehten mir die Sicherungen heraus, damit ich nachts auch schlief und nicht nur las. Im griechischen Bergdorf las ich mich beim Licht der Petroleumfunzel durch die Leitartikel der Zeitung, durch die Dichter, Ritsos, Seferis …
Mein Verhältnis zur Fachliteratur oder zu politischen Texten jedoch war ein sehr gespaltenes – ich studierte nicht gerade kurz in den Siebzigern, und die Studentenbewegung prägte noch meinen Hochschulalltag. Mir fehlten Zugang und Biss zu den Themen des Studiums. Auch das Marxsche Kapital erschloss sich mir nicht wirklich in die Tiefe gehend – wenngleich ich mir in der heutigen Krise manchmal wünsche, ich hätte mehr behalten als den „tendenziellen Fall der Profitrate“.
Geändert hat sich das mit dem Zugang zu systemischen Ideen und der Ausbildung am IF Weinheim. Das hatte auch damit zu tun, dass ich begann, mir ein Berufsfeld „Frühförderung“ zu erobern, in dem ich parallel zur Ausbildung reflektierte, experimentierte, implementierte… Ich las mich durch die – im Vergleich zu dem pädagogischen „Kram“ im Studiums – aus meiner Sicht viel zugänglicheren und spannenderen Texte systemischen Texte durch, fand erstmals im Leben in Fachliteratur Anstöße zum Weiterdenken und Antworten auf Fragen, kam auf neue Fragen, machte Fragenkataloge, notierte mir Reflexionen aus den Begegnungen mit KlientInnen. Als ehemalige Berichtsmuffelin begann ich sogar, Gespräch mit Eltern zu dokumentieren. Systemische Zugänge zur Arbeit in der Frühförderung fand ich viel hilfreicher als die bisherigen pädagogischen Anleitungsansätze und ich war sehr begeistert davon. Ich glaube, diese Kombination von „hilfreich“ und „begeistert“ waren der Sp(i)rit für den Motor der Weiterentwicklung, der Reflexion, der Auseinandersetzung mit dem, was da täglich geschah.
Ich machte mir Notizen, begann damit aufzuschreiben, was mir über meine Arbeit oder über das, was ich gelesen hatte – und die Verbindung von beidem – durch den Kopf ging. Bücher waren gespickt mit bunten Heftklammern und Klebezetteln. Die Notizzettel spießte ich auf einen Spies, wie sie früher Metzger oder KellnerInnen für die Quittungen benutzten, damit sie nicht vom Schreibtisch geweht wurden, und mit dem ersten Computer übte ich mich im Schreiben und Speichern. Die Ordner „Aufdröseln“ und „Ideen“ zeugen vom Festhalten aller möglichen Gedankenfetzen… Die Verbindung von Theorie und Praxis und ihre gegenseitige Bereicherung wurden für mich spürbar.
Zugleich mussten auch die Kolleginnen im Team meine Begeisterung über sich ergehen lassen. Beim morgendlichen Joggen, beim Autofahren (Frühförderung ist aufsuchende Arbeit, und ich fuhr viel über Land) führte ich innere Dialoge mit Kolleginnen, vor allem auch mit Chefs und Teamleitungen, die einen Paradigmenwechsel in der Frühförderung anstießen. Manchmal hielt ich an, um etwas zu notieren. Auf jedem Zettel, in jeder Notiz und später bei jedem Text, wurde jemand „angeschrieben“, ich hatte und habe noch meine DialogpartnerInnen vor Augen, wenn ich schreibe.
Mit wohlwollender Unterstützung von systhema-Redakteuren (Dank an Arist, Haja und Wolfgang!!) gab es den ersten kleinen Text über Virginia Satir und die ersten Rezensionen verrieten die Begeisterung beim Lesen von Fachbüchern. Meinen ersten Buchbeitrag über Gruppen – hatte ich doch das Frühförderteam lange genug „genervt“, also am Nerv für sinnvolle Angebote getroffen, unser Gruppenangebot zu vergrößern, lese ich heute noch gern.
Der Gewinn des Schreibens lag oder liegt ja nicht nur im Anfühlen einer Zeitschrift oder eines Buches, wenn sie dann fertig vorliegen. Der eigentliche Gewinn erweist sich für mich darin, dass sich durch das Schreiben und Veröffentlichen etwas bewegt. Schreiben legt und hinterlässt Spuren hilfreicher Veränderungen (Wolfgang Loth 1998) nicht nur in den Beziehungen zu KlientInnen. Texte wirken auch in der öffentlichen Diskussion mit Vorgesetzen, Ministerien, GeldgeberInnen, über Themen wie: von wem und wie viel Frühförderung zu finanzieren sei, dass ein Rehabilitationstag nach CI-Implantierung auch Beratung umfassen muss, oder derzeit in Fragen von Inklusion: wie und wo Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihren Lernbedürfnissen gerecht unterrichtet werden sollen.
Wenn sich der Arbeitsalltag verändert, im Hauptberuf vom täglichen Arbeiten und Sprechen mit KlientInnen zur einer größeren Betonung von leitenden und moderierenden Aufgaben und im Schreibenshobby vom Scheiben zum Herausgeben und andere-zum-Schreiben-Anregen, dann bleibt nicht mehr so viel Zeit zum intensiven Durcharbeiten und längere-Texte-Schreiben. Wenn ich ältere Texte von mir selbst lese, erstaune ich immer, wie ich das fertig gebracht habe. Vor einigen Wochen erschien ein Buch, für das ich den Text 2010 geschrieben habe, der letzte Text, bevor ich die Leitungsstelle in Frankfurt angetreten habe. Ich hatte ihn fast vergessen und er hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Ich war ganz berührt beim Lesen der Fallgeschichten, die von Ressourcenorientierung und Empowerment erzählen und der Beschreibung der beraterischen Arbeit, die Familien respektvoll den Rahmen für ihre eigene Wege- und Spurensuche steckt. Es sind auch die Klientinnen, die innere DialogpartnerInnen im Schreibensprozess sind: Texte strotzen nur so vor gezogenen Hüten vor ihrem Leiden und dessen Bewältigung.
Schreiben ist also doch ein dialogisches Medium. Ich hatte diesen Satz als Zitat dem Dichter Peter Paul Zahl zugeschrieben, finde jedoch beim Recherchieren, dass mir da etwas passend verdreht habe, er redet von einem monologischen Medium. Vielleicht nicht entweder-oder, sondern beides. Meine inneren Dialogpartner sind eher zustimmend und widersprechen selten… Vielleicht so:
„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“ (Jean Paul)

12. Dezember 2013
von Tom Levold
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Barbara Schmidt-Keller: Zirkuläres Fragen mit Stan und Olli


Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Jahr, vermutlich war es 1979 oder 1980. In der Bibliothek des Campus war mir ein Buch in die Hände gefallen und hatte meine Neugier geweckt. Durch meine Mitarbeit in einem studentischen Beratungsprojekt war mein Interesse an beraterisch-therapeutischen Konzepten und Methoden groß. Was uns in Vorlesungen und Seminaren vermittelt wurde, waren Einblicke in analytische Theorien,  Verhaltenstherapie und ein kleines Basistraining  in Gesprächspsychotherapie.
Jetzt hielt ich ein Buch in den Händen, das sich unter den bekannten Kategorien nicht einordnen ließ, bereits der Name war sowohl rätselhaft als auch verheißungsvoll: „Paradoxon und Gegenparadoxon“. Die AutorInnen waren Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Giuliana Prata aus Mailand.
Ich nahm das Buch mit nach Hause und verschlang es wie einen Krimi, fasziniert, begeistert und verunsichert. Wieviel musste da neu gedacht, anders konzipiert und in präzise formulierte Fragen transformiert werden? Fragen, die instrumentell eingesetzt wurden, die einer eigenen Logik entsprangen. Und wo in aller Welt konnte man so etwas lernen?
In der nächsten Supervision mit dem uns betreuenden Professor sprach ich ihn darauf an. Er kannte das Buch nicht, aber sein Kommentar war ernüchternd: „Vorsicht“, sagte er, „bei diesen integrativen Methoden. Das ist nicht seriös“.  Schade, dachte ich, und glaubte ihm nicht.
Fünf oder sechs Jahre später, als der Mailänder Ansatz in Deutschland gelehrt wurde, war ich an Bord.
Der Zickzackkurs zwischen Konstruktionen und Dekonstruktionen von Wirklichkeiten, das Erlernen und Üben der Fragetechniken, das Tolerieren der Konfusion, die diese bei weitem nicht nur bei den Familien auslösten, bei denen die Fragen appliziert wurden, nahm einige Zeit in Anspruch, bis es ausreichend internalisiert war. Die spielerische Leichtigkeit ließ einige Zeit auf sich warten. „Wenn Ihr 200 Familien gesehen habt, könnt ihr es“, hatte Gunthard Weber in tröstender Absicht einmal prophezeit. Auf irgendeine Weise behielt er recht. Die Klientenfamilien hatten Rudi und ich zwar nicht gezählt, aber das „Navigieren beim Driften“ gelang leichter, zunehmend häufiger sogar leicht …
Viele Jahre später, bei einem Besuch des Centre Pompidou in Paris, hatte ich eine neue und gänzlich unerwartete Begegnung mit der möglichen Leichtigkeit des zirkulären Fragens.
Die gesamte Ausstellung war thematisch und räumlich nach Überschriften neu geordnet worden. Der Raum, den ich betrat, trug die Inschrift „Kindheit“. Neben anderen Exponaten lief ein Video, die englischsprachig untertitelte Originalversion von „Big Business“ mit Stan Laurel und Oliver Hardy. Die beiden versuchen in dieser Episode, in Kalifornien Weihnachtsbäume zu verkaufen, klingeln an einer Haustür und verwickeln eine lokale Schönheit in einen Verkaufsdialog.
„Would you like to buy a christmas tree?“ war die erste Frage, und als die Antwort der potentiellen Käuferin negativ ausfiel, folgte die 2. Frage:  „Would your husband like to buy a christmas tree?“ Und auf die leicht kokettierende Replik „I have no husband …“ folgte dann die völlig verblüffende und doch für Systemiker so eigentümlich vertraut wirkende dritte Frage:  „… If you had a husband, would he like to buy a christmas tree??“ (Das Geschäft kam nicht zustande, aber der Film hat noch anderes zu bieten).
Doch ich hatte etwas neues erfahren. Staunend und inspiriert nahm ich zur Kenntnis, dass die zirkulären Fragen kulturell stärker verankert sind, als ich das für möglich gehalten hatte. Das schmälert nicht die Leistungen der Pioniere. (Auch wenn Stan und Olli als Ideengeber meines Wissens in der Literatur nicht auftauchen…)

11. Dezember 2013
von Tom Levold
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Tom Levold: Lesen als Rettung

Als Kind und Jugendlicher habe ich Lesen als eine Art Rettung erfahren. Mit fünf verbrachte ich ein Woche im Krankenhaus, weil mir die Mandeln entfernt wurden. Ich habe noch heute den Geruch der Äthermaske in der Nase. Besuche der Eltern waren nur einmal am Tag für 30 Minuten erlaubt, was für mich als Säuglingsheimkind mit großen Trennungsängsten nur schwer auszuhalten war. Die Schmerzen im Hals in Verbindung mit meinem Heimweh führten dazu, dass ich praktisch den ganzen Tag weinte. Das war natürlich eine Zumutung für die anderen fünf Kinder im Krankenzimmer, die sich teilweise dort sehr wohl fühlten. Sie drückten mir daher alle verfügbaren Comic-Heftchen in die Hand, um mich abzulenken und ein bisschen Ruhe zu haben. Da ich noch nicht lesen konnte, hatte ich die Hefte zum Schrecken der anderen Kinder viel schnell durchgeblättert. Die Bilder sagten mir nicht viel. Mir wurde klar, dass sich mir der eigentliche Reiz der Geschichten nur erschließen würde, wenn ich schnell lesen lernen würde.
Ich habe dann bereits vor Schulbeginn alles zu lieben und zu lesen begonnen, das Buchstaben enthielt. Kinderlektüre interessierte mich eigentlich nur am Rande. Ich wollte schnell in die Lesewelt der Erwachsenen hineinwachsen. Im dritten Schuljahr ackerte ich mich durch die Karl-May-Romane, natürlich nicht ohne von endlosen Landschaftsbeschreibungen gelangweilt zu werden. Mit der Einschulung im Gymnasium begann ich, täglich die Zeitung zu lesen, eine Gewohnheit, die ich auch heute noch – trotz aller Online-Informationsbeschaffung – genieße. Mit 14 legte ich mich regelmäßig mit der Bibliothekarin der Stadtbücherei an (ich nehme an, es war die Chefin), die mir keine Erwachsenenbücher ausleihen wollte und mich an die Regale mit Kinderbüchern verwies. Gottlob fand sich eine junge Bibliothekarin, die mir, wenn die Chefin nicht präsent war, alle möglichen Geschichtsbücher auslieh – zu der Zeit beschäftigte ich mich geradezu zwanghaft mit dem zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte (in meiner Psychoanalyse fiel mir dann auf, dass mein Vater zum Zeitpunkt des Kriegsausbruches 14 Jahre alt war, mit mir aber nie darüber sprach). Mit 15 hatte ich dann auch das Bücherregal meiner Eltern weitgehend durch.
In dieser ganzen Zeit wurde das Lesen zur Tür in ein Paralleluniversum, das mich jederzeit aus meinem bescheidenen real life erretten konnte. Das betraf schon immer Romane und „Sachbücher“ gleichermaßen. Bücher waren und sind für mich Symbol dieser zweiten Welt, in der alles möglich und alles miteinander zu verbinden und kombinieren ist – auch wenn ich beim Arbeiten mittlerweile PDFs und das Lesen auf meinem iPad bevorzuge, weil ich hier besser festhalten und speichern kann, was mir wichtig erscheint. Bücher wegzuwerfen fällt mir entsprechend schwer, obwohl auf meinen Regalen nicht mehr viel Platz ist.
Meine Begeisterung für Theorie hat viel mit diesen Leseerfahrungen zu tun. Dass man nicht nur erlebt, sondern dieses Erleben durch Beobachtung und Beschreibung literarisch oder wissenschaftlich auf eine neue Ebene hebt, die sich ihrem Gegenstand gegenüber weitgehend autonom verhält, fasziniert mich bis heute.
Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre floss meine Theoriebegeisterung als Schüler in die marxistische Literatur, die auf den baldigen Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft vorbereiten sollte. Viel Marx & Engels im Original, dazu Ernest Mandel, Paul M. Sweezy usw., aber natürlich vor allem ohne Ende marxistische Sekundärliteratur, die die Welt klassenkämpferisch in Gut und Böse vorsortierte. Daneben viel Psychoanalyse als Gesellschaftskritik: Freud, Reich, Reiche usw. Freilich wurden aber unter der Flagge eines neuen Denkens wieder schnell neue Denkverbote installiert bzw. Vertreter anderer Modelle und Konzepte geächtet. Die „Kritik bürgerlicher Wissenschaften“ entlastete einige Jahrgänge revolutionärer Studenten davon, bürgerliche Wissenschaften im Original zu lesen, da man schon vorgekaut wusste, was man davon zu halten hatte. Diese Reminiszenz an meine Stadtbibliothekserfahrung führte bei mir zu einer gewissen Trotzhaltung, aus der heraus ich begann, mich für „bürgerliche Autoren“ zu interessieren. Für mich überraschenderweise waren diese offensichtlich nicht so dumm, wie sie der Kritik ihrer Theorien nach hätten sein müssen – auch (und gerade) wenn man theoretisch mit ihnen nicht übereinstimmte.
Jedenfalls führte das dazu, dass ich mich 1976 entschloss, meine sozialwissenschaftliche Diplomarbeit über einen besonders reaktionären und an der Universität Bochum deshalb sehr verachteten Theorieansatz zu verfassen – die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Im Unterschied zu den gängigen emanzipatorischen und kritischen Theorien schien mir die Systemtheorie in erster Linie eine Theorie sozialer Kontrolle zu sein – und das wollte ich herausarbeiten. Immerhin habe ich in dieser Zeit so gut wie alles von Luhmann gelesen, was bis dato von ihm veröffentlich war, und das war schon eine Riesenmenge – lange vor der „autopoietischen Wende“.
Trotz meiner sehr kritischen Haltung, die ich konsequent durchgehalten habe, begann mir die Lektüre Luhmanns immer mehr Spaß zu machen. Sein Spiel mit „Theoriearchitektur“, seine für mich völlig neue Begrifflichkeit, die vielen überraschenden Einsichten, die oft eher beiläufig daher kommen oder sich aus der Anwendung seiner abstrakten Konzepte auf konkrete Phänomene ergeben, haben mir von Anfang an Lust bereitet (auch wenn es eine gewisse Einarbeitungszeit erforderte). Das hat sich bis heute gehalten. Den ganzen Überblick habe ich natürlich nicht mehr, was bei einem Werk dieser Größenordnung kaum verwundern kann.
Zwar las ich im Studium auch einen Sammelband, der bei Suhrkamp erschienen war und einige kommunikationstheoretische Arbeiten der Gruppe um Gregory Bateson enthielt (und u.a. von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas herausgegeben wurde), allerdings wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass Luhmann in meinem späteren Leben als Therapeut eine Rolle spielen könnte, dass sich überhaupt Therapeuten für Luhmann interessieren könnten – ebenso wenig wie ich mir überhaupt vorstellen konnte, ein paar Jahre später selbst therapeutisch zu arbeiten. Es kommt halt anders als man denkt. Für meine systemische Entwicklung war allerdings die soziologische Basis und die frühe Beschäftigung mit Luhmann von außerordentlicher Bedeutung und es vermittelt außerordentlichen Spaß und Zufriedenheit, auch einer mittlerweile fast 40jährigen Lektüre immer noch neue Facetten abgewinnen zu können. 

10. Dezember 2013
von Tom Levold
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Corina Ahlers: Relationale Identität – Gedanken einer interessierten Leserin von Texten einer relationalen Haltung

Systemisch bin ich in den frühen achtziger Jahren von den reflexiven Ideen und kollaborativen Dialogen Harlene Andersons, Harry Goolishians und Tom Andersens berührt worden. Letzere – meine Mentoren –sind verstorben, aber ihr Geist beseelt noch jetzt Forscher und Praktiker skandinavischer Länder und einige deutschsprachiger Kollegen. Als solch eine treue Seele bemühe ich mich, den Studentinnen in der systemischen Ausbildung den relationalen Dialog und das Reflexive des Systemischen Ansatzes gegenüber dem von ihnen erwarteten „Werkzeugkoffer für Studenten“ zu vertreten. Andererseits, wenn ich reflexiv ehrlich zu mir bin, dann muss ich zugeben, dass ich Harry Goolishian zwar faszinierend fand, dass ich seine Interventionen jedoch nicht erkennen und damit auch nicht umsetzen konnte. Nicht umsonst wurde sein Tun öfters als „unsichtbare Therapie“ bezeichnet. Tom Andersen fand ich humorig, seine unendliche Reflexivität jedoch manchmal nervtötend. Ich erlebte eine verzwirbelte blutlose therapeutische Haltung und fand für mich keine Verkörperung im Spiel mit den Worten. Da sprach meine bilinguale spanische Seele aus mir und sagte: Zu trocken, zu verkopft,  zuwenig Rhythmus, plätscherndes therapeutisches Geplänkel. Was bleibt denn da beim Gegenüber hängen?
Noch viel schlimmer stellt sich das Lesewerk von Michael White dar, die direkte Übersetzung aus dem Englischen wird im Deutschen unhandlich: Ineinander verschränkte Sätze, deren Inhalt darin verloren geht.
Ich war so froh, 2010 endlich das Buch „Landkarten Narrativer Therapie“ auf Deutsch lesen zu können. Da hab ich den Ansatz verstanden, allerdings nicht genug, um ihn weiter vermitteln zu können. In unserer österreichischen Ausbildung wird „Narrativ leicht gemacht“ vermittelt. Man lernt dann, Geschichten zu erfragen und mit Stories zu operieren, ohne den theoriegeleiteten Diskurs um das relationale Selbst im Umgang mit dominanten Diskursen zu reflektieren, wieder einmal ein Werkzeugkoffer ohne den Hintergrund zu bearbeiten, dh. die Komplexität zum besseren Verständnis reduzierend.
Ich erlebe mich pendelnd zwischen der Faszination für komplexe systemische Zusammenhänge und dem praktischen „down to earth“ Umgang mit Klienten und Studentinnen, wenn ich Aufstellungen mache oder wenn ich konkrete Aufgaben entwickle. Gleichzeitig frage ich mich dabei: Wie lässt sich eine komplexitätsförderliche systemische Haltung erwerben und an Klienten weitergeben?
Vor kurzem hatte ich eine gute Möglichkeit, wieder einmal in die systemische Welt der Reflexivität einzutauchen. Anlass war Ottar Ness, ein junger norwegischer Familientherapeut und Forscher, der im Geiste unseres Mentors Tom Andersen Praxis forscht. Ich lernte ihn auf  einer Fortbildung für Lehrtherapeuten zum Thema Forschung kennen. Seine im Geiste Tom Andersens verfasste Dissertation wurde in Zusammenarbeit mit dem Taos Institute betreut, welches von Gergen & Gergen ins Leben gerufen wurde. Es handelt sich hierbei um eine intellektuelle Gemeinschaft, welche narrative, kollaborative und reflexive Ideen in Forschung und Praxis als virtuelle Universität anbietet. Die Dissertation von Ottar Ness „Learning new ideas and practices together“ (2011; ab 2014 online bei www.taosinstitute.net) widmet sich dem kooperativen Lernen der relationalen Sprache Johnella Birds, die er als Aktionsforschung an norwegischen Beratungszentren betreibt. Vorbild ist die reflexive Forscherin Linda Finlay (2011). Linda Finlay versteht reflexive Praxisforschung als prozessuale Auseinandersetzung mit dem Forschungsvorhaben im selbstreflexiven Dialog. In der Auseinandersetzung mit Menschen darf nicht objektiviert werden. Der entstehende Text ist ein dialogischer Suchprozess in Partnerschaft mit dem Beforschten, Vorurteile sind zu vermeiden. Sprache entsteht in Kooperation und darf nicht zum Machtinstrument werden. In den Memokasten, in denen sonst meistens Textzusammenfassungen stehen, textet sie ihren selbstreflexiven Prozess zu dem Gedankengang, den sie vorher beschrieben hat. Der gesagte Inhalt wird gleich auf einer anderen Ebene reflexiv relativiert. Damit wird verhindert, dass sich ein dominanter Diskurs festsetzen kann. So entwickelt sich der Text um die diversen beforschten Inhalte langsam, prozessual, assoziativ: Es ist fast wie ein therapeutischer analytischer Prozess! Hochinteressant, anders als das, was ich bisher kannte: relational! Und gleichzeitig herausfordernd, schwierig zu lesen, anstrengend.
In Bezug auf meine Fragestellung, wie man die Komplexität des Systemischen am ehesten verdeutlichen kann, drängen sich mir bei der Auseinandersetzung mit Ansätzen von Ottar Ness und Linda Finlay drei Fragen auf: Wie gehen Leser mit so einem Text um? Wird unsere Lesehaltung dadurch verändert? Vorläufige Antwort: Es entsteht kein flüssiger Text, der Leser gräbt sich durch komplexes Denken, welches sich ihm vermeintlich mit viel Respekt und ohne Position zeigt. Ist der Ansatz eigentlich systemisch? Er richtet sich an intersubjektive Prozesse, aber berücksichtigt er den Kontext? Vorläufige Antwort: Dadurch dass das intersubjektive Spiel mit den eigenen Reflexionen so komplex ist, wage ich zu bezweifeln, dass die kontextuelle Einbindung des Geschehens gleichzeitig erfassbar ist. Kann der dominante Diskurs der Macht wirklich so vermieden werden? Vorläufige Antwort: Hier bin ich zweigeteilt. Einerseits ist eine derartig reflexive Haltung eine Vorbeugung  mächtiger, dominanter Positionsbestimmungen. Andererseits frage ich mich, ob es nicht ebenso effektiv wäre, eine Position zu beziehen, die dann widerlegt werden kann. Eine permanente Selbstreflexion lässt keine Argumente mehr zu, stattdessen mag sie sich manchmal, selbstbezogen, um die eigene Denkachse drehen.
Und so finde ich mich wieder, wie schon am Anfang meiner Gedanken, in der Rolle, keine schließenden Worte zur dieser narrativ-kollaborativ-relational-reflexiven Gemeinschaft zu finden. Ich bleibe beeindruckt, voller Achtung und dennoch skeptisch am Weg.

Finlay, L. (2011) Five Lenses for the reflexive interviewer, in J. Gubrium, J.Holsteir, A.Marvasti & J.Marvasti (Eds.) Handbook of Interview Research, CA: Sage Publications.
White M (2010) Landkarten narrativer Therapie, Carl Auer Verlag, Heidelberg
Ness O (2011) Learning new ideas and practices together: a co-operative inquiry into learning to use Johnella Bird´s relational language-making approach in couples therapy, Tilburg Univercity Press, Netherlands

9. Dezember 2013
von Tom Levold
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Hartwig Hansen: Der Kontext ist wichtiger als der Text

Im Bücherregal meines Vaters – das Regal, das ich mittlerweile geerbt habe – standen diverse Bücher, die mir in frühen Tagen Ehrfurcht einflößten, vor allem Ehrfurcht vor meinem Vater, der diese Bücher offenbar gelesen und verstanden hatte.
Eines dieser dickleibigen Bücher trug den verwirrenden Titel „Ökologie des Geistes“ und mein Vater sagte nun seinerseits mit Ehrfurcht in der Stimme, der Autor Gregory Bateson (nie gehört!) sei ein wichtiger Vordenker. Zu der Zeit studierte ich immerhin Psychologie, opponierte innerlich aber noch gerne gegen „große Namen“.
Später, Ende der 1980er, tauchte der Name Gregory Bateson plötzlich wieder auf. Mich hatte es mittlerweile nach Bonn verschlagen. Dort sollte ich das Buchprogramm des noch jungen Psychiatrie Verlages weiterentwickeln, der ökonomisch vor allem von dem Erfolg des Lehrbuches „Irren ist menschlich“ lebte. Klaus Dörner (der vor ein paar Tagen ja gerade 80 Jahre alt geworden ist) hatte mit Ursula Plog diesen Klassiker geschrieben und zitierte immer mal wieder – wie er es später nannte – „ein zauberhaftes Ewigkeitswort von Gregory Bateson, dem Erfinder der Systemtheorie“. Den Namen hatte ich doch schon mal gehört … Das sogenannte Ewigkeitswort lautete: „Der Kontext ist immer wichtiger als der Text.“
Dieses Diktum „der großen Geister“ hat mich erreicht und überzeugt. Es lässt mich jetzt sogar diese Episode aufschreiben, denn ich sollte bald eindrucksvoll erfahren, wie es sich im Leben bewahrheitet.
Mein Vorgänger im Psychiatrie Verlag hatte ab Mitte der 1980er einen innerdeutschen Coup landen können. Er hatte die Druckaufträge der regelmäßig stattlichen Nachauflagen von „Irren ist menschlich“ nämlich nach Leipzig vergeben (schauen Sie ruhig noch mal ins Impressum Ihrer lila „Irren ist menschlich“-Ausgabe mit dem Waldbild vorne drauf). Damit hatte er es nach schwierigen Verhandlungen sogar geschafft, dass das Buch als „Mitdruck“ mit 2.000 Exemplaren in der DDR erscheinen konnte. Was heißt „erscheinen“? Ob sie wirklich in Buchhandlungen erwerbbar waren, blieb offen.
Der besagte Vorgänger hatte mir noch ein weiteres grenzüberwindendes Großprojekt anvertraut.
Ein Herausgeber aus dem Osten – Professor Achim Thom (1935-2010) aus Leipzig – und einer aus dem Westen – Professor Erich Wulff (1926-2010) aus Hannover – wollten seit 1986 einen richtungsweisenden Sammelband mit prominenten Psychiatrie-Namen aus ganz Europa zusammenstellen, Titel: „Psychiatrie im Wandel – Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West“. Vierzig hochkarätige Autorinnen und Autoren, langes Harren auf die Beiträge, freundliches Mahnen, Hin und Her in der Bearbeitung, heute in Vergessenheit geratene Kommunikationsprobleme zwischen Ost und West – kurz: Eine Riesenbrett, das es zu bohren galt.
1989 war immerhin absehbar, dass das Buch fertig werden könnte – es sollte ja ein Verkaufsschlager werden … Aber nun – Sie ahnen es – sollte alles anders kommen.
Die Mauer fiel – und damit auch unsere hochfliegende Hoffnung, mit diesem weitsichtigen, in Sisyphus-Arbeit erstellten Band von über 600 Seiten die innerdeutsche Grenze durchlässiger zu machen. Die musste nicht mehr durchlässiger gemacht werden, sie war niedergerissen worden.
Und so schließt sich der Kreis des Bateson-Paradigmas: Der Kontext ist wichtiger als der Text. Der Kontext des Umbruch-, Aufbruch- und Einheitsjahres 1990 hatte den so mühsam zusammengestellten Text von „Psychiatrie im Wandel“ in Windeseile überholt. Wir stellten es zwar im Oktober 1990 noch in einer Art „Familienfeier“ in Leipzig vor, aber alle Beteiligten spürten, dass nun etwas anderes auf der Tagesordnung stand. Das Buch gibt es mittlerweile nur noch antiquarisch – zu einem erstaunlich günstigen Preis!
Und mittlerweile zitiere ich mitunter Herrn Bateson – zitiert von Herrn Dörner – in der einen oder anderen Beratung oder Fortbildung. So ändern sich die Zeiten und Gewohnheiten.

8. Dezember 2013
von Tom Levold
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Arist von Schlippe: Familientherapie mit Unterschichtsfamilien

Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, damals arbeitete ich auf meiner zweiten Stelle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dortmund, und wurde ich von Hilarion Petzold gefragt, ob ich zu dem Thema „Familientherapie mit Unterschichtfamilien“ einen Text schreiben könne (Familientherapie mit Unterschichtfamilien. In: Kristine Schneider [Hrsg.][1983]: Familientherapie in der Sicht psychotherapeutischer Schulen. Paderborn [Junfermann], S. 372-384). Es sollte ein Buch über die verschiedenen Schulen der Familientherapie werden, in dem auch einige besondere thematische Felder behandelt werden sollten. Meine Familientherapieausbildung am Weinheimer Institut hatte ich in der Zeit schon begonnen, wir hatten in der Klinik einen großen Einzugsbereich und sahen viel Elend, psychisches – doch auch sehr viele konkret soziale Nöte, die oft direkt mit psychischen Beeinträchtigungen und Familienkonflikten einhergingen. Ich erinnere mich an einen Hausbesuch bei einem schwer asthmatischen Mädchen. Damals war ich von der „Psychogenität“ von Asthma völlig überzeugt, doch der Besuch in der feuchten und nicht besonders gut riechenden Wohnung, in der ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher ständig vor sich hin flimmerte und laute Töne von sich gab (das verzerrte Bild bezog er von der Zimmerantenne, die schräg in den Raum hineinragte), der Eimer mit Exkrementen mitten im eiskalten Kinderzimmer und die bepinkelte, notdürftig trocknende Bettwäsche ließen mich schon damals zweifeln, ob man sich Asthma so schlicht als „seelisch verursacht“ vorstellen dürfe. Die Familie war freundlich, behandelte mich aber erkennbar eher wie jemanden von „der Fürsorge“, mit Achtung und großer Vorsicht. Wirklich „Zugang“ bekamen wir nicht. Es gab einige ähnliche Erfahrungen in der Zeit, im Dortmunder Norden vor allem stand es nicht gerade zum Besten.
Ich war sehr stolz, auf das Thema angesprochen zu sein und versorgte mich, so gut es ging, mit Fachliteratur. Der Begriff „Unterschicht“ war (und ist) nicht unproblematisch, doch ich blieb dabei, er war common sense geworden. Die systematischen Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und psychischen Störungen wurden schon damals intensiv diskutiert, nicht wenige Autoren sprachen sich energisch für eine Verbesserung der Lebensumstände aus anstatt deren Folgen psychotherapeutisch „wegzumachen“ (so etwa Hollingshead & Redlich in „Der Sozialcharakter psychischer Störungen, Frankfurt, 1975).  Die „Konfliktspirale“, die sich aus materiellen Lebensbedingungen, finanziellen Sorgen, engen Wohnverhältnissen und begrenzten Möglichkeiten, im Umfeld Entlastung zu finden (wie Schwimmbad- oder Kinobesuche), ergibt, ist vielleicht nicht am besten über Psycho-, und vielleicht auch nur ein wenig besser über Familientherapie anzugehen.
Ob ich heute noch die Kategorien der Satir’schen Kommunikationsformen wählen würde, weiß ich nicht – wohl nicht. Die Kommunikationsformen in dieser Bevölkerungsgruppe dem „anklagenden Muster“ zuzuordnen, erscheint mit heute doch als recht vereinfachend. Was ich, glaube ich, damals zum Ausdruck bringen wollte, ist, wie sehr mir als in der Mittelschicht sozialisiertem Menschen die Direktheit und Unverblümtheit mancher sprachlichen Aussagen imponierte. Sprache, so wurde mir in der Auseinandersetzung allerdings auch klar, ist auch eine Barriere. Wer, wie ich damals, mit einer gesprächspsychotherapeutischen Ausbildung den Berufseinstieg begann, hatte es nicht gerade leicht, sich in restringierten Codes zu bewegen. Whorfs Konzept der „linguistischen Relativität“ wurde direkt erfahrbar. Und auch damals schon interessierten mich Erwartungsstrukturen, die sich vor dem Hintergrund spezifischer Sozialisationsformen als durchaus unterschiedlich darstellten.
Über dreißig Jahre ist das nun her! Auch heute lese ich den Text noch ganz gern. Er ist geprägt von dem Wunsch, der community etwas von den besonderen Erfahrungen der kinderpsychiatrischen Arbeit in einer Arbeiterstadt mitzuteilen, und auch von einer gewissen Ignoranz, mit der theoretische Klippen einfach deswegen umschifft wurden, weil ich sie damals gar nicht wahrgenommen hatte. Und ein wenig nachdenklich bin ich auch beim Lesen: wie sehr habe ich heute, wo ich mich eher mit Familien von der anderen Seite des sozialen Spektrums befasse (sprich: Unternehmensfamilien), den Kontakt zu der Lebenswirklichkeit vieler, wenn nicht der meisten Menschen in unserem Land verloren? Hmm, ich glaube, ich lese meinen Text noch einmal!