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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Familiendynamik 1977

Heft 1

Boszormenyi-Nagy, Ivan (1977): Mann und Frau. Verdienstkonten in den Geschlechtsrollen. In: Familiendynamik, 2 (1), S. 1–10. 

Abstract: Die Beziehungen zwischen Mann und Frau werden nicht nur durch Geschlechtsrollen, psychologische und interaktionelle Aspekte be­stimmt. Vielmehr sind existential-ethische Aspekte zentral. Hier spielt der Ausgleich der Verdienstkonten zwischen den Geschlechtern eine besondere Rolle. Die Frau ist gegenüber dem Mann durch ihre umfassende Verpflichtung in bezug auf die Fortpflanzung im Vorteil, denn aus ihrer Schwäche erwächst ihr hier Stärke und sie wird gegen Schuld relativ immun. Ein Bezugsrahmen, bei dem in undialektischer Weise der wirtschaftliche und berufliche Konkurrenzkampf der Eltern im Blick­ feld steht, erscheint ungenügend. Vielmehr müssen wir nach Möglich­keiten von Beziehungen fragen, welche es der Frau erleichtern würden, auf ihre übermäßigen existential-ethischen Vorteile, welche sie gleich­zeitig zum Opfer machen und zur Verfeindung der Geschlechter führen, zu verzichten. Indem den Männern eine größere Verantwortung bei der Elternrolle übertragen würde, könnte in der Kleinfamilie ein besseres Gleichgewicht der Lasten und Rechte entstehen und der der männlichen Rolle innewohnenden wachsenden Selbstentfremdung und Selbstzerstörung entgegengewirkt werden.

Peal, Ethel (1977): «Normale« Geschlechtsrollen: Eine historische Analyse. In: Familiendynamik, 2 (1), S. 11–34. 

Abstract: Die Ausübung elterlicher Geschlechtsrollen wurde als Kriterium benutzt, um normale von pathogenen Familien zu unterscheiden. Soge­nannte normative Geschlechtsrollen sind nur für eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit normativ. Geschlechtsrollen, die in der modernen, städtischen Mittelschichtfamilie als normativ gelten, wurden vom wirtschaftlichen und sozialen Wandel im frühen 19. Jahrhundert bestimmt. Diese Veränderungen hatten eine neue Aufgabenverteilung unter den Geschlechtern zur Folge, die schwerwiegende psychische Auswirkungen hatten. Als soziale Reaktion auf das Bedürfnis, Anpassung zu erleichtern, wurde ein Verhaltenskodex formuliert. Das in diesem Kodex beschriebene Verhalten wird heutzutage von den Soziologen als normativ bezeichnet. Die Probleme, die der Kodex zu verringern suchte, sind nicht weniger geworden, und es besteht Grund zu der Annahme, daß das vorgeschriebene Verhalten selbst ein psychologischer Streßfaktor war. Die Ausübung sozialer Rollen ist deshalb ein unzu­längliches Kriterium zur Identifizierung pathogener Familien.

Beckmann, Dieter (1977): Selbst- und Fremdbild der Frau. In: Familiendynamik, 2 (1), S. 35–49. 

Abstract: Bei einer repräsentativen Stichprobe von 197 Ehepaaren wurden über Varianzanalysen systematische Tendenzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Frau im Giessen-Test (GT) untersucht. Zur informellen Rolle der Frau gehören Ängstlichkeit, Depression und Schwäche, attraktive Jugendlichkeit, Unterwerfung und Mütterlichkeit (6 Items). Das Selbstbild (Autostereotyp) der Frau zeigt lediglich Selbstvorwürfe und Meiden von Konkurrenz (2 Items). Dagegen ist das Fremdbild (Heterostereotyp) erheblich prägnanter: Frauen werden von (ihren) Männern als unkonzentriert, launisch, verschlossen, nicht durch­setzungsfähig und zwanghaft erlebt (7 Items). Diese Daten werden in Zusammenhang mit früheren Erhebungen über Rollenteilung zwischen Mann und Frau gebracht. Auch werden sie auf das Entstehen typischer Vorurteile hin untersucht.

Karpel, Mark (1977): Individuation: Von der Verschmelzung zum Dialog in der Partnerbeziehung. In: Familiendynamik, 2 (1), S. 50–69. 

Abstract: Das wachsende Interesse, das Fusions- und Individuationskonzepte im Rahmen verschiedener psychotherapeutischer Theoriesy­steme finden, läßt auf eine Verlagerung der Perspektive innerhalb der Begriffsbildung von Psychopathologie und Psychotherapie schließen. Diese Verlagerung könnte einen ersten Schritt in Richtung auf die Integration individual- und beziehungsdynamischer Theorien darstellen. Im folgenden wird ein theoretischer Bezugsrahmen für die Erforschung der Individuations- und Fusionsprozesse erstellt, der auch Vorschläge für praktische Anwendungsmöglichkeiten bei Untersuchungen von Problemen erwachsener Paare enthält. Der Individuationsprozeß, der von der Verschmelzung (Fusion) zum Dialog führt, wird anhand von vier Beziehungsarten beschrieben. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, wie eine Vielzahl von problematischen Beziehungsmustern als Ausdruck der Versuche beider Partner interpretiert werden kann, von der Fusion zum Dialog zu gelangen.

Hassan, Susana Alicia (1977): Familie und Störungen Jugendlicher. Eine Literaturübersicht. Teil I: Schizophrenien und Syndrome des Ausagierens. In: Familiendynamik, 2 (1), S. 69–100. 

Abstract: Als entscheidende Drehscheibe zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt die Kleinfamilie dem Jugendlichen eine Experimentierstätte zu einer Zeit, da sein sich veränderndes Selbst um deutliche, umfassende und dauerhafte Repräsentanzen ringt. Diese Anstrengung führt normalerweise zur Fähigkeit, sich selbst leiten und in reifer Interdependenz mit anderen stehen zu können. Durch immer neue Konflikte und Versöhnungen mit seinen Eltern hindurch kann der Jugendliche ein bereicherndes Gleichgewicht zwischen seiner Aufnahmefähig­ keit für die allgemeine Kultur und seiner Aneignung bestimmter elterlicher Züge erreichen. Spiralenförmig immer weiter ausgreifend vollziehen sich die Differenzierungen gleichzeitig auf der gefühlshaften, verstandesmäßigen und moralischen Ebene. Stierlins „dialektisches Beziehungsmodell“ (1959, 1969, 1974 b) von Ablösung und Individuation während der Jugendzeit hat die hier gewählte Blickrichtung auf Schizophrenie und Störungen des Ausagierens angeregt. Dazu wurden die Begriffe der „zentripetalen“, bzw. der „zentrifugalen“ Familien­ transaktionen bedeutsam (Stierlin u. a. 1971, 1973). Die genannten Störungen stellen zwei extreme Formen mißglückter Lösungen für die Probleme dar, die den Übergang eines Jugendlichen zur Reife begleiten können.

Die familienorientierten Ansätze zum Verständnis jugendlicher Störungen fußen auf einer einfachen Beobachtung: Familien sind sich selbstregulierende Systeme, deren einzelne Mitglieder gemeinsame Beziehungsformen entwickeln. Freud etwa hob gegenüber seiner Patientin Dora hervor (1963), daß ihre Konflikte mit einer Familiensituation zusammenhingen, untersuchte das Fami­lienmilieu jedoch nicht genauer. Erst in den fünfziger Jahren begannen klinische Therapeuten mit der Beschreibung homöostatischer Familienprozesse, die die Symptome eines Individuums perpetuierten (Jackson, 1957; Spiegel und Bell, 1959; Sanua, 1961). Diese Beobachtungen verdichteten sich zur Theorie durch die Beiträge dreier amerikanischer Gruppen (jeweils begleitet von Bateson, Lidz und Wynne) und der Laing-Gruppe in England. Diese vier Gruppen teilen die Ansicht, daß viele Individuen ungeachtet sich häufender Fehlent­ wicklungen in verschiedenen Bereichen innerhalb ihren Familien bis zur Adoleszenz adäquat funktionieren können, wenngleich sie außerhalb der Familie oft Anpassungsschwierigkeiten aufweisen. In der Adoleszenz erfordern dann die psycho-biologische Reifung des Individuums sowie gesellschaftliche Er­wartungen die Ausbildung einer verhältnismäßig selbständigen Ich-Identität. Daher löst der Übertritt in die Gesellschaft aus einer Familie mit starren oder fragmentierten Rollenbeziehungen bei jemandem, der für ein Leben außerhalb der Familie schlecht vorbereitet ist, eine Krise aus, die zu einem schizophrenen Zusammenbruch führen kann. Obschon ursprünglich auf Schizophrenien beschränkt, lieferten diese Theorien doch auch ein neues Modell für das Ver­ ständnis der „Syndrome des Ausagierens“ sowie leichterer Störungen.

Wirsching, Michael (1977): Rezension – June Mainprice (1974): Marital Interaction and some Illnesses in Children. London (Institute of Marital Studies, The Tavistock Institute of Human Relations). In: Familiendynamik, 2 (1), S. 100-101. 


Heft 2

Hassenstein, Bernhard (1977): Faktische Elternschaft: Ein neuer Begriff der Familiendynamik und seine Bedeutung. In: Familiendynamik, 2 (2), S. 104–125. 

Abstract: „Faktische Elternschaft“ ist ein erst jüngst fachlich eingeführter Begriff (Goldstein, J., A. Freud und A. Solnit, 1974). Er bezeich­net die psychische Eltern-Kind-Bindung, unabhängig davon, ob die Eltern leibliche, Adoptiv- oder Pflegeeltern seien. Die faktische Eltern­schaft besteht aus zwei Elementen: der Bindung des Kindes an seine erwachsenen Betreuer und deren Zuneigung zum Kind, das für sie er­wünscht und geschätzt ist. Das erste Element, die Bindung, ist Ergebnis eines längeren Lernprozesses, der eine Kontinuität der Betreuungssitua­tion verlangt. Kriterium für das zweite Element ist die Frage, ob die elterliche Beziehung zum Kind ganz dem Kindeswohl unterstellt wird. Ausführlich wird diskutiert, was das für Folgen hat für den Fall, daß ein Kind nicht von seinen leiblichen Eltern betreut oder für sie ein unerwünschtes und nicht geschätztes Kind ist. Diese Folgen müssen einen gesetzlichen Niederschlag und Berücksichtigung in der ge­richtlichen Praxis finden. Auch dazu werden konkrete Vorschläge ge­ macht.

Wynne, Lyman C., Margaret Thaler Singer & M.L. Toohey (1977): Kommunikation von Adoptiveltern Schizophrener. In: Familiendynamik, 2 (2), S. 125–158. 

Abstract: Dieser Bericht verbindet zum ersten Mal zwei Ansätze, die zuvor in der Schizophrenieforschung immer nur unabhängig voneinan­der Anwendung fanden: 1. die Untersuchung der Adoptiveltern Schizophrener und 2. die Untersuchung abweichender elterlicher Kommuni­kation. Die Adoptiveltern jungerwachsener Schizophrener wurden mit Eltern verglichen, die ihre biologische schizophrene Nachkommenschaft auf­zogen, sowie mit Eltern, die adoptierte nichtschizophrene Kinder hatten. Diese Gruppen wurden anhand von Blindbeurteilungen untersucht. Als Maß dafür galten abweichende psychologische Einwirkungen, wie man sie aus elterlichen Kommunikationsmustern in wortgetreuen Rorschachprotokollen erschließen kann. Die Befunde stützen sowohl eine genetische, wie eine psychosoziale Hypothese. Sie lassen stark vermu­ten, daß Merkmale Schizophrener zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter durch nichtgenetische Prozesse mit den Kommunikationsmustern der Eltern verbunden sind.

Paul, Norman L. (1977): Das Bedürfnis des Kindes, seine eigenen Wurzeln zu kennen. In: Familiendynamik, 2 (2), S. 159–165. 

Abstract: Im Falle einer Scheidung drängt sich die Notwendigkeit auf, die rechtliche Regelung über die Aufsichtspflicht der Eltern neu zu de­finieren. Dabei sollten vor allem das Bedürfnis und das Recht des Kindes berücksichtigt werden, einerseits zu wissen, woher es stammt und andererseits den Kontakt zu beiden Eltern aufrechtzuerhalten. Geschie­dene Eltern sollten weiterhin ihre gemeinsame Erziehungsaufgabe wahr­nehmen und darüber im Gespräch bleiben. Anhand von Beispielen aus der Literatur und eines eigenen klinischen Falles soll folgende These untermauert werden: Fällt bei einem Kind während seiner Kindheit und Jugend der Kontakt zu den leiblichen Eltern völlig aus, so wird es später die Elternrolle nicht störungsfrei erfüllen können.

Hegnauer, Cyril (1977): Entwicklungstendenzen im Adoptionsrecht. In: Familiendynamik, 2 (2), S. 166–177. 

Abstract: Seit dem 2.Weltkrieg sind in fast allen Staaten Europas neue Adoptionsgesetze geschaffen worden. Ihr Leitbild ist das Wohl des Kindes, und nicht die Behebung der Kinderlosigkeit eines Paares. Das Kind soll ein beständiges und ausgeglichenes Zuhause erhalten, seine recht­liche Stellung wird immer mehr jener der leiblichen Nachkommen angeglichen. Diese Entwicklung bedingt die Schaffung von Adoptionsver­fahren, welche alle wesentlichen Punkte im Interesse des Kindes abklärt, bevor eine Adoption bewilligt wird. In dieser Hinsicht muß das Recht allerdings noch verbessert werden.


Heft 3

Stierlin, Helm (1977): Familientherapeutische Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung. In: Familiendynamik, 2 (3), S. 182–197. 

Abstract: In der psychoanalytischen Theorie blieb der Übertragungsbegriff bis heute zentral. Ist er es auch in der Familientherapie? Für viele, möglicherweise die meisten Familientherapeuten, ist die Antwort negativ. Denn ihrer Meinung nach arbeitet ein Familientherapeut wesentlich mit den in der Familie wirksamen Beziehungskräften. Übertragungen auf den Therapeuten treten demgegenüber an Bedeutung zurück. Diese Antwort scheint der familientherapeutischen Erfahrung zu entsprechen. Sie hält sich jedoch an eine enge Definition des Begriffs Übertragung. Gehen wir davon ab, lassen sich auch in Familienbeziehungen komplexe Übertragungsphänomene erkennen, die therapeutisch rele­vant sind. Mit der Blickrichtung auf diese Phänomene findet das psychoanalytische Übertragungskonzept seinen Platz in einer übergreifenden Familien- und Beziehungstheorie. Zugleich erschließen sich neue therapeutische Perspektiven. Dabei gewinnt auch der Begriff Gegenübertra­gung eine neue Bedeutung.

Selvini Palazzoli, Mara, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin & Giuliana Prata (1977): Die erste Sitzung einer systemischen Familientherapie. In: Familiendynamik, 2 (3), S. 197–207. 

Abstract: Diese Arbeit soll Einblick gewähren in die erste Therapiesitzung mit der Familie einer Patientin, die an einer schweren Anorexie leidet. Unser Ziel ist dabei, den Weg zu beschreiben, der das Therapeutenteam zu den getroffenen Interventionen führte. Wir werden dabei folgendermaßen vorgehen: — Zuerst stellen wir die Familie kurz vor. — Dann soll die in einer Vorbesprechung des Teams erarbeitete Strategie des Vorgehens erörtert werden. — Anschließend wird die erste Therapiesitzung mit der Familie darge­stellt. — Weiter folgt die Nachbesprechung des Teams, die zum Ziel hatte, die in der Therapiesitzung erhaltenen Daten über das Interaktionsnetz zu sammeln, zu einer Hypothese über das Kommunikationsmuster der Familie zu verdichten und daraus eine therapeutisch wirksame Inter­vention abzuleiten. — Schließlich werden wir die Rückwirkungen bei den einzelnen Familienmitgliedern auf unsere abschließende Intervention schildern. Im Laufe unserer Ausführungen wird auch das Konzept zur Sprache kommen, auf das sich unser therapeutisches Vorgehen stützt. Die Inter­ventionen in der besprochenen Therapiesitzung sollten sich so als einem Kontinuum zugehörig erweisen, wo einerseits die Beobachtung und Pro­vokation entscheidender Phänomene aus systemischer Sicht geschieht und diesen Phänomenen wiederum mit Überlegungen der Systemtheorie begegnet wird.

Stierlin, Helm, Michael Wirsching, Ingeborg Rücker-Embden & Norbert Wetzel (1977): «Problemfamilien« im Erstinterview. In: Familiendynamik, 2 (3), S. 208–229. 

Abstract: Erstgespräche stellen häufig bereits die Weichen für das Gelingen einer Familientherapie. Meist entscheidet dabei die Fähigkeit des Therapeuten, sich empathisch auf die jeweilige Familie einzustellen. Dieser Prozeß der Einfühlung folgt allgemeinen Grundprinzipien, die für jede Familientherapie gelten. Darüber hinaus gibt es jedoch einige typische und häufige Familienkonstellationen, deren besondere Problematik der Interviewer erkennen und beachten muß, will er nicht bereits im Ansatz scheitern. Zu diesen „Problemfamilien“ zählen wir: Familien in Auflösung, über Jahre oder Jahrzehnte bestehende, chronisch festgefahrene Familienprobleme, Familien mit psychotischen, delinquenten, drogen­ abhängigen, suicidgefährdeten oder psychosomatisch kranken Mitgliedern sowie Familien, die ihre Kinder mißhandeln und Familien mit behinder­ten Kindern. In dieser Arbeit werden die Grundzüge dieser Familienkonstellationen und ihre spezifischen Implikationen für das Erstgespräch beschrieben.

Krüll, Marianne (1977): Adolf Hitler – Daniel Paul Schreber. Zwei familiendynamische Studien im Vergleich. In: Familiendynamik, 2 (3), S. 229–242. 

Abstract: Aufgrund ihres familiendynamischen oder „soziogenetischen“ Ansatzes kommen Stierlin und Schatzman in ihren Studien zu über­raschend neuen Einsichten, die in einzelnen Punkten jedoch ergänzt werden können. Hitler ist nicht nur Delegierter seiner Mutter, wie Stierlin eindrucksvoll darlegt, sondern auch seines Vaters, woraus sich möglicherweise sein Judenhaß besser erklären läßt. Im Fall Schreber ist zu er­gänzen, daß Freud bei seiner Analyse die Sozialisationspraktiken des Schreber-Vaters deshalb nicht beachten konnte, weil er seine zwischen 1893 und 1897 vertretene Theorie der Verführung wegen eigener, vom Vater Jakob empfangener Aufträge aufgegeben hatte. Die „Verführungstheorie“ Freuds ist der „soziogenetischen“ sehr viel ähnlicher als die danach entstandene Ödipus-Theorie. Das soziogenetische Menschen­bild erfordert enge Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Psychologie.

Hassan, Susana Alicia (1977): Familie und Störungen Jugendlicher. Teil II: Eine Übersicht über Vergleichsuntersuchungen zur Psychopathologie von Jugendlichen und ihren Familien. In: Familiendynamik, 2 (3), S. 242–278. 

Abstract: Der theoretisch ausgerichtete erste Teil der Übersicht (Hassan, 1977) ging der Entwicklung familienorientierter Darstellungen von schweren Störungen bei Jugendlichen nach und umriß einige Konsequenzen dieses neuen Modells für Forschung und Therapie. Man erkannte, daß die psychoanalytischen Familienkonzepte, zwischen psychischen und Beziehungs-Konstrukten angesiedelt, wertvolle Hinweise auf motivationale Konflikte bei Mitgliedern von Familien mit einer schizophrenen oder ausagierenden Nachkommenschaft enthielten. Es wurde ferner festgestellt, daß sich Objektbeziehungen systemtheoretisch mit Kategorien eines interpersonellen Kontextes neu definieren lassen und neue Bedeutung bekommen. So wird das „Deuterolernen“ (Bateson, 1942) in der Familie zum Schlüssel, den Stil eines Individuums und seine psychopathologische Anfälligkeit begrifflich zu erfassen.

Im zweiten Teil dieser Übersicht wird primär nach dem Zusammenhang zwischen spezifischen Familienstilen oder -konstellationen und unterschiedlichen individuellen Störungen gefragt. Wie sich zeigen wird, ist eine derartige empirische Untersuchung nur über die direkte Erfassung signifikanten interpersonellen Verhaltens möglich. Dazu gehört, daß Elternpaare, Vater—Mutter—Patient-Triaden oder ganze Familien, einer Vielfalt von Beurteilungstechniken unterzogen werden (strukturierte Interviews, projektive Tests, Pat­tern Recognition-Aufgaben). Diese Methoden entsprechen dem Bild von Ehe­paar und Familie als zwei interagierenden Einheiten oder Gestalten — bzw. einem Subsystem innerhalb eines größeren Systems.

Sperling, Eckard (1977): Rezension – Peter-Michael Pflüger (Hrsg.) (1975): Konflikt Familie. Zwischen Anpassung und Illusion. Reihe „Psychologisch gesehen“, Bd. 24. Fellbach-Öffingen (Adolf Bonz). In: Familiendynamik, 2 (3), S. 278-279. 


Heft 4

Ornstein, Anna (1977): Die Herstellung des Kontaktes mit der inneren Welt des Kindes. In: Familiendynamik, 2 (4), S. 282–315. 

Abstract: Hier wird ein Modell dafür entwickelt, wie die Einzeltherapie des Kindes mit einer ebenfalls kindzentrierten Familienberatung kombiniert werden kann. Der emotionalen Umwelt des Kindes soll sich dabei Zugang zur inneren Welt des Kindes eröffnen und zwar so, dass dieser Umwelt die Symptome und Verhaltensweisen des Kindes als Ausdruck seiner Innenwelt gedeutet werden. Das ermöglicht den Eltern und anderen Bezugspersonen die Entwicklung von mehr Empathie für das Kind, was wiederum zur Schaffung eines therapeutischen Milieus in der Familie führt. Denn nur das Gefühl gesicherter Verbundenheit mit seinem Milieu gestattet dem Kind die Konfliktlösung und lässt es in seiner Entwicklung fortschreiten.

Neraal, Terje (1977): A. Ornstein und die Empathiegefühle. Diskussionsbeitrag zu A. Ornstein: Die Herstellung des Kontaktes mit der inneren Welt des Kindes. In: Familiendynamik, 2 (4), S. 316-319. 

Abstract: Das Konzept von A. Ornstein stellt eine Methode dar, mit deren Hilfe der Kinderpsychotherapeut, parallel zur Einzeltherapie des Kindes, eine kindzentrierte Familienberatung durchführen kann. Dabei werden die Beziehungsstörungen innerhalb der Familie bearbeitet, die zu der Dekompensation des Kindes geführt haben oder diese Störung aufrechter­halten. Der Therapeut versteht sich dabei als „Anwalt des Kindes“ und übersetzt die Symptomsprache in eine für die Eltern verständliche Motivsprache. Er erhofft sich dabei, daß das gestörte Empathiegefühl der Eltern für das Kind wieder in Ordnung kommt; das Ziel der Beratung ist die Herstellung eines therapeutischen Milieus für das Kind auch innerhalb der Familie. Ich möchte einige wenige Aspekte dieses Konzeptes herausgreifen und kritisch diskutieren. Dabei werde ich mich auf die Punkte beschränken, die mir als Familientherapeut fragwürdig erscheinen.

Stierlin, Helm (1977): Diskussionsbeitrag zu A. Ornstein: Die Herstellung des Kontaktes mit der inneren Welt des Kindes. In: Familiendynamik, 2 (4), S. 319-322. 

Abstract: Unsere Theorie bestimmt Einstein zufolge unsere Beobachtung. Sie bestimmt auch — dies geht aus Frau Ornsteins Aufsatz hervor — unser therapeutisches Handeln. Das zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie, die heute wie ein Versuchsfeld für die Realisierung und Erprobung verschiedener therapeutischer Konzepte anmutet. Dabei treten zwei Konzepte bzw. Modelle mehr und mehr in den Vordergrund: ein Modell einer psychoanalytisch fundierten individuumzentrierten Kinderpsychotherapie und ein Familienmodell (so wie Frau Ornstein es versteht). Frau Ornstein stellt diese Modelle einander gegenüber und versucht, obschon sie sich selbst zu einem individuumzentrierten Ansatz bekennt, beiden gerecht zu werden und sie — in Grenzen — miteinander zu versöhnen. Bei diesem Versuch leitet sie die Erkenntnis, daß sich die meisten psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen nicht losgelöst von denen ihrer Eltern und Familie sehen und behandeln lassen. Diese Erkenntnis stützt sich vor allem auf die Arbeiten Winnicotts, der wie kaum ein anderer Autor der heutigen Psychoanalytiker-Generation zum Bewußtsein brachte, wie sehr das abhängige, formbare und identifikationsbereite menschliche Kind auf eine adäquate (good enough) Mutter und überhaupt eine menschliche Umgebung (facilitating human environment) angewiesen ist, um sich wohl und sicher fühlen, gesund entwickeln und altersangemessen von seiner Familie trennen zu können.

Montalvo, Braulio & Jay Haley (1977): Zur Verteidigung der Kindertherapie. In: Familiendynamik, 2 (4), S. 322–340. 

Abstract: Vom Gesichtspunkt des Familiensystems aus betrachtet, erweist sich die Kinderanalyse als Trägerin starker Auswirkungen auf das Familiensystem. Diese werden oft therapeutisch wirksam, obwohl sie eigentlich unbeabsichtigt sind. Die bewußte Identifizierung des Kindes als »krank«, und die Wahl eines Interventionsmodells, bei dem direkter Kontakt mit der übrigen Familie vermieden wird, kann dort zu wünschenswerten Veränderungen führen, wo sich diese unter anderen Umständen nicht eingestellt hätten. Die Kinderanalyse hat mit erst in jüngster Zeit entwickelten, symptomorientierten Behandlungsmethoden viel Gemeinsames.

Overbeck, Annegret (1977): Analytische Familientherapie und Gesellschaft. Tagungsbericht über den Kongreß vom 16. bis 19. Juni 1977 in Lahn-Gießen, Bundesrepublik Deutschland. In: Familiendynamik, 2 (4), S. 340-343. 

Abstract: Die internationale Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie (AGF) — getragen vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft — veranstaltete in Gießen die erste Tagung dieser Art in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ankündigung traf daher auf reges Interesse: von 900 Anmeldungen konnten 700 berücksichtigt werden. Die Teilnehmer gehörten allen in der ambulanten und stationären klinischen Versorgung sowie in der Vor- und Nachsorge tätigen Berufsgruppen an.

Neben zwei öffentlichen Vorträgen von H. Friedrich, Göttingen, und H.-E. Richter, Gießen, die den theoretischen Rahmen der Tagung absteckten, fand die Tagung in Form von Arbeitsgruppen statt, die an den 3 Tagen unter 3 verschiedenen Rahmenthemen standen: „Familie und Gesellschaft“ — „Praxis der Familientherapie“ — „Probleme der Institutionalisierung von analytischer Familientherapie“. Familientherapie selbst ist im wesentlichen Gruppenarbeit und enthält darüber hinaus, wegen der vielfältigen Determinierung familiärer Phänomene, eine Tendenz in Richtung Kooperation mit angrenzenden Berufsgruppen. Der Tagungsstil reflektierte diese Wesensmerkmale und motivierte die Teilnehmer, die Vielfalt ihrer Kompetenzen aktiv einzubringen.

Die Tagung diente der öffentlichen Diskussion und Verbreitung eines kritischen, psychosozialen Krankheitsbegriffs; der Argumentation für die Notwendigkeit, aber auch Konflikthaftigkeit kooperativer Strategien an der Basis; der Begründung wissenschaftlicher Kooperation zwischen Psychotherapie und Soziologie. Richter und Friedrich vertraten und begründeten diese Thesen in ihren Vorträgen. Richter konstatierte den historischen Wandel von Gesundheits- und Krankheitskonzepten in Psychiatrie und Psychoanalyse. Er verwies auf Arbeiten der transkulturellen Psychiatrie und Ethnopsychoanalyse und auf neuere Erkenntnisse des Zusammenhangs von sozialer Schicht oder Ge­schlechterrollensozialisation zum Beschwerdebild, zum Gesundheits- und Krankheitsverhalten. Die Erkenntnisse stellen das traditionelle Verständnis der unbegrenzten psycho-somatischen Anpassungsfähigkeiten des Menschen an seine sozialen Bedingungen in Frage, die oftmals als Konstanten im Sinne einer „duchschnittlich zu erwartenden Umwelt“ verstanden wurden. Sie legen einen Krankheitsbegriff nahe, der den Patienten, seine Therapie und seinen Therapeuten in konkreten, sozialen Bedingungen, institutioneilen und ökonomischen Abhängigkeiten sieht und dabei die Rahmenbedingungen und Entwicklungs­tendenzen der Gesamtgesellschaft reflektiert. Richter definierte es als wesent­liche Aufgabe einer im obigen Sinne verstandenen psychosozialen Konfliktfor­schung, die psychosozialen Abwehrmechanismen und deren Funktion nicht nur in Familiengruppen, sondern auch in größeren sozialen Gebilden herauszuarbeiten und ihren Bezug zu abstrakten Gesetzen, Tätigkeitsvorschriften, Tarifordnungen und formalen Organisationsstrukturen zu erforschen.

Reiter, Ludwig (1977): Rezension – Edeltrud Meistermann-Seeger (1976): Gestörte Familien. Familiendiagnose und Familientherapie. München (Beck). In: Familiendynamik, 2 (4), S. 343-346.

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