Nach der Erwiderung von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe auf die Kritiken an ihrem„Lehrbuch“ über störungsspezifisches Wissen der systemischen Therapie, die in der letzten Woche im systemagazin veröffentlicht wurde, wird die Diskussion heute von Jürgen Hargens fortgeführt, der auf die Argumentation der beiden Autoren kritisch eingeht. Sein Beitrag kann nicht nur hier online verfolgt werden, sondern auch im Zusammenhang mit den Kritiken auf der Seite der Buchbesprechungen.
Jürgen Hargens: Im Gespräch bleiben oder: Entscheidungen/Konstruktionen können auch unbeabsichtigte Konsequenzen haben
„Ich freue mich, dass Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe sich zu den Reaktionen auf das Lehrbuch II geäußert haben, denn das ist für mich ein Teil der systemischen Idee im Gespräch zu bleiben. Und ein zweites ist für mich mit der Idee im Gespräch bleiben verbunden Systemisches betont Vielfältigkeit, würdigt Unterschiede und verzichtet darauf, immer und in jedem Fall einen Konsens herstellen zu müssen.
Insofern greife ich das auf, wo ich Unterschiede festmache, von denen ich denke, dass es bedeutsam sein könnte, solche Unterschiede nicht zu verwischen. Ich werde so vorgehen, dass ich (1) zunächst noch einmal meine grundsätzliche Position skizziere und dann (2) einige Passagen der Erwiderung aufgreife (kursiv gesetzt) und meine Ideen dazu offen lege.
Meine Position geht von einer Ablehnung eines Verständnisses von Krankheit als einer eigenständigen Wirklichkeitskategorie aus. Wie ich ausführte: Noch 2005 schreibt Kurt Ludewig in seiner Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie (Heidelberg): ‚Die systemische Therapie verzichtet schon aus erkenntnistheoretischen Gründen auf einen Krankheitsbegriff‘ (S. 85). Damit verbunden sehe ich die Unterschiede zum traditionellen Gesundheitssystem und frage, inwieweit ein Aufgreifen der traditionellen Sprachspiele dazu führt, dass die systemische Theorie ihre Eigenständigkeit nicht nur aufgibt, sondern verliert.
Nun zu der Erwiderung:
Die Möglichkeiten, die es dem systemischen Praktiker bietet, in einem nicht-systemischen Umfeld zu ‚überleben‘ werden betont, ebenso die Möglichkeiten, sprachlich an unser Gesundheitssystem anzukoppeln, ohne seiner Logik zu erliegen.
Um wieder darauf zurückzukommen, dass Sprache Wirklichkeiten schafft, fällt mir auf, dass Schweitzer/von Schlippe nicht von den vielen unterschiedlichen Möglichkeiten sprechen, sondern mit dem bestimmten Artikel auch die anderen, noch unbestimmten Möglichkeiten ausblenden. Sie zeigen Möglichkeiten auf allerdings nur die, die ihnen bedeutsam erscheinen. Das ist auch in Ordnung, doch die Festlegung durch den Artikel die grenzt andere Möglichkeiten aus.
Ich glaube weiters nicht daran, dass es ein nicht-systemisches Umfeld gibt, denn wenn Beziehungen in einem Umfeld bestehen, dann wirken diese Ereignisse immer wieder rückbezüglich aufeinander ein ein systemisches Ganzes. Die Beschreibung und die Idee, damit umzugehen, macht dann Unterschiede. Wobei das ist mir wichtig anzumerken es mir eben nicht geht, dies als Wahrheit zu definieren, sondern als Annahme, Hypothese, eben als Glauben, denn das lässt anderen Glauben zu. Insofern geht es in meinen Augen darum, einen Diskurs zu beginnen, der sich weniger um das Thema richtig/wahr dreht, sondern um das Thema vermutete Folgen/(un)erwünschte Folgen.
Der Satz Möglichkeiten, sprachlich an unser Gesundheitssystem anzukoppeln, ohne seiner Logik zu erliegen stellt für mich eine Hypothese dar, die nicht konkretisiert, sondern gesetzt wird. Damit wird in meinen Augen behauptet (Glaubensannahme), man/frau könne einer Reifizierung (Verdinglichung) des Begriffs ‚Krankheit‘ entgehen, wenn man von ‚Krankheit‘ rede. Leider wird diese Annahme nicht weiter erläutert. So bleibt meine Frage unbeantwortet: Wie kann das gehen?
Schweitzer/von Schlippe unterscheiden in der systemischen Theorie drei Formen von Wissen
generisches Wissen
kontextspezifisches Wissen
störungsspezifisches Wissen. Mit letzterem meinen sie ein Wissen, das sich vorwiegend aus kommunizierten Therapieerfahrungen, zum Teil aber auch aus empirischer Forschung herleitet.
Die Aufzählung der drei Arten von Wissen in der systemischen Theorie ist mir neu. Sie wird darüber hinaus auch nicht begründet, so dass sie auch beliebig erweiterbar sein könnte. Ich denke an Begriffe und Unterscheidungen wie Alltagswissen, kulturspezifisches Wissen etc. Spannend ist für mich die Definition des kontextspezifischen Wissen.
Wenn es sich um kommunizierte Therapieerfahrungen handelt, dann wären auch andere Stimmen möglicherweise hörbar Stimmen, die Therapie und Krankheit anders verstehen. Und wenn es sich um Wissen handelt, das sich zum Teil aber auch aus empirischer Forschung herleitet, dann steht für mich als systemisch orientierter Praktiker die Frage im Raum, welches Empirieverständnis hier eine Rolle spielt.
Ernüchternd und deplaziert kommt mir die Fortsetzung von Schweitzer/von Schlippe vor, indem sie den Konjunktiv hätten wir verwenden. Das klingt wie eine Art nachträglicher Entschuldigung, die ich auch so verstehen könnte: Du Kritiker hast uns falsch verstanden, weil wir nicht alles das schreiben konnten, was wir meinen. Schade, finde ich, denn das, was ich sage/schreibe, nehme ich in der Form ernst, wie es gesagt/geschrieben wurde. Und wenn es anders von mir gemeint war, dann sollte ich es ergänzen und/oder ändern. Zeitbudget oder Seitenzahl scheinen mir da nicht angemessen.
Wir denken
dass systemische Therapie auch (immer schon) … störungsspezifische Elemente integriert hat
Dem kann ich zustimmen, mit dem Hinweis, dass das Wissen der systemisch arbeitenden Profis immer getragen wird von der Idee des Nicht-Wissens, d.h. auch von der Idee, nicht zu wissen, was die Störung für die betroffene Person bedeutet, wie diese sie benennt, was diese möchte etc. Und diese Art störungsspezifischen Wissens folgt meiner Meinung nach nicht zwangsläufig den Vorgaben des ICD-10, wie es für Schweitzer/von Schlippe offenbar sein muss. Für mich zeigt sich an dieser Stelle die Notwendigkeit, genauer zu präzisieren, was Nicht-Wissen als systemisches Konzept in und für die Praxis therapeutischen Tuns bedeutet.
Wenn systemische TherapeutInnen diese Bezeichnungen nutzen, um sich mit KollegInnen und Betroffenen darüber zu verständigen und an deren Sprachspiele anzukoppeln, dann heißt das aus unserer Sicht nicht, dass sie zwangsläufig die in diesen Beschreibungen anderer Schulen enthaltenen Implikationen über Ätiologie, Behandlung und Prognose mit übernehmen.
Das finde ich eine sehr spannende Idee doch ist mir nicht klar, was das praktisch bedeutet. Ich rede mit einer KassenvertreterIn, einer TiefenpsychotherapeutIn, benutze auch deren Vokabular, habe allerdings ein anderes Verständnis. Wie sieht dann die angestrebte Verständigung aus? So, dass die Unterschiede herausgearbeitet werden? So, dass eine Einigung erfolgt? Und wie kann ich mich mit diesen Personen z.B. über sexuelle oder depressive Störungen verständigen, ohne die darin enthaltenen Implikationen zu übernehmen? Hier hätten mir konkrete Beispiele und Möglichkeiten geholfen.
Sind Krankheitskonzepte immer ‚des Teufels‘, so dass das Sprechen und Schreiben über ‚Krankheit‘ (wohlgemerkt in immer mitgedachten Anführungszeichen) zwangsläufig zum ‚Teufelspakt‘ werden muss?
Der hier eingeführte Zeitbegriff immer ist in meinen Augen ein rhetorischer Kunstgriff. Der Satz liest sich ganz anders, wenn hier anstelle von immer das Wort niemals eingesetzt wäre: Sind Krankheitskonzepte niemals ‚des Teufels‘. Es geht in meinen Augen nicht um die Zeitlichkeit, sondern um die Begrifflichkeit im traditionellen Gesundheitssystem müssen Krankheiten als eigenständige Ereignisse vorkommen. Wenn ich in einem solchen Kontext darüber spreche, würde mich interessieren, wie ich die immer mitgedachten Anführungszeichen formuliere. Ich wüsste nämlich nicht, wie. Zumal mein Eindruck der ist, dass die mitgedachten Anführungszeichen mir deutlich machen, dass ich das, was ich sage, selber nicht glaube. Weshalb aber verwende ich dann nicht gleich einen anderen Begriff?
Nur, solange seine Leistungen nicht mit alternativen Begriffen erreicht werden können, halten wir es geradezu für gefährlich, sich aus der Verwendung dieses Begriffes völlig herauszuhalten.
Dies ist eine interessante Hypothese und mich hätte sehr interessiert, worauf sich diese Annahme/Hypothese stützt.
Gesundheits- und sozialpolitisch kann man dem Krankheitskonzept auf zweierlei Weise entkommen. Entweder man privatisiert vollständig die Verantwortung für die Lösung
Oder man installiert ein öffentlich bzw. gemeinnützig finanziertes allgemeines Beratungswesen
Ich halte nicht viel von Dichotomisierungen, denn es gehört für mich zu den systemischen Grundüberzeugungen, dass es mehr Möglichkeiten gibt, als Zweiteilungen vorschreiben. Diese Offenheit, dieser Zug zur vielfältigen Buntheit ist das, was mich am Systemischen immer wieder fasziniert.
Wenn Schweitzer/von Schlippe sich dann als Anwälte der Ambivalenz definieren, kommt mir das angesichts der von ihnen gerade formulierten
entweder-oder-Perspektive eher als Versuch vor, sich einer eindeutigen Position zu entziehen. Wenn das so wäre, wäre die Frage, weshalb dann erst eine solche entweder-oder-Perspektive konstruiert wurde.
Über einen Sachverhalt sich mit einem Franzosen auf französisch unterhalten zu können, dann über denselben Sachverhalt mit einem Engländer auf englisch, und abschließend dem Franzosen auf Französisch erklären zu können, was der Engländer gemeint hat, wäre doch auch ohne ein sophistiziertes Brückenschlagmodell zwischen englischer und französischer Grammatik hilfreich.
So reizvoll und verführerisch dieses Bild erscheint, so verweist es in meinen Augen auf interessante andere Möglichkeiten.
Wenn Menschen unterschiedlicher Sprache sich unterhalten, sprechen immer Personen miteinander. Ob es sich dann beim Wechsel der GesprächspartnerInnen immer um denselben Sachverhalt handelt, wäre ebenfalls zu fragen, zumal Sprache/Worte/Begriffe immer auch soziokulturelle Vereinbarungen darstellen, wie ich glaube. Und ob dann eine Übersetzung von Begriffen in unterschiedliche Sprachen tatsächlich so funktionieren würde, bezweifle ich. Nehme ich z.B. den deutschen Begriff Krankheit – der lässt sich ins Englische vielfältig übersetzen: disease, illness, sickness.
Die Idee der 1:1-Übersetzung gehört für mich ins Reich der Fabel, der Unmöglichkeit. Ich denke, es geht eher darum, mögliche Missverständnisse klein zu halten und ein guter Weg dahin könnte es sein, die eigene Position klar zu benennen.
Und aus dem von Schweitzer/von Schlippe gebrauchten Bild könnte ich (missverständlicherweise?) herauslesen, dass die SystemikerIn den anderen Personen erklärt, was der andere gemeint hat verweist das vielleicht darauf, dass die SystemikerIn weiß, was stimmt? Das wäre dann die Einführung eines wahren Wissens, glaube ich.
Teufelspakt?
Brauchen Systemiker ein Feindbild von ‚Krankheit‘, vom Medizinsystem, den Krankenkassenrichtlinien, den Psychiatern, den anderen Psychotherapieeinrichtungen, um sich als Systemiker ihrer Identität gewiss zu sein und zu bleiben?
Diese Frage kann ich für mich mit einem klaren und entschiedenen Nein! beantworten. Wobei mir dennoch viele Fragen kommen wieso sprechen Schweitzer/von Schlippe von Feindbild? Ich spreche von Unterschieden und das stellt in meinen Augen einen großen Unterschied dar. Und solche Unterschiede tragen davon bin ich überzeugt zu meiner Identität als Systemiker bei. Nicht im Sinne einer Feindschaft, sondern im Sinne interessanter Gespräche mit Menschen, die andere Ideen vertreten. Für mich ist es ein wesentliches systemisches Konzept, Unterschiede zu respektieren als Ausdruck von Vielfalt.
Vielleicht so ein Kompromissangebot an unsere Kritiker sollten wir gemeinsam nach Unterscheidungen suchen, die nicht die Kollegenschaft innerhalb der Systemiker in ‚Lager‘ teilt. ‚Draw a distinction‘ diese Linie könnte statt zwischen ‚Krankheitskonzept Nicht-Krankheitskonzept‘ auch gezogen werden zwischen ‚Hartes Krankheitskonzept Weiches Krankheitskonzept‘.
Ich teile die Skepsis von Schweitzer/von Schlippe nicht, dass sich SystemikerInnen in Lager teilen. Ich schätze unterschiedliche Meinungen und Ansichten. Insofern verstehe ich die Sorge der Lagerbildung nicht.
Interessant bleibt die vorgeschlagene Linie von Schweitzer/von Schlippe, denn auf jeden Fall bleibt es ihnen wichtig, das Krankheitskonzept aufrechtzuerhalten. Es ließe sich ja auch die Unterscheidung treffen Krankheitskonzept subjektiv erlebter Zustand. In meinen Augen wäre ein Krankheitskonzept eine Abstraktion eines Erlebens und die Transformation in einen anderen Bereich. Insofern, denke ich, wäre es hilfreicher zu unterscheiden zwischen Krankheit als konzeptuelle Abstraktion eines Fachbereichs und Krankheit als subjektiv erlebte Erfahrung. Ob und inwieweit diese beiden Beschreibungen (Konzeptualisierungen) sich überschneiden, wäre eine weitere Frage ebenso wie die, wie anschlussfähig diese beiden Konzeptualisierungen miteinander wären.
Systemiker können vermutlich nachhaltig auch als Paar-, Lebensberater und Gesundheitscoaches auf dem Markt frei bezahlter Gesundheitsdienstleistungen erfolgreich tätig sein. Wer das schon tut oder künftig vorhat, für den ist die Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin derzeit weitgehend unnötig.
Dies verstehe ich nicht. Ich bin im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen tätig, lehne den Krankheitsbegriff ab und setze mich dennoch mit der evidenzbasierten Medizin auseinander. Mir scheint, hier könnte wieder eine ausschließende Zweiteilung (entweder oder) hineingerutscht sein, statt einer ergänzenden Zweiteilung (sowohl als auch).
Unverständlich bleibt mir, an welcher Stelle im Lehrbuch II Schweitzer/von Schlippe selbst diese Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin führen.
Im politischen Diskurs ist die Reduktion auf klare, prägnante Schlagworte, die nicht immer ihren ganzen Kontext mitbeschreiben, unerlässlich, will man der systemischen Therapie außerhalb der engen Insiderszene Gehör verschaffen.Dem kann ich voll und ganz zustimmen nur frage ich mich, inwieweit die eher weiche Position von Schweitzer/von Schlippe als Anwalt der Ambivalenz (und weniger als Anwalt systemischer Eindeutigkeit. Ich weiß, ein Widerspruch) einer solchen klaren und prägnanten Reduktion entspricht.
2. Die systemische Therapie möge sich selbstbewußt als Avantgarde und als grundlegendes Grundlagenverfahren einer noch diffusen, aber am Horizont aufscheinenden ’schulenübergreifenden Psychotherapie‘ verstehen
Diese von Schweitzer/von Schlippe aufgezeigt Perspektive vermag ich nur schwerlich nachzuvollziehen, da mir das Selbstbewußte in ihrer Argumentation nicht deutlich geworden ist. Ich sehe eher das Gegenteil eine weiche, zurückhaltende, defensive Argumentation.
Und mir ist nicht klar, was systemische Therapie und schulenübergreifende Psychotherapie verbindet. Mir scheint eher aber das ist eine andere und weitere Diskussion -, dass in einem schulenübergreifenden Psychotherapiekontext auch die systemische Therapie ihre Eigenart aufgeben könnte oder sogar müsste.