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Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen

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Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen

Wolfgang Loth hat sich in Heft 1/2019 der Zeitschrift systeme mit der Neuauflage eines 10 Jahre alten Buches von Sigrun-Heide Filipp & Peter Aymanns beschäftigt, die 2018 erschienen ist: „Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens“. Es ist kein „systemisches“ Buch im engeren Sinne, aber dennoch Loth zufolge für Systemiker zu empfehlen: „Gerade im Kontext der nun in die Gänge kommenden Verankerung systemischer Therapie im Gesundheitswesen dürfte das dem Profil systemischer Therapie nützen. Forschungsergebnisse, wie die im vorliegenden Buch beschriebenen, aufzugreifen und sie in explizit systemische Fragestellungen zu übersetzen, könnte der systemischen Therapie dabei helfen, im real existierenden Gesundheits-Organisations-Wesen erkennbar zu bleiben. Systemische Therapie ist mehr als die von ihr propagierten Methoden. Der konsequente Blick auf Sinnentfaltung im Kontext darf nicht verloren gehen. Erstaunlicherweise finde ich in diesem, der Reflexion empirisch gewonnener Erkenntnisse gewidmeten Buch manchmal eine nachdenklichere, selbstkritischere Haltung als in manchen Publikationen systemischer Provenienz, die Wirksamkeit reklamieren oder über Stolperstellen huschen, die bei redlicher Betrachtung immer wieder vorkommen“.


Wolfgang Loth, Niederzissen:

Die Erstauflage des vorliegenden Buches erschien vor 10 Jahren. Die Welt, so scheint es, ist in der Zwischenzeit noch unübersichtlicher geworden, schneller und fraktionierter zugleich, ein Tummelplatz galoppierender Orientierungsreaktionen. Das Private, das Refugium und Medium der Wünsche nach Unversehrtheit, Selbstwirksamkeit und wohltuenden Beziehungen bleibt davon nicht unberührt. Insofern wundert es nicht, dass das vorliegende Buch auch in seiner Wiederauflage nach wie vor aktuell erscheint. Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen – „an sich“ erwartbar – erhalten durch die angedeuteten Entwicklungen fortlaufend wahrnehmungsverschärfende Differenzhinweise: Man kann sich nicht abschließend daran gewöhnen.
Sigrun-Heide Filipp und Peter Aymanns stehen für die profilierte Trierer Forschung zur „Entwicklung der Lebensspanne“ und man kann insofern erwarten, dass sie ihr Thema nicht nur punktuell beleuchten, sondern in seinem weitverzweigten Netz zeitlicher und kontextueller Bedingungen reflektieren. Das bringt ihren Beitrag aus meiner Sicht in unmittelbare Nähe zu den Themen und Prämissen systemischer Therapie und lädt daher dazu ein, über Möglichkeiten nachzudenken, das hier versammelte Wissen in den systemischen Diskurs einzubeziehen, auch wenn das vorliegende Buch den Begriff „systemisch“, wenn überhaupt, nur marginal verwendet und es nicht zum Kanon genuin systemischer und systemtheoretischer Literatur gehört. Noch nicht, möchte ich sagen. Aus meiner Sicht spricht einiges dafür, dies zu ändern. Dazu später.

Zum Inhalt: In 12 Kapiteln erschließen Filipp und Aymans ihr Thema. Zunächst spüren sie den wesentlichen Begriffen nach und gelangen zu einer plausiblen Beschreibung kritischer Lebensereignisse: Sie seien „dadurch charakterisiert, dass sie ein hohes Maß an Veränderungen im Leben mit sich bringen, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben aufgebaute Passungsgefüge zwischen der Person und ihrer Umwelt attackieren und im Zuge des Bewältigungsverhaltens eine mehr oder minder grundlegende Neuordnung dieses Passungsgefüges erzwingen“ (S.58). Das geht in der Regel einher mit ausgeprägter emotionaler Bewegung.
In einem nächsten Schritt unterscheiden sie zwischen kritischen Lebensereignissen als Stressoren und als „Typus der Lebenserfahrung“. Bereits hier wird für mich deutlich, dass es in der Zusammenstellung der Forschungsergebnisse nicht in erster Linie um das Erkunden von Reaktionen unter Laborbedingungen geht, sondern um das Hinwenden zum gelebten Leben.
In der Folge stehen zwei Fragen zur Debatte: „Machen kritische Lebensereignisse krank?“ (stresstheoretische Perspektive) und „Machen kritische Lebensereignisse stark?“ (entwicklungstheoretische Perspektive). Die AutorInnen wägen in guter akademischer Tradition ab und liefern Kategorien möglicher Erkenntnis. Beeindruckend finde ich, dass sie in der Lage sind, die Begrenztheit bisherigen Wissens aufzuzeigen. Sie hegen zwar die Hoffnung auf Reifung und Stärkung im Kontext lebenskritischer Herausforderungen. Das hindert sie jedoch nicht, ihre bisherigen Erkenntnisse in dieser Richtung zu relativieren: „vielleicht überschätzen wir ja auch die Belastungskapazität des Menschen, wenn wir erwarten, dass diejenigen, die sich auf den Schattenseiten des Lebens befinden, in diesem Schatten auch noch „reifen“ und „wachsen“ sollen“ (S.140). Für mich ein Beispiel für seriösen Umgang mit Empirie – und implizit eine Querverbindung zum Beobachten 2. Ordnung.
Ein zentraler Begriff ist „Bewältigung“. Dazu gibt es vier Kapitel: Es geht um Bewältigung als „Schlüsselkonzept“, als „mentales Geschehen“, als „sozial-interaktives Geschehen“ und schließlich um „Personale Ressourcen und Risiken im Bewältigungsgeschehen“. Unter der mentalen Perspektive steht das Thema Sinn im Zentrum, das Ringen um hilfreiche Antworten auf die Fragen nach dem „Warum?“ und „Wozu?“. Besondere Bedeutung gewinnt die Fähigkeit, sich von unerreichbaren Zielen zu verabschieden, im weitesten Sinn Flexibilität im Umgang mit dem, was Orientierung gibt. Dass dies nicht einfach ist, verdeutlicht der Abschnitt über „Bewältigung als Konsistenzsicherung und Verteidigung des Selbst“. Auch hier zeigt sich die Bereitschaft der AutorInnen, die Forschungslage und erwünschte Schlussfolgerungen kritisch gegen den Strich zu bürsten.
Die im Prinzip geborene Nahtstelle zu systemischen und familientherapeutischen Perspektiven bildet das Kapitel über Bewältigung als sozial-interaktives Geschehen. Hier ist eine Vielzahl von Forschungsergebnissen aufgeführt, die geradezu darauf warten, ihre Relevanz in der systemischen Praxis zu erweisen – oder relativiert zu werden, d.h. im Kontext neu bewertet. Auf jeden Fall ergeben sich hier wie von selbst vielfältige Impulse.
Die letzten drei Kapitel reißen professionelle Hilfen, insbesondere Krisenintervention an und untersuchen mögliche Hinweise auf das, was kritischen Lebensereignissen vorausgeht. Im letzten dieser Kapitel geht es um das autobiographische Gedächtnis, ein Thema, das im Zusammenhang mit dem Fokus auf der Lebensspanne als Entwicklungsgeschehen nahe liegt. Da darf auch Herr K., der erbleichende, nicht fehlen, wenn Veränderung geleugnet wird, und sei es, um irgendwie doch „der Alte“ geblieben zu sein, während man nicht jünger wurde (und das Leben einen geprägt hat). Soweit zum Inhalt.
Warum nun eine Besprechung dieses Buches in einer genuin systemischen Zeitschrift? Mir scheint es nahezuliegen, die in dem hier besprochenen Buch dargelegten Forschungsergebnisse auf ihre unmittelbare Brauchbarkeit für die systemische Praxis zu befragen. Zwar scheint es durchaus angebracht, die Ergebnisse empirischer Forschung nicht unbesehen zu übernehmen, sondern sie kritisch zu würdigen (1). Das kritische Würdigen solcher Forschung scheint mir ein hilfreiches Gegengewicht zu sein zu einer manchmal einseitig auf Tools und Techniken fokussierenden Praxis. Gerade im Kontext der nun in die Gänge kommenden Verankerung systemischer Therapie im Gesundheitswesen dürfte das dem Profil systemischer Therapie nützen. Forschungsergebnisse, wie die im vorliegenden Buch beschriebenen, aufzugreifen und sie in explizit systemische Fragestellungen zu übersetzen, könnte der systemischen Therapie dabei helfen, im real existierenden Gesundheits-Organisations-Wesen erkennbar zu bleiben. Systemische Therapie ist mehr als die von ihr propagierten Methoden. Der konsequente Blick auf Sinnentfaltung im Kontext darf nicht verloren gehen. Erstaunlicherweise finde ich in diesem, der Reflexion empirisch gewonnener Erkenntnisse gewidmeten Buch manchmal eine nachdenklichere, selbstkritischere Haltung als in manchen Publikationen systemischer Provenienz, die Wirksamkeit reklamieren oder über Stolperstellen huschen, die bei redlicher Betrachtung immer wieder vorkommen.
Die weiterführende Resonanz auf das vorliegende Buch scheint mir auch gerade deshalb notwendig, weil es, wie fast alle für die Praxis relevante Forschung nicht auf bestehende systemische Literatur zurückgreift. Vieles, was in systemischer Praxis Alltag ist, lässt sich implizit aus dem vorliegenden Buch herauslesen, ohne dass eine explizite Querverbindung benannt wird. Pars pro toto: „Betroffene sind in der Regel wenig interessiert, die ‚philosophischen‘ Erörterungen anderer über den ‚Sinn des Leidens‘ anzuhören, oder eine neue Deutung dessen, was ihnen widerfahren ist, vorgesetzt zu bekommen“ (S.278). Passung ist das Zauberwort, Reframing keine Kunst der TherapeutInnen, sondern ein gemeinsam erfahrenes auch-anders-können.
Und wenn es heißt: „die Anatomie kritischer Lebensereignisse ist ein komplexes Gebilde“ (S.66), und „das Primat des Subjektiven“ unterstrichen wird (S.33), führt das für mich wie von selbst zu Norcross und Wampold (2018), die eine neue, maßgeschneiderte Therapie für jede einzelne PatientIn vorschlagen – weder die beiden Autoren, noch ihre Forschung zur Bedeutung von Beziehungsvariablen in Beratung und Therapie kommen vor. Da gäbe es einiges an Querverbindungen zu erkunden, scheint mir.
Ebenfalls Gesprächsbedarf ergibt sich für mich etwa aus Reddemanns Platzierung unter „Ergänzende Interventionstechniken“ (S.346) ohne ihren Fokus auf „Mitgefühl“ (das Wort kommt im Index nicht vor) als einen „common factor“ in der Psychotherapie traumatisierter Menschen zu erwähnen (siehe Reddemann 2019). Unter der gleichen Überschrift wird die „sog. Lösungsorientierte Kurzzeittherapie“ erwähnt, mit einer Sekundärliteraturangabe, ohne Verweis auf die Fülle der mittlerweile seit Jahrzehnten vorliegenden Literatur aus erster Hand. Das ließe sich fortsetzen, soll aber an dieser Stelle nur auf die Möglichkeiten hinweisen, den Fokus des vorliegenden Buches und seinen Informationsreichtum mit Ansätzen systemischer Praxis ins Gespräch zu bringen. Filipp und Aymanns ist nicht anzulasten, was ich da angemerkt habe. Es war nicht ihr Anliegen, ein systemisches Lehrbuch zu schreiben. Sie haben das Feld aus ihrer Sicht in Tiefe und Breite umfassend durchgearbeitet und vorgestellt. Das ist schon beeindruckend und man könnte sich darin festlesen.
Mir gefällt auch sehr, dass beide AutorInnen ihr Thema respektvoll behandeln. An vielen Stellen wird deutlich, dass sie ihre und die allgemein vorliegende Forschungsarbeit als etwas betrachten, was weiterer Aufmerksamkeit und weiteren Bemühens bedarf. Die „Geschichte menschlichen Leidens“, schreiben sie, sei „nicht annähernd repräsentiert […] durch die uns zugängliche Forschungslandschaft: Was Menschen in ihrem Leben individuell oder kollektiv zu bewältigen hatten und haben […] überschreitet in der Summe unser aller Vorstellungskraft“ (S.30).
Das Buch enthält eine differenzierte Gliederung, sowie ein umfangreiches Personen- und Sachregister. Zum Ende der einzelnen Kapitel findet sich jeweils ein kurzes Resümee.
Mein Fazit: Das Buch hat zurecht seine Wiederauflage bekommen, es war wichtig und bleibt wichtig. Und dies sowohl im Hinblick auf sein Thema an sich als auch im Hinblick auf seinen Anregungsreichtum für Theorie und Praxis systemischer Therapie, sowie deren eigener Aufgabe, sich gegenüber empirischer Forschung als ernstzunehmendes Gegenüber zu profilieren – über die bislang dominierende Wirkungsforschung hinaus.

Literatur:

Kriz J (1981) Methodenkritik empirischer Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis. Teubner, Stuttgart
Norcross JC & BE Wampold (2018) A new therapy for each patient: Evidence-based relationships and responsiveness. J of Clinical Psychology 74(2):1-18; DOI: 10.1002/jclp.22678
Reddemann L (2019) Über Mitgefühl – ein common factor in der Psychotherapie traumatisierter Menschen? Systeme 33(1): 6-23
Wolfgang Loth (Niederzissen)

(1) Kriz (1981) bleibt dabei ein zuverlässiger und blickschärfender Begleiter

(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 1/2019)

Eine weitere Rezension von Carsten Rensinghoff bei social.net

Sigrun-Heide Filipp & Peter Aymanns (2018): Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. Stuttgart (Kohlhammer)

2., aktualisierte Auflage, 472 S.
ISBN: 978-3-17-032921-8
Preis: 34,99 €

Verlagsinformation:

Kritische Lebensereignisse gehören zum Erfahrungshorizont fast aller Menschen. Es gilt zu präzisieren, was Ereignisse als kritisch ausweist und welchen Platz sie jeweils im Leben (und auch in Lebenserinnerungen) einnehmen. Nicht selten führen solche Ereignisse zu tiefgreifenden Erschütterungen des Selbst- und Weltbildes, sie erzeugen Chaos im Kopf und drohen die Betroffenen in eine tiefe emotionale Krise zu stürzen. Inwieweit die Betroffenen daraus gestärkt hervorgehen oder in ihrer Handlungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt sind, hängt wesentlich von ihrem Bewältigungsverhalten ab. Dieses wird umfassend – als mentales wie auch als sozial interaktives Geschehen – beleuchtet. Abschließend wird illustriert, wie Hilfe im Umfeld kritischer Ereignisse (v. a. Krisenintervention) gestaltet sein kann. Aktuelle Erkenntnisse und Entwicklungen zusammengefasst in einem Kommentar zur 2. Auflage.

Über die AutorInnen:

Prof. Dr. Sigrun-Heide Filipp und Dr. Peter Aymanns waren bis 2008 resp. 2015 im Fach Psychologie an der Universität Trier in der Lehre tätig.

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7 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    Lieber Wolfgang,
    ich habe Deine Rezension mit großem Interesse gelesen, danke! Mich würde interessieren , wie Filipp und Aymanns das Problem früher Bindungsstörungen bzw. von Entwicklungstraumata behandeln – ist das ein Thema des Buches? herzliche Grüße, Lothar

    • Wolfgang Loth sagt:

      Lieber Lothar,
      das Buch enthält Informationen zu den von Dir genannten Stichworten, jedoch wahrscheinlich nicht in der Art, wonach Du (vielleicht) suchst, und sicher nicht in dem Umfang. Am ehesten könnte Kap. 9.11. dazu passen („Die Rolle früher Erfahrungen“, S.328-334, als Teil von Kap. 9: „Personale Ressourcen und Risiken im Bewältigungsgeschehen“). Auf diesen Seiten gibt es Befunde zu lesen, bzw. Äußerungen, die zu frühen Bindungsstörungen bzw. Entwicklungstraumata in Beziehung gebracht werden (können), aber nicht unter einer expliziten Störungsüberschrift. In ihrem Vorwort zu dieser 2. Auflage verweisen Aymanns und Filipp darauf, dass die von ihnen diskutierten Befunde „auch auf Analysen auch traumatischer Ereignisse anwendbar sind“ (S.9).
      Auch dieses Kapitel 9.11erweist sich als eher nüchterne und akademisch seriöse Darstellung unterschiedlicher Perspektiven, etwa im Sinne einer Pfad-Hypothese vs. einer Vulnerabilitätshypothese. Verlusterfahrungen in früher Kindheit und Ressourcenkontexte kommen gleichermaßen zur Sprache. Zur Illustration des Tenors vielleicht zwei Beispiele. Auf S. 331 heißt es: „Häufig werden die langfristigen Konsequenzen früher kritischer Ereignisse zudem dadurch vermittelt, dass diese Ereignisse kumulative Benachteiligungen in Gang gesetzt haben, etwa weil die betroffenen Kinder keine Gelegenheiten hatten, Fähigkeiten der Emotionsregulation und der Gestaltung sozialer Beziehungen zu entwickeln (…), diese Kompetenzdefizite auf unterschiedlichen Pfaden ihr ganzes Leben negativ beeinflusst haben und sie auch einem höheren Risiko, (erneut) zum Opfer kritischer Lebensereignisse zu werden, ausgesetzt waren.“ Und im Resümee (9.12., S.334-335) heißt es: „Deutlich wurde aus der bisherigen Befundlandschaft zudem, dass der Erwerb von Ressourcen wie die Entwicklung von Vulnerabilitäten lebensgeschichtlich rekonstruiert werden muss (…). Frühe Erfahrungen haben in dem Maße nachhaltig gewirkt, wie sie entweder kumulative Schädigungen in Gang gesetzt und die Menschen in ihrem Leben auf spezifische Weise verletzlich gemacht haben oder wie diese Erfahrungen – im günstigen Fall – die Menschen mit einem Reichtum an Ressourcen ausgestattet und ihnen ein komfortables Polster für die raue Lebenswirklichkeit mitgegeben haben. Doch ungeachtet der überwältigenden Evidenz, die unseren Blick gelenkt hat auf Ressourcen und Vulnerabilitäten, gilt es zu bedenken, dass kritische Lebensereignisse häufig so außerordentlich starke Situation erzeugen (z.B. der Tod eines Kindes), dass individuelle Unterschiede in der Ressourcenausstattung für den Umgang mit solchen Ereignissen womöglich ganz ohne Bedeutung sind“. Ich vermute, das trifft nicht ganz das, was Dich zu Deiner Frage bewegt hat. Doch ist das Leitmotiv dieses Buches eben nicht eine Störungs- und/oder Traumaperspektive (weder generell noch spezifisch), sondern die Entwicklung in der Lebensspanne (Entwicklung sowohl mit ihren Gefährdungen als auch mit ihren Möglichkeiten). Und dabei erhalten Belastungen (auch Psychotraumata) ebenso Aufmerksamkeit wie abfedernde Faktoren, sowohl individuelle als auch kontextuelle. Ich finde die Herangehensweise der beiden AutorInnen in ihrer Seriosität und Menschlichkeit schon beeindruckend.
      Danke für Dein Interesse
      und herzlichen Gruß
      Wolfgang

      • Lothar Eder sagt:

        Lieber Wolfgang, vielen Dank für die ausführliche Antwort. Als Trierer Absolventen kennen wir ja beide die damalige dortige Arbeit und das Konzept von “life span develeopment”. Ich finde die Perspektive der beiden Autoren sehr wertvoll und fruchtbar, allerdings fehlt (mir) etwas – eben genau das, wo das Akademische endet und das Leben beginnt bzw. sich ereignet und vollzieht.
        Die Trauma- bzw. Bindungsperspektive ist mir da einfach mehr am Leben und an der therapeutischen Erfahrung dran. Sie findet sich aber z.B. auch in der ACE-Studie wieder, also durchaus im akademischen Kontext (die ACE Studie zeigt sehr beeindruckend, wie sich traumatisierende Erfahrungen in der frühen Entwicklung auf spätere, v.a. auch körperlich manifeste Erkrankungen auswirken).
        herzliche Grüße, Lothar

        • Wolfgang Loth sagt:

          Lieber Lothar,
          Aymanns und Filipp haben tatsächlich keinen Bezug genommen auf die Arbeiten von Felitti und KollegInnen, die ihnen auch schon im Jahr des Ersterscheinens ihres Buches hätten vorliegen können (ACE-Studien, adversive childhood experience, z.B. Felitti 2002, 2007). Ich gehe davon aus, dass es tatsächlich die andere Schwerpunktsetzung ihres Buches war, die sie das hat aus dem Blick bleiben lassen, trotz oder vielleicht wegen der Aufmerksamkeit für die ACE-Studien in amerikanischen Publikumszeitungen und -zeitschriften. Vielleicht auch, weil sich Felittis Untersuchungen zunächst im medizinischen Kontext entwickelten. Ich weiß es jedoch nicht. Wie auch immer, Dein Einwand ist berechtigt, die Befundlage ist mittlerweile ausgedehnt und es spricht einiges dafür, dass mittlerweile ein Stand erreicht ist, von dem es im aktualisierten Vorwort von Filipp & Aymanns noch heißt, es werde vermutlich „noch lange dauern, bis die psychobiologische Forschung jene Veränderungen identifiziert hat, über die solche extrem aversiven Kindheitserfahrungen transformiert werden in die Entstehung körperlicher Erkrankungen und psychischer Störungen im Erwachsenenalter“ (S.10). Ich vermute, den beiden AutorInnen ist auch bewusst, dass sie die Fülle des mittlerweile vorhandenen Materials nicht mehr annähernd vollständig wiedergeben können. Den von ihnen gewählten (und beibehaltenen) Orientierungsrahmen finde ich dann auch, wie gesagt, weiterhin plausibel und hilfreich, was nicht ausschließt, spezifischere und neuere Forschung in den Blick zu nehmen. Sei also bedankt für Deinen Kommentar und den Hinweis auf die ACE-Studien. Und auch für Dein Insistieren auf Mitfühlen und Mitgehen.
          Herzliche Grüße
          Wolfgang

          Die erwähnte Lit.:
          Felitti JV (2002) The Relation Between Adverse Childhood Experiences and Adult Health: Turning Gold into Lead. Verfügbar online: file:///C:/Users/kopil/Documents/a%20Publikationen%20asa/The%20Relation%20Between%20Adverse%20Childhood%20Experiences%20and%20Adult%20Health%20%20Turning%20Gold%20into%20Lead.html (23.10.2019)
          Felitti, Vincent J.; Fink, Paul Jay; Fishkin, Ralph E.; Anda, Robert F. (2007): Ergebnisse der Adverse Childhood Experiences (ACE) – Studie zu Kindheitstrauma und Gewalt. Epidemiologische Validierung psychoanalytischer Konzepte. Trauma & Gewalt 1(2), pp 18-32

          • Lothar Eder sagt:

            Lieber Wolfgang, erneut danke für Deine umfassende Antwort. Ja, der Orientierungsrahmen von Filipp und Peter Aymanns mag hilfreich sein. Aber einen Mangel in der psychobiologischen Forschung anzumahnen, der bereits behoben ist, und dies offenbar mangels Kenntnis, ist mE schon ein gewaltiges Manko ds Buches. Zumal die ACE Studie einen zentralen Punkt der Fragestellung des Buches klärt.
            Einmal mehr zeigt sich mE, wie oft die akademische Forschung in ihrem redlichen Bemühen, die Dinge aufzuklären, genau das Gegenteil hervorbringt: sie verstellt den Blick auf die Realität. Ein menschliches Verständnis, gepaart mit Resonanzfähigkeit und ein wenig geschulter Intuition vermag da mehr ans Licht zu bringen als die ganze Empirie. Nein, es ist vielmehr so: das resonanzfähige Gegenüber (z.B. in der Therapiesituation) vermag es die wahre, ursprüngliche Empirie zu vollziehen. Nämlich eine, welche für alle Beteiligten die Erlebenskerne verfügbar und damit lösbar macht. Erkenntnis eben nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern im Erleben (in den Bildern, den Gefühlen, dem Atem …). Die Krux der Aufklärung und der aus ihr resultierenden Forschungsmethodik haben ja u.a. Horkheimer und Adorno in der “Dialektik der Aufklärung” hinreißend beschrieben.
            nochmals herzlichen Gruß – Lothar

          • Wolfgang Loth sagt:

            Antwort zu Deinem Kommentar vom 25.10.:
            Ja, lieber Lothar, vermutlich könnten wir jetzt noch länger hin- und herschreiben, und uns trotz manch unterschiedlicher Ansichten immer wieder in tragfähiger Differenz verbunden erleben.
            Vielleicht nur noch als kurzer Querverweis, bevor es für andere LeserInnen zu insiderig wird: Was Du da als Manko beschreibst, bzw. als Vorwurf, haben Reiter und Steiner seinerzeit durchdekliniert in ihrem Beitrag über „Psychotherapie und Wissenschaft“ – Psychotherapie als Profession, zu der Wissenschaft eine der notwendigen, weil (zu Nachdenken, Weiterdenken, Widerspruch) anregenden Umwelten dessen darstellt, was wir in der Praxis tun. Also: klare, doch aufeinander bezogene Unterscheidung von Profession und Wissenschaft. Belassen wir es jetzt dabei, auch wenn es spannend ist und als Thema unserer Profession wichtig. Den Text von Reiter & Steiner gab es früher auch mal hier in der systemagazin- Bibliothek zu lesen… (Für Interessierte: Reiter L, Steiner E (1996) Psychotherapie und Wissenschaft. Beobachtungen einer Profession. In: Pritz A (Hg) Psychotherapie – eine neue Wissenschaft vom Menschen. Springer, Wien/New York, S. 159­20].
            Herzlichen Gruß: W.

  2. Peter Kaimer sagt:

    Lieber Wolfgang, da hast du eine verdinestvolle Rezension erstellt und Deinen systemischen Kolleg(inn)en einen Wink gegeben – ich sage nur “Stolperstellen”.
    LG Peter Kaimer

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