Kurz vor den Feiertagen ist die letzte Kontext-Ausgabe 2014 erschienen. Im Editorial heißt es:
„Das aktuelle Heft ist als »freies Heft« also keinem spezifischen Thema zuzuordnen, sondern enthält eine Reihe von sehr anregenden und lesenswerten Beiträgen, die unterschiedliche theoretische, konzeptuelle, praktische und forschungsbezogene Akzente setzen und die Lebendigkeit des systemischen Feldes einmal mehr unter Beweis stellen.
Den Anfang macht Christoph Schneider, der sich Gedanken macht über das Begriffspaar Sinn und Struktur. Akzeptiert man das Luhmannsche Theorem, dass Sinn das Medium ist, vermittels dessen sich soziale und psychische Systeme strukturell koppeln, und den grundsätzlichen Verweisungszusammenhang darstellt, in dem Kommunikation und Denken jeweils für sich Anschlussmöglichkeiten auswählen, gibt es so etwas wie Sinnlosigkeit nicht, es sei denn, damit ist das Ende des Systems gemeint. Um dennoch das therapeutisch bekannte Thema von Sinnlosigkeit oder -mangel aufgreifen zu können, sucht Schneider im Anschluss an die Vorstellung unterschiedlicher Sinnbegriffe einen anderen, dritten Weg, der zwischen den polarisierten Kategorien von Sinn und Nicht-Sinn Zwischenräume ausloten will. Eine ähnliche Operation nimmt er mit dem Begriffspaar Struktur und Strukturlosigkeit vor. »Jenseits des Bezugs auf verlässlichen Sinn droht nicht zwangsläufig der abrupte Absturz in die Sinnlosigkeit, und hinter der Struktur lauert nicht unvermittelt das Schreckgespenst des Chaos. Es existieren vielmehr Übergangsräume und ›Zwischenlagen‹ (Giesen, 2010), die, dank ihrer klassifikationsfreien Offenheit und Unbestimmtheit, weder Sinn noch Sinnlosigkeit, weder Struktur noch ungeordnetes Chaos sind. Diese Übergangszonen zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, zwischen Struktur und Chaos repräsentieren ein in der Schwebe gehaltenes Drittes …«. Dabei nimmt sein Text durchaus die eine oder andere kühne theoretische Wendung, was aber sein Anregungspotenzial nicht mindert, sondern eher vergrößert. Wer aufmerksam liest, wird Bezüge zu einem Konzept der Präsenz »diesseits der Hermeneutik« (H.-U. Gumbrecht) herstellen können, auch ohne dass hierauf im Text Bezug genommen würde: Das in der Schwebe gehaltene Dritte kann nämlich jenseits von Sinngebung oder Sinnverlust auch als unmittelbare und unvermittelte Begegnung verstanden werden, das sich als pure Resonanz einer Sinndeutung entzieht.
Ein kleines Schmuckstück ist der zweite Artikel in diesem Heft. Antonia Wunderlich ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet unter anderem im neuen Kunstmuseum des Erzbistum Köln, wo sie eine besondere Form des »Kunstgesprächs« mit den Besuchern entwickelt hat, in dem sie grundlegende Prinzipien der systemischen Beratung auf die besondere Form der Kunstgespräche überträgt. Nun könnte man auf den ersten Blick meinen, dass der Gegenstand dieser Arbeit nicht viel mit dem Kernbereich Systemischer Therapie und Beratung zu tun habe, stellt dann aber schnell fest, dass es wie in der systemischen Therapie und Beratung auch hier zentral um die Frage des Verhältnisses von Expertenwissen und subjektiven Empfinden der Betroffenen beziehungsweise um die Beziehung zwischen unterschiedlichen Wissensarten in der konkreten Begegnung geht. Das Gespräch über Kunst kann man also ohne weiteres als Metapher für jedes andere professionell geführte Gespräch lesen. Das außerordentliche Bewusstsein für die ambivalente Form dieser Kunstgespräche drückt sich auch in dem bemerkenswert flüssigen und eleganten Stil der Autorin aus, der die Lektüre des Textes zu einer wirklichen Freude macht.
In einem konzeptuellen Beitrag stellt Axel Enke seine Praxis der Durchführung von Kinaesthetics-Seminaren vor, die den Teilnehmern auf der Basis körperbezogener Interventionen die Verbindung von Beziehung und Bewegung nahebringen soll. Enke versucht aufzuzeigen, dass sich Kinaesthetics als eigenständiges Konzept gut in die systemische Angebotswelt integrieren lässt. es handelt sich nicht um eine primär therapeutische Praxis, unterstützt aber Angebote der Begleitung und Pflege von Neugeborenen, alten Menschen, Behinderten und Patienten wie die kreative Bearbeitung von Lebensthemen in verschiedensten praktischen Kontexten.
Jochen Schweitzer, Corina Aguilar-Raab und Christina Hunger stellen in einem Forschungsbeitrag zwei neue Instrumente zur Erfassung systemischer Veränderungen vor. Damit wollen sie einen Schritt zur Überwindung eines klassischen Forschungsproblems leisten, nämlich dass »bislang […] Symptomreduzierungen oder individuelle psychische Befindensbesserungen nach systemischer Therapie besser abbildbar [sind] als das ,Eigentliche’ dieses Beratungs- und Therapieansatzes, nämlich eine aus Klientensicht bessere Beziehungsqualität und kollektive Problemlösefähigkeit sowie ein besseres Systemerleben.« EVOS und EXIS heißen die von den Autoren konstruierten Fragebögen – die Leserschaft wird von ihnen herzlich eingeladen, diese kostenlos zur Verfügung gestellten Instrumente selbst zur Evaluation eigener Therapie- und Beratungsprozesse auszuprobieren.
In der Rubrik Diskurs finden Sie zwei ebenfalls zur Diskussion einladende Artikel. Georg Singe fragt nach dem Beitrag der Systemtheorien für eine mögliche Beratungswissenschaft und präsentiert eine Liste von zehn systemtheoretisch relevanten Merkmalen für die Entwicklung von Konzeptionen psychosozialer Beratung. Der Beitrag von Tanja Kuhnert geht im Kontrast zum eher modellbezogenen Text von Singe ganz von ihren eigenen praktischen Erfahrungen als Projektleiterin in Köln-Chorweiler aus, mit dem so genannte Großfamilien im SGB II-Bezug dabei unterstützt werden sollten, »Familienpotentiale zu aktivieren«. Finanziert wurde dieses Projekt vom Jobcenter. Kuhnert beschreibt das Ohnmachtserleben, die Scham und den Verlust von Würde, die mit einer Existenz unter Hartz IV verbunden sind und sich auch auf die professionellen Helfer übertragen, und möchte mit diesem Beitrag die Leserinnen und Leser dazu einladen, mit ihr in einen Erfahrungsaustausch und eine Diskussion einzutreten. Das letzte Heft des Kontext war ein Themenheft, dass sich mit dem Kinderschutz beschäftigt. Sebastian Moritz arbeitet beim Berliner Notdienst Kinderschutz und hat sich von unserem Heft inspirieren lassen, aus ganz subjektiver Perspektive eine Nachtschicht im Notdienst zu erzählen, eine Geschichte, die ganz unspektakulär, aber auf sehr berührende Weise schildert, wie sich Kinderschutzarbeit »an der Front« abspielt und welcher innere Film beim Autor dabei abläuft.“
Alle bibliografischen Angaben für dieses Heft (wie für den ganzen Jahrgang) finden Sie hier…
Notwendige Ergaenzung:
Als “nicht fest-stellendes Beobachten” bezeichne ich das sich vollziehende Bezeichnen, den physisch-mimetischen Vollzug als solchen; „zeichnen“.
Hallo Herr Walkow,
ich bin wieder in internetkompatiblen Gegenden dieser Welt gelandet.
Kurz einige Saetze zum Begriff des fest-stellenden Beobachtens.
Als „fest-stellendes Beobachten“ bezeichne ich ein Rechnen mit bereits vollzogenen Bezeichnungen durch ein Sensorium, das Unterschiede registriert, ein zweiwertiges Denken (etwas ist – ist nicht – tertium non datur) in Dingen; ein festes Bild haben von dem, was ist. Kognition.
Als „nicht fest-stellendes Beobachten“ bezeichne ich ein Rechnen in Moeglichkeiten durch ein Motorium, das Unterschiede bewirkt; ein mehrwertiges, heterarchisches Denken in Mustern oder Relationen, sich physisch-mimetisch ein Bild machen von dem, was sein koennte. Volition.
Als Beobachter zweiter Ordnung (die wir sind und bleiben) muessen wir beides sorgfaeltig auseinanderhalten. Wenn wir aber diese zweiwertige Kontextur mit einer weiteren zweiwertigen Kontextur (= der Interaktion des Systems mit anderen Systemen) verbinden und lebende Systeme als dissipative Strukturen sehen, dann laesst sich aus ein Perspektive dritter Ordnung die Moeglichkeit von Autopoiesis lebender Systeme denken.
Soviel in aller Kuerze. Gerne mehr.
Hallo Herr Walkow,
schön, dass Sie in die Debatte eingestiegen sind.
Sie fragen „…ob es überhaupt zu leisten ist ‚den Beobachter’ aus zwei entgegengesetzten Perspektiven zu beobachten. Ich habe meine Zweifel, ob das überhaupt irgendein Begriff leisten kann.“
Genau – ich auch! Deshalb habe ich ja in dem Text, auf den ich mich beziehe („Die Muskeln des Beobachters“, siehe den unten wiedergegebenen link) gleich zu Beginn ausdrücklich festgestellt, dass sich das Muster, das den Maturana’schen und den Luhmann’sche Beobachtungsgegenstand verbindet, nicht (fest-stellend, d. h. begrifflich) beobachten lässt. Ich schlage allerdings vor, dabei nicht stehen zu bleiben, sondern die Ko-produktion biologischer, psychischer und sozialer Systeme in den Blick zu nehmen – das ist mehr als nur „Wechselwirkung“ oder „strukturelle Kopplung“. Auf irgendwie mysteriöse Weise schaffen es doch lebende Systeme (auch reflektierende lebende Systeme, also Menschen), in ihre physische ebenso wie soziale Existenz immer wieder aufs Neue so einzutreten (re-entry), dass sie zum mindesten für eine gewisse Zeitspanne ihre Autopoiesis fortsetzen können. Wenn wir Menschen der Spätmoderne lernen wollen, den gegenwärtigen globalen Problemen einigermaßen auf Augenhöhe zu begegnen, dann kommen wir meiner Ansicht nach nicht drum herum, uns über das Muster Gedanken zu machen, dem diese Ko-produktion folgt, das sie möglich macht (oder aber sie evtl. untergräbt).
Um dieses Muster in den Blick zu bekommen bzw. es im Blick zu behalten, schlage ich vor, eine dritte Beobachterebene einzuführen: eine nicht-feststellende, imaginäre, auf der es um bloße Möglichkeiten geht. Heinz von Foerster sprach gelegentlich von einer „matrix which embeds“. Ich vermute, er hatte dabei diese Ebene im Sinn. Ich hatte in dem erwähnten Text hinzugefügt, dass wir uns das Muster der Ko-Produktion (mit G. Bateson gesprochen) wie einen „Tanz“ vorstellen müssen. Hierzu gleich noch mehr.
Im Konkreten sind wir gar nicht weit auseinander, Herr Walkow. Auch für mich ist Aufmerksamkeit der geeignete Begriff für die Beschreibung der Operationsweise psychischer Systeme – und darüber hinaus ihrer Koppelung mit sozialen Systemen einerseits bzw. mit dem Organismus andererseits. Ich sehe Aufmerksamkeit als einen – im Zuge der Ko-Produktion sich spontan stabilisierenden – Eigenwert. Wie „bildet“ er sich?
Zentral ist für mich dabei das kybernetische Prinzip, das sich in allen lebenden Systemen, gleichgültig ob mit oder ohne Nervensystem, beobachten lässt: ein Sensorium (das Unterschiede registriert) und ein Effektorium (das Unterschiede bewirkt) werden rekursiv miteinander verknüpft. Ein bestimmter Zustand im Sensorium ruft dann einen bestimmten Zustand im Effektorium hervor, der wiederum einen neuen Zustand im Effektorium erzeugt usw. Auf der Ebene des psychischen Systems lässt es sich beschreiben als die Verknüpfung von Wahrnehmen / Bewegen oder auch Erleben / Handeln. Auf der Ebene sozialer Systeme wäre das aus meiner Sicht die von Moment zu Moment sich ereignende Verknüpfung von Kommunikation einerseits und deren Zurechnung als Handlung andererseits.
Das, was diese Kybernetik (auf den unterschiedlichen Systemebenen) am Laufen hält, ist aus meiner Sicht – und damit komme ich jetzt auf die dritte, nicht fest-stellende Beobachterebene – die fortlaufende, absichtslose, quasi „spielerische“ Variation innerer (ikonischer) Bilder (hier ließe dann wohl auch Czikszentmihaly anschließen). Ikonische Bilder können die Einheit der Differenz von Individuellem einerseits und allgemeinen Schemata andererseits darstellen oder „zeigen“ und so Verbindungen knüpfen, die mit begrifflichem Denken (Beobachten erster und zweiter Ordnung) nicht mehr darstellbar sind. Wichtig (um die absichtslose Präzision, aber auch die Ästhetik dieses Prozesses zu verstehen) ist es, ich kann das nur andeuten, lebende Systeme als dissipative Strukturen zu sehen; d. h. als Systeme, die ihren Eigenwert finden, indem sie spontan jene Orte ermitteln, an denen ein minimaler Aufwand an Ressourcen und eine maximale Zahl von Anschlüssen zusammenfallen.
Wie soziale Systeme es schaffen, die Aufmerksamkeit der Akteure „auf ein gemeinsames Zentrum der Aufmerksamkeit zu lenken, an dem sich die Beiträge der Beteiligten sinnhaft orientieren“, und wie die Akteure im Zuge des Inszenierens und Aufführens ihrer Dramen gleichzeitig (!) dieses Zentrum (nämlich symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie z. B. Geld, das „innere Bild“ der Moderne) wiederum selbst hervorbringen und stabilisieren – all das habe ich ja ausführlicher beschrieben (ohne allerdings den Begriff „Aufmerksamkeit“ zu verwenden, weil es mir hier eher um das soziale System ging).
Auf diesem Hintergrund ließe sich dann ein systemischer Präsenzbegriff formulieren. Hier passt für mich eine Formulierung Dirk Baeckers, die ich kürzlich in einem Blog las und die ich mit Präsenz in Verbindung bringen würde: es gehe um „die Beibehaltung / Steigerung von Resonanzfähigkeit und die illusionsfreie Reflexion auf die eigene Wirksamkeit“. Womit müsste ein Beobachter in Resonanz sein, um seine Präsenz zu steigern? Ich würde sagen: mit seinem Körper einerseits und mit anderen Beobachtern andererseits. Was es heißen könnte, in Bezug auf seine Wirksamkeit illusionsfrei zu bleiben, dazu ließe sich (auch mit Czikszentmihaly) viel sagen; ich kann mir das nur als eine Disziplin, eine permanente Übung vorstellen.
Hallo Herr Friczewski,
da sonst anscheinend niemand einsteigt, wollte ich was zu Ihren Gedanken schreiben. Ja, Sie haben Recht. Im Konkreten unterscheiden wird uns wirklich wenig. Die Unterschiede bestehen auf der beschreibenden Ebene. Auf der gibt es aber auch ein paar gravierende Unterschiede, die dann auch zu etwas anders gelagerten Beobachtungen und Beschreibungen führen. Ich versuche das an einigen Beispielen deutlich zu machen.
Was ich zunächst für eine Nichtbeachtung der Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen gehalten habe, ist wohl eher Ihr erweiterter Fokus. Sie interessieren sich für die Ko-Produktion von biologischen, psychischen und sozialen Systemen. Grundsätzlich interessiert mich genau dasselbe. Mein Ansatzpunkt ist aber etwas enger, da ich zunächst nur auf die Ko-Produktion von psychischen und sozialen Systemen achte. Bei Luhmann heißt dieser Prozess ja dann Interpenetration. Da Kommunikationsteilnahme immer mal mehr mal weniger Körperbeteiligung verlangt, kommt mittelbar auch der Körper in den Blick. Für die strukturelle Kopplung von Psyche und Körper halte ich es jedoch für zentral die Feedbackprozesse zwischen Erleben (psychisch) und Handeln (sozial) ins Zentrum zu stellen und darauf zu achten, wie realistische Wahrnehmung und sinnvolles Handeln möglich ist oder auch nicht. Der Körper ist die vermittelnde Instanz zwischen Erleben und Handeln, da nur mit Hilfe des Körpers gehandelt werden kann. Zum anderen ist er auch eine wichtige Informationsquelle um ein situationsangemessenes Erleben zu ermöglichen. Mir fällt es aber sehr schwer die sich dabei entwickelnden Prozesse als Tanz zu beschreiben. Ebenso finde ich es nicht sehr hilfreich diese Prozesse in den Begriffen von Spencer-Browns Laws Of Form zu beschreiben. Solange es nicht gelingt die angesprochenen biochemischen Prozesse im Körper und die entsprechenden psychischen Prozesse in der Spencer-Brown’schen Notation zu rekonstruieren, möchte ich lieber nicht die Laws Of Form verwenden und diese Prozesse zu beschreiben. Um alle drei Systemarten im Blick zu behalten, werden für mich Begriffe wie Teilnahme, Beteiligung oder Partizipation zentral.
Hinsichtlich der Formulierung „das Muster, das verbindet“ gebe ich zu bedenken, dass es immer noch eine andere Seite bzw. andere Möglichkeit gibt. In diesem Fall meine ich damit, dass dasselbe Muster nicht nur verbinden kann, sondern genauso trennen. Sofern es um die Beobachtung von Kommunikation geht, handelt es sich um Integrations- und Desintegrationsprozesse. Im Anschluss an Luhmann verstehe ich Integration als wechselseitige Einschränkung von Freiheitsgraden. In Spielen lassen sich solche Prozesse am Besten beschreiben. Die Nützlichkeit des Spielbegriffs für die Beschreibung sozialer Prozesse haben ja schon eine Menge anderer Autoren erkannt. Wenn man die Funktion der Kommunikation als Aufmerksamkeitsfokussierung bestimmt und Aufmerksamkeitsfokussierung wiederum nur durch Unterscheiden und Indizieren möglich ist, lässt sich wieder eine Verbindung zu Spencer-Browns Laws Of Form herstellen. Die Unterscheidung selbst erzeugt die verbindenden und trennenden Muster. Mich interessieren hier zunächst nur die durch verschiedene Sinnformen bzw. Ideen (Erleben, psychisch) ermöglichten Beteiligungsmuster (Handeln, sozial). Zumindest die Rekonstruktion der Sinnformen ließe sich möglicherweise durch den Formenkalkül durchaus leisten und darüber hinaus möglicherweise auch die Rückkopplungsschleifen von positivem und negativem Feedback, die durch die jeweiligen Sinnformen möglich sind.
Im Rahmen der Theorie autopoietischer Systeme müsste die Antwort auf die Frage „Womit müsste ein Beobachter in Resonanz sein?“ wohl lauten: mit sich selbst. Denn sowohl die Informationen des Körpers als auch die über andere Kommunikationspartner sind systeminterne Produkte, die wiederum nur in den eigenen Erwartungsstrukturen Resonanz auslösen können. Was Sie in diesem Zusammenhang mit Präsenz meinen, verstehe ich nicht. Hier würde für mich die Rede von Achtsamkeit mehr Sinn machen.
Was Sie mit der dritten, nicht-feststellenden Beobachterebene meinen, ist mir ebenfalls nicht klar – speziell, was mit „nicht-feststellend“ gemeint sein soll. Ist nicht jeder Beobachtung als vollzogene Bezeichnung eine Feststellung – aber nicht unumstößlich? Ich sehe eher die Notwendigkeit einer stärker prozessorientierten Sprache, um die Ko-Produktion genauer zu beschreiben.
Zum Stichwort „dritte Beobachterebene“: Luhmann selbst spricht ja auch von Beobachtungen dritter Ordnung. Er meinte damit die Beobachtung der Bedingungen der Möglichkeit oder auch Unmöglichkeit von Beobachtungen zweiter Ordnung. Für die Beantwortung der Frage, welche Beteiligungsformen durch bestimmte Sinnformen ermöglicht werden und im Weiteren für die Beschreibung, aber auch Anregung von Lernprozessen sind Beobachtungen dritter Ordnung notwendig. Beobachtungen zweiter Ordnung konfrontieren einen psychischen Beobachter zunächst mal nur mit Kontingenz und es werden auf diese Weise vertraute Notwendigkeiten infrage gestellt, weil man plötzlich sieht, dass es auch anders gehen kann. Das reicht jedoch nicht, weil so nur alte Präferenzen zerstört werden. Anders ausgedrückt, Beobachtungen zweiter Ordnungen verunsichern und schaffen so zunähst nur Probleme. Die verloren gegangenen Präferenzen müssen auf einer höheren Ebene wieder hergestellt werden. Neue Präferenzen lassen sich dann über die Frage einrichten, welche Beobachtungsformen Beobachtungen zweiter Ordnung zulassen. Der Unterschied zwischen Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung, so wie Luhmann in präsentiert, hat meinem Eindruck nach einige Ähnlichkeiten mit den Lernprozessen, die Bateson als Lernen II und Lernen III beschreibt.
Soweit einige Gedanken.
hallo Herr Walkow,
danke fuer Ihre anregenden Kommentare. ich glaube, es lohnt sich, die Debatte fortzusetzen. moeglicherweise lesen ja auch noch andere Interessierte mit.
ich bin allerdings gerade auf „Weltreise“ in Asien mit sehr beschraenkten kommunikationsmoeglichkeiten. daher nur eine kleine Anmerkung.
Was halten Sie davon, Aufmerksamkeit als den Eigenwert der rekursiven Verknuepfung von Erleben und Handeln zu sehen? Und als Medium dafuer den Organismus einerseits und andere Beobachter (Dyade) andererseits? dann bekommt man die erweiterte Ko-Produktion in den Blick. Die Muster, die sich dabei ergeben, koennen in der Tat verbinden ebenso wie trennen, da stimme ich Ihnen zu. Aber genau hier kaeme dann die dritte oder Moeglichkeitsebene in den Blick (HvFoersters „matrix, which embeds“) in den Blick. Fuer den, der mit Kant vertraut ist: Kant nennt das „das uebersinnliche Substrat der Menschheit“. Wobei der Begriff „uebersinnlich“ hier eine andere Konnotation hat als bei uns heute. Bei Kant ist dies der Schluss-Stein seines Gedankengebaeudes.
Wenn man dann noch lebende Systeme als dissipative Strukturen sieht (man denke dabei z.B. an so etwas wie Sandduenen oder Wirbelstuerme), dann kann man den „Tanz“ sehen.
Dazu braucht es aber „Sinn fuer Aesthetik“ (G. Bateson) – Aesthetik als notwendiges Moment von Erkenntnis ueberhaupt. Ein Sinn fuer das, was „stimmt“.
Ich lese gerade im Internet von neuen blutigen Unruhen, von Hass, der Moscheebesucher mordend und brennend auf die Strasse treibt. Das ist nicht-stimmig – „haesslich“ im wahrsten Sinn des Wortes.
soweit erst mal fuer heute. Ich weiss nicht, wann ich wieder ins Internet komme.
Hallo Herr Friczewski,
ich bin mir unsicher, ob man für das von Ihnen beschriebene Defizit der Theorie selbstreferentieller Systeme den Präsenzbegriff benötigt. Darüber hinaus stellt sich aus meiner Sicht die viel grundlegender Frage, ob es überhaupt zu leisten ist „den Beobachter“ aus zwei entgegengesetzten Perspektiven zu beobachten. Ich habe meine Zweifel, ob das überhaupt irgendein Begriff leisten kann. Das Problem scheint mir in der undifferenzierten Verwendung des Begriffs „der Beobachter“ zu liegen. Wer oder was soll dieser Beobachter sein? Ich bezeichne Ihre Verwendungsweise deswegen als „undifferenziert“, weil sie damit aus meiner Sicht einen wichtigen Unterschied unterschlagen, nämlich den von sozialen und psychischen Systemen. Wenn Sie den Unterschied zwischen den Perspektiven Maturanas und Luhmanns betonen, dann stellen Sie eigentlich auf die Differenz zwischen psychischen und sozialen Systemen ab. Es handelt sich aber nicht um einen Unterschied in den Theorien, sondern um einen Unterschied der Beobachtungsgegenstände, auf den diese beiden Theorien abzielen. Und deswegen stehen sich die beiden Theorien als Gegensätze unvereinbar gegenüber. Das von Ihnen beobachtete Defizit ist also gar kein Defizit, sondern der Unterschied zwischen zwei verschiedenen Systemtypen, der unbedingt beachtet werden sollte.
Zum Präsenzbegriff selber, möchte ich darauf hinweisen, dass die Momenthaftigkeit eines Ereignisses in dem Luhmannschen Sinnbegriff bereits berücksichtigt wird, wenn man ihn als Differenz von Aktualität und Potentialität begreift. Aktualität stellt auf den Moment ab, dem nur im Kontext anderer Möglichkeiten bzw. Potentialitäten ein Sinn zugeschrieben werden kann. Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass der Präsenzbegriff auf mehr abstellt als nur die schlichte Momenthaftigkeit des Augenblicks. Ich habe Gumbrechts Buch vor einigen Jahren gelesen. Wenn ich mich recht erinnere ging es darin um die Frage, wie man eine bestimmte Situation erlebt, die dann im Nachhinein als Präsenz beschrieben wird. Es geht also mit anderen Worten darum psychisches Erleben zu beschreiben bzw. wie der Eindruck der Präsenz bei einem psychischen Beobachter erzeugt wird. Soweit ich mich erinnern kann, erging sich Gumbrecht in ermüdenden Meditationen über Zeit und Gegenwart, die ihn jedoch der Antwort auf die Frage kein Stück näher brachten. Das lag daran, dass er die Frage im Rahmen subjektphilosophischer Annahmen behandelte und damit psychische Systeme isoliert betrachtete. Systemtheoretisch erscheint diese Herangehensweise sehr unbefriedigend, weil der Unterschied zwischen psychischen und sozialen Systemen, die wechselseitig für sich eine Umwelt darstellen, nicht beachtet wird.
Wenn man die Frage beantworten möchte, wie der Eindruck von Präsenz bei einem psychischen Beobachter entstehen kann, müsste man auf die Wechselwirkungen zwischen Erleben (psychisch) und Handeln (sozial) einer Person achten. Dabei wäre von besonderem Interesse, wie durch die Ausgestaltung einer Situation und den Beteiligungsmöglichkeiten für die betreffende Person ihre Aufmerksamkeit so fokussiert und gelenkt wird, dass der Eindruck von Präsenzerleben evoziert wird. Ein Ansatz mit dem diese Frage beantwortet werden kann, ist aus meiner Sicht die Flow-Theorie von Mihaly Czikszentmihaly. Mir scheint, dass das, was Gumbrecht als Präsenz beschreibt, dasselbe ist, was Czikszentmihaly als Flow beschreibt. Flow-Erlebnisse werden nach Czikszentmihaly durch die Wechselwirkungen von Erleben und Handeln erzeugt. Über die Unterscheidung von Erleben und Handeln ließen sich die Ergebnisse von Czikszentmihaly auch systemtheoretisch fruchtbar machen.
Ein weiterer Begriff, der bei ihm im Zentrum steht, ist der der Aufmerksamkeit. Sowohl unter dem Eindruck von Czikszentmihaly als auch von Randall Collins‘ Interaktionsritualketten-Theorie, in der der Begriff der Aufmerksamkeit eine ähnlich zentrale Rolle spielt, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die psychische Selbstreferenz mit Gedanken nur unzureichend beschrieben ist. Vielmehr muss die psychische Selbstreferenz als Aufmerksamkeit konzeptualisiert werden. Psychisches Unterscheiden und Bezeichnen (bzw. Indizieren, Hinweisen) lässt sich dann als Aufmerksamkeitsfokussierung beschreiben. Den Ereignissen sozialer Systeme kommt dann die Funktion zu, die Aufmerksamkeit der beteiligten Personen auf ein gemeinsames Zentrum der Aufmerksamkeit zu lenken, an dem sich die Beiträge der Beteiligten sinnhaft orientieren. Die entscheidende empirische Frage wäre dann, wie geschieht das? Wie wird die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf das gemeinsame Zentrum fokussiert und gelenkt und kann dadurch Flow entstehen oder nicht?
Es bringt nichts sich nur auf das Erleben der Beteiligten zu konzentrieren. Das bleibt intransparent und kann nur nachträglich mitgeteilt werden. Relevant ist vielmehr, wie die Beteiligten durch ihr Handeln eine Situation ausgestalten und welche Rückwirkungen das auf ihr Erleben hat. Letzteres zeigt sich wiederum in ihrem Handeln. Darüber hinaus gelingt es auf diese Weise beide Systemreferenzen zu berücksichtigen und sie doch getrennt zu halten.
Herzliche Grüße
Roland Walkow
Mit großem Interesse las ich die Besprechung des Artikels „Jenseits von Sinn und Struktur“ von Christoph Schneider: deutet sich hier doch die Möglichkeit an, den Begriff der Präsenz im systemischen Diskurs zu verorten, genauer: in einer Theorie des Beobachters. Ich habe mir den Artikel daraufhin gleich besorgt und ihn gelesen. Ich fand ihn sehr anregend, meine Erwartung allerdings sah ich enttäuscht.
Den Begriff der Präsenz präzise zu fassen, scheint mir gerade heute eminent wichtig zu sein. Meiner Ansicht nach ist die Theorie selbstreferenzieller Systeme aber gegenwärtig dazu gar nicht in der Lage; denn dazu bräuchte es einen Denkansatz, der es erlaubt, den Beobachter aus zwei scheinbar entgegengesetzten Perspektiven gleichzeitig zu beobachten: aus der Maturanas (der Beobachter als Individuum, als lebendes System) und aus der Luhmanns („Es gibt Systeme“ und Individuen gehören in ihre Umwelt).
Macht das überhaupt Sinn? Oder gehört das vielleicht eher in den Bereich jener Fragen, von denen man so schön sagt, dass „die Welt sie nicht braucht“?
In zwei Beiträgen hier im systemagazin habe ich versucht, dazu eine Debatte anzustoßen – bisher allerdings noch ohne Echo. Sollte die – eher vordergründig bleibende – Klage über die angebliche Unterkühlung der Systemtheorie attraktiver sein? Ich bin gespannt…
http://systemagazin.com/systemisch-fehlt-die-muskeln-des-beobachters/
http://systemagazin.com/mit-achtsamkeit-fuehrung/comment-page-1/#comment-1748