systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Dörte Foertsch (25.4.1957 – 6.8.2023)

| 4 Kommentare

Dörte Foertsch (Foto: Tom Levold)

Noch vor einem Jahr habe ich ihr an dieser Stelle zum 65. Geburtstag gratulieren können. Nun ist Dörte Foertsch am 6. August nach kurzer schwerer Krankheit in Berlin ganz unerwartet gestorben.

Einen Nachruf auf einen Menschen zu verfassen, mit dem mich so viele schöne, interessante und berührende Begegnungen verbinden, fällt mir nicht leicht. Es schwirren so viele Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf herum! Und vor allem bin ich sehr traurig.

Dörte kam in der Nähe von Hamburg zur Welt, als Schwester von fünf weiteren Töchtern. Eine gewisse hanseatische Art hat sie sich immer bewahrt, sie redete wenig von und über sich selbst, bezog sich im Gespräch lieber auf ihr Gegenüber oder andere Themen. Womöglich hatte das auch mit ihrer ursprungsfamiliären Geschichte zu tun. Ihr Großvater väterlicherseits Hermann Foertsch war (ebenso wie sein Bruder) General der Wehrmacht und Oberbefehlshaber an der Balkan-Front, unter dessen Verantwortung tausende Menschen in Jugoslawien und Griechenland im Rahmen von Vergeltungsmaßnahmen hingerichtet wurden. Auch wenn er bei den Nürnberger Prozessen – auf Grund offenbar zweifelhafter Entlastungszeugen – freigesprochen wurde, hat Dörte die Geschichte deutscher Schuld – ein Thema, für das sie auch in vielen Familientherapien ein besonderes Gespür hatte – nicht nur in der eigenen Familie belastet. In einem – übrigens wunderbar geschriebenen – Tagungsbericht für den Kontext aus dem Jahre 2009 über eine Tagung in Slowenien, die sich mit politischen und Kriegstraumata beschäftige, lässt sich eine Andeutung hierzu finden. Sie hat sich immer dafür verantwortlich gefühlt, dazu beizutragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholen kann. Ihr Bericht zeigt übrigens aufs schönste die Art und Weise, wie sie beobachtet hat und beschreiben konnte. Eine leichte, atmosphärisch treffende und pointierende Sprache, mit der sie ihre Aufmerksamkeit schnell wechselnd auf die unterschiedlichsten Dingen lenken konnte und dafür sorgte, dass man plötzlich auf Gedanken kam, auf die man sonst kaum gekommen wäre. Ein Text von oder ein Gespräch mit Dörte führte meist zu einem neuen Blick hinter die Kulissen des vermeintlich Gesicherten und Selbstverständlichen und bot immer Anregungen zu weiterem Nachdenken.

Die großen Theorie-Entwürfe waren dabei nicht ihre Bühne, dafür brillierte sie in den kleinen Formaten. Jahrelang versorgte sie die Kontext-Leser mit ihren „Stich-Worten“, in denen sie gedankenreich Begriffe aufspießte, die sich durch allzu häufigen Gebrauch im systemischen Feld schon abgenutzt hatten und nun einer neuen Ideensanierung unterzogen wurden. Ihren Humor zeigte sie – ebenfalls im Kontext – in ihren vielen „räuberatmosphärischen“ Glossen. Beim Lesen ihrer Texte fällt schwer zu glauben, dass ihr das Schreiben schwer fiel. In einem Beitrag für den systemagazin-Adventskalender schrieb sie 2013: „lesen und schreiben in Deinem Adventskalender ist in diesem Jahr für mich eine besondere Herausforderung, also so eine Sache, weil ich mich zwar zu den gerne Lesenden zähle, aber nicht zu sehr zu den Schreibzugehörigen von Büchern oder Zeitschriften und Artikeln. Ich schreibe gerne Briefe, am liebsten noch mit Füller und auf büttenem Papier. (…) Ich nehme beim Lesen jedes Wort beim Wort, damit komme ich nicht gut voran. Könntest Du mir beim Lesen helfen oder soll ich es wortwörtlich lassen? Ich glaube, ich habe ein zu therapeutisches Ohr beim Lesen, wie lässt sich das abstellen? Viel schlimmer ist aber meine Schreibhemmung. Ich versuche ein anonymes Gegenüber zu erreichen und bin zu sehr auf eine anerkennende und neugierige Reaktion angewiesen um in einen Schreibschwung zu kommen. Sagst Du, das sei ein eklatanter Fehler? Sollte ich beim Schreiben mehr an mich denken?“.

An sich zu denken, fiel ihr ohnehin nicht leicht. Sie fühlte sich sicherer und wohler, wenn sie an Andere denken und etwas für andere tun konnte.

Nach dem Abitur absolvierte sie ein freiwilliges soziales Jahr in den USA und schloss daran von 1977 bis 1982 ein Studium der Psychologie am Fachbereich Kritische Psychologie der FU Berlin an. 1984 begann sie ihre familientherapeutische Weiterbildung am Berliner Institut für Familientherapie (BIF), das im Jahre zuvor vor Jürgen Linke, Ulrike-Luise Eckhardt, Klaus Lübke und Bernd Roedel gegründet worden war. Die Zeit der schnellen Expansion machte sich auch im BIF bemerkbar, so dass Dörte nach Abschluss ihrer Weiterbildung 1988 schon in das dortige Therapeutenteam einstieg und schnell auch Verantwortung für das Institut als Vorstandsmitglied übernahm. In dieser Zeit lernte ich Dörte kennen. Nach der Wende, die auch der systemischen Szene in Berlin noch einmal einen besonderen Schwung verlieh, gründete das BIF 1993 eine Zweigstelle in Ostberlin, deren Leitung Dörte mit viel Herzblut für 10 Jahre innehatte.

Ihr Wunsch und ihr Interesse, sich immer auf neue Herausforderungen einzulassen, zeigte sich in z.B. in hypno- und traumatherapeutischen Weiterbildungen ebenso wie in ihrer aktiven Mitarbeit in der Systemischen Gesellschaft, deren Gründungsmitglied das BIF 1993 war. Ich habe sie nie als Therapeutin in Aktion gesehen, aber ich hätte mich immer ohne jede Vorbereitung als Kotherapeut mit ihr in eine Therapiesitzung begeben und bin sicher, dass dabei ein wunderbares Gespräch herausgekommen wäre. Unsere Gespräche über unsere Praxisfälle und die Art und Weise unserer Supervisionen waren für mich immer ein Steinbruch neuer Ideen und unerwarteter Schlussfolgerungen – ich denke, dass sie eine wunderbare Lehrerin für viele Weiterbildungsjahrgänge gewesen sein muss.

2002 wurde sie dann Mitherausgeberin des Kontext – zunächst an der Seite von Johannes Herwig-Lempp, Günter Reich und Friedrich Balck. Im besagten Kalender-Eintrag von 2013 schreibt sie dazu: „Als ich gefragt wurde, beim Kontext mitzuarbeiten, bin ich fast vom Hocker gefallen, denn ich hatte  außer meiner Diplomarbeit bis dahin nichts außer Briefen und Tagebuch geschrieben. Hinter dieser Anfrage, so wurde der Überredungsversuch erklärt, steckte der Wunsch, jemanden aus der praktischen Arbeit dabei zu haben, schließlich ist dies eine Zeitschrift für so viele Praktiker. Diese Leute aus der Systemischen Szene lassen nichts aus!“.

Und was für eine gute Entscheidung das war! Von 2005, als ich Mitherausgeber wurde, bis zu ihrem Ausscheiden 2018 haben wir intensiv zusammen arbeiten, diskutieren, quatschen, kochen, essen und feiern können, in sich allmählich verändernder Zusammensetzung mit Günter Reich, Wolf Ritscher, Petra Bauer, Barbara Bräutigam und zum Schluss noch Stefan Beher. Wir hatten eine großartige Zeit nicht nur als Kollegen, sondern auch als freundschaftlich verbundene Menschen, die alle ihre Unterschiede auf wunderbare Weise miteinander amalgamieren konnten. In meiner Gratulation zu ihrem 65. Geburtstag habe ich darüber geschrieben: „Dieser Zusammenarbeit hat sie mit ihrer Kreativität, ihrem Witz, ihrer Empathie und dem Gespür für (neue) Themen ein ganz wichtiges Gepräge gegeben. Frei von Konkurrenzgebaren und ausgestattet mit einer großen Herzlichkeit und einer unglaublichen Gastfreundschaft, sei es bei ihr zuhause, in Ligurien oder in ihrem Domizil in der Uckermarck, hat sie die Arbeit an der Zeitschrift enorm bereichert und eine persönliche Atmosphäre geschaffen, die in Arbeitsbeziehungen nicht selbstverständlich ist. Ihr unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl und ihre Einfühlung in Benachteiligte und Machtunterworfene hat sie aber auch in die Diskurse der Systemischen Gesellschaft eingebracht, in der sie lange wie auch andere Kollegen des BIF aktiv war“. 

Dörte hat in ihrem Leben sehr viel gearbeitet – die Arbeit war ihr ein Lebensmedium, in dem sie ihre Überzeugungen und Werte, ihre Ideen und ihre Kreativität zum Ausdruck bringen konnte. Auch wenn sie immer für das Verbindende eintrat, ließ sie sich in ihren klaren Ansichten nicht irritieren. Billige Kompromisse waren ihre Sache nicht. Aber ihr ehrenamtlicher Einsatz galt nicht nur den professionellen Aufgaben. Noch im vergangenen Jahr nahm sie mit ihrem Mann ohne zu zögern eine ukrainische Flüchtlingsfamilie bei sich auf.

Gemeinsam mit ihm zog sie zwei Töchter, die sie in die Lebensgemeinschaft eingebracht hatte, und drei Stiefsöhne auf – als diese dann größer waren, schufen sie ein wunderbares gemeinsames Domizil in Pinnow in der Uckermarck, wo sie ihrer Kreativität und Leidenschaft als Bildhauerin freien Lauf lassen konnte. 

Über ihre Kunst schrieb sie: „Etwas aus Stein zu schaffen bedeutet manchmal Kampf, man weiß nicht immer, ob man gerade gegen die Natur oder mit ihr arbeitet. Dem Stein ist Schlag für Schlag nichts mehr hinzuzufügen, jeder Fehlschlag hat unwiderrufliche Konsequenzen, man muss den Stein lange betrachten und kann sein Inneres, also Adern und Risse, Löcher und Energien nur erahnen, man braucht viel Erfahrung und viele Misserfolge, um sicher zu werden. Es geht nicht darum, chaotische Strukturen zu bezwingen, sondern darum, ihre Energien anzuzapfen. Die Wahl des richtigen Augenblicks ist dabei genauso wichtig wie der Schlag selbst. Eine gelungene Arbeit beinhaltet die Klarheit über die Form und die dahinterliegende Idee und kein Mysterium. Es ist eine gelungene Arbeit für mich, wenn ihr eine gewisse Anspannung innewohnt, und es ist mir zuwider, wenn mit angeblicher Feinfühligkeit banale Maßnahmen zum Besten der Natur ergriffen werden.“ Diese Art des Herangehens an das Ausgangsmaterial lässt sich sicherlich auch auf ihre Weise übertragen, mit den Herausforderungen, aber auch den Gelegenheiten umzugehen, die das Leben für sie bereitgehalten hat.

Krank war sie schon seit vielen Jahren, dabei war ihr körperlicher Zustand einem ständigen Auf und Ab unterworfen – auch eine Tatsache, die sie gerne verschwieg. Äußerte man Sorge, winkte sie ab. Trotz dieser Belastung und ihres angegriffenen Immunsystems schonte sie sich nicht, ging allzu häufig über ihre Grenzen – und ließ sich auch nicht gerne helfen. Wenn es ihr schlecht ging, machte sie das mit sich selbst aus, was für die Menschen in ihrer nächsten Umgebung auch nicht immer leicht war.

Am Samstag wären wir im Rheinland verabredet gewesen. Nun kommt es nicht mehr dazu. Liebe Dörte, du wunderbarer Mensch: Farewell – wir werden dich in unserem Herzen behalten!

4 Kommentare

  1. Hartmut Epple sagt:

    Dir lieber Tom tief empfundenen Dank für Deinen Nachruf auf Dörte. Das ist sehr traurig, dass sie so früh gestorben ist.
    Dörte war für mich eine sehr bedeutende Lehrerin während meiner therapeutischen Weiterbildung am BIF. Sie war eine Meisterin darin, schwierig und negativ konnotierten Erlebnissen oder Erzählungen einen konstruktiveren Blickwinkel hinzuzufügen, der Ausblicke und Hoffnungen auf bessere Lösungen möglich machte.
    Ich erinnere mich, sie während meiner Weiterbildung recht verzweifelt angesprochen zu haben, weil mir immer nur die negativen, problemorientierten und kritischen Seiten einer Sache oder Erzählung einfallen würden, während sie immer eine positivere Erklärung produzieren konnte. Sie hat daraufhin sinngemäß nur gesagt: „dann bist Du ja ganz nah dran an den „positiven“ Erklärungen, das ist nur ein kleiner Schritt“. Ab da habe ich es geübt und sie hatte recht. Danke Dörte dafür und für Deine Empathie mit allen Gebeutelten dieser Welt! Gute Reise Dir!

    Hartmut

  2. Peter Müssen sagt:

    Lieber Tom, vielen Dank für Deine wunderbare Würdigung – Dörte hat sie wirklich verdient. Am Montag vor ihrem Tod habe ich noch mit ihr telefoniert; sie klang gar nicht gut und ich war sehr besorgt. Ihr plötzlicher Tod macht auch mich tief traurig. Neben aller fachlichen Kompetenz war sie eine sehr fürsorgliche Freundin – die erste, die mich nach einer Lungenembolie in Berlin im Krankenhaus auf der Intensivstation besucht hat.
    Liebe Dörte, Du hast gerne große Steinblöcke für Euren Garten bearbeitet. Ich werde einen Gedenkstein an Dich in mein Regal stellen, der in mir die Erinnerung an unsere vielen schönen Begegnungen wach hält – und an Deine Ziege. Du weißt, was ich meine.
    Voller Dankbarkeit, Dein Peter

  3. Andreas Wahlster sagt:

    Was für eine traurige Nachricht. Mit Dörte verliert die systemische Gemeinschaft eine in jeder Hinsicht integre Frau, die mich immer wieder mit ihren klugen unbestechlichen Beiträgen beeindruckte. Tom hat das so klar und treffend beschrieben. Ich durfte in Berlin anlässlich der SG-Tagung „Hinter den Spiegeln“ Zeuge einer Sternstunde sein. Max van Trommel moderierte ein Gespräch zwischen einer Familie mit einer als schizophren diagnostizierten Tochter und ihren Familientherapeut*innen Dörte Förtsch und Klaus Lübke. Sie sprachen miteinander über den abgeschlossenen Therapieprozess vor ca. 300 Menschen. Der Mut aller Beteilgten, zu sprechen, hat mich zutiefst berührt, und Dörte wurde gleichermaßen leibhaftig in ihrer Humanität, Klugheit und Zugewandtheit für alle erlebbar. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Liebe Dörte, wo immer Du jetzt bist, mach es Dir schön und schicke ab und zu etwas von Deinen Gaben, du wirst wissen, wann wir es brauchen.
    Andreas Wahlster

  4. Dr. Arist von Schlippe sagt:

    Danke für diesen wertschätzenden Nachruf, lieber Tom. Ich kannte Dörte nicht sehr gut, wir hatten einmal ein schönes langes Interviewgespräch in Berlin, an das ich gern zurückdenke. Ich wusste nicht, dass sie krank war und bin so betroffen von der Nachricht, dass sie gestorben ist. Dein Nachruf hat es mir möglich gemacht, sie noch besser kennenzulernen und damit auch zu verabschieden. Mach’s gut, liebe Dörte!

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.