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Die Person in ihrem soziale Kontext

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Auch wenn es kein eigentliches Themenheft ist, kreisen die Haupt-Beiträge der letzten Ausgabe des „Kontext“ von 2013 um das Thema der der Person und ihre Einbindung in soziale Beziehungen, Netzwerke, professionelle und gesellschaftliche Zusammenhänge. Im Editorial heißt es: „Den Anfang macht ein sehr lesenswerter, philosophisch und soziologisch informierter Beitrag von Christoph Schneider. Der Soziologe und Systemische Berater beschäftigt sich unter der Überschrift „Person, Individualität, Authentizität“ mit der „kulturellen Bedeutung subjekbezogener Semantik“. Er zeigt dabei auf, dass der Begriff der Person seit der Antike (per-sona = Maske) auf die selektive Übernahme sozialer Rollen und Erwartungen Bezug nimmt, der Begriff der Person also nichts mit unseren heutigen Konzepten von Individualität zu tun hat. Der Personbegriff ist nur über die Relationalität zu anderen Interaktionspartnern zu verstehen, als Ensemble unterschiedlicher sozialer Erwartungen und Rollenvorgaben, die damit erst die Person als solche konstituieren. Dagegen beruht die Konstruktion des Individuums auf dem Versuch einer Abgrenzung von der sozialen Umwelt – im Sinne der Schaffung von Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Allerdings zeigt sich auch hier, dass das Individuum keineswegs eine Kategorie ist, die den sozialen Kontext vernachlässigen könnte, da dieser als Negativ-Folie, von der sich das Individuum als besonders absetzen muss, immer schon mitgedacht werden muss. Die Konsequenzen dieser Überlegungen für den Bereich der Psychotherapie liegen für Schneider in der kritischen Hinterfragung des in diesem Zusammenhang nicht selten angestrebten Ideals „individuell-authentischer Subjektivität“ und einem Plädoyer für die „Form der Person“, die erst die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen und Wünschen erlaube: „Intersubjektive Relationalität bedarf immer eines bestimmten Maßes an Vermittlung, und Vermittlung geht immer mit einem bestimmten Maß an Maskierung einher. Die persona steht mit den Anderen gemeinsam auf der Bühne, Individualität und Authentizität verbannen den anderen ins Publikum“.
Einen ganz anderen Zugang zur sozialen Verortung der Person findet Holger von der Lippe. Bekannte Formen der Visualisierung personaler Zusammenhänge im Bereich von Therapie und Beratung sind das Genogramm und das Soziogramm. Von der Lippe vergleicht die Stärken und Schwächen beider Vorgehensweisen und schlägt unter Einbeziehung neuerer Netzwerktheorien und netzwerkanalytischer Methoden vor, „familiale und nicht-familiale Beziehungen als Genosoziogramme zu konzipieren und diese als egozentrierte (personale) Netzwerke zu analysieren“. Damit können beispielsweise zentrale Beziehungspartner oder ungewöhnliche Beziehungskonstellationen identifiziert und generell unterschiedliche inner- und außerfamiliale Vernetzungsstrukturen sichtbar gemacht werden. Die Reichweite solcher Visualisierungsstrategien für die eigene Hypothesenbildung („Gibt es so etwas wie ,graue Eminenzen‘ im Beziehungsgebilde eines Klienten? Wer sind die offensichtlichen oder heimlichen ,Strippenzieher‘ im Beziehungsnetz? Wer ist in die Kernbereiche des Beziehungsnetzes eingebettet und wer steht eher am Rande?“ ) lässt sich auf diese Weise vergrößern, auch wenn die hier vorgestellte mathematisch-quantitative Methodik in erster Linie für vergleichende Untersuchungen und damit für Forschungskontexte von Interesse sein wird.
Was die Identität einer Person ausmacht, muss im Lebenslauf immer wieder neu bestimmt  werden. Narrative Ansätze orientieren sich an der Frage, wie die eigene Identität als Person oder Individuum durch Erzählung und Geschichten konstruiert wird und sich im Verlaufe dieses Prozesses ausdifferenziert und verändert. Ludger Kühling nähert sich diesem Thema von einer gänzlich anderen Perspektive, nämlich der der aufsuchenden Hilfen. In Kontexten wie der Sozialpädagogischen Familienhilfe haben es Helfer durchaus mit Klienten („Vielsprechern“) zu tun, die einen erheblichen narrativen Mitteilungsbedarf anbieten. Folgt man einem narrativen Ansatz, böte sich an, einen Raum für Geschichten zu schaffen, in denen dann die darin enthaltenen Ressourcen für die Bewältigung anstehender Aufgaben herausgearbeitet und gewürdigt werden können. Für Kühling ist das aber eine ambivalente Perspektive, geht es doch häufig aufgrund der Auftragslage (z.B. in Zwangskontexten) um die Erreichung verbindlich festgelegter, konkreter Ziele. Das Einlassen auf Erzählungen und Geschichten der Klienten kann unter diesen Bedingungen zu einem „situativen Driften“ führen, welches die Beteiligten von der Zielverfolgung ablenken kann. Diese Ambivalenz wird im Text nicht aufgelöst, vielmehr schlägt Kühling praktische Interventionen und Vorgehensweisen vor, mit denen man dem Redebedarf der Klienten einerseits einen wohlwollenden, öffnenden Rahmen für seine Erzählungen anbieten, andererseits aber auch einen narrativen Überlauf durch konkrete Strukturierungsmöglichkeiten begrenzen kann.
Die Reihe der Hauptbeiträge wird durch einen Text von Bernhard Pörksen abgerundet, der sich mit einem hochaktuellen Thema befasst, das in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl noch einmal an Dramatik gewonnen hat. Wenn die Person, wie eingangs beschrieben, sich durch die Übernahme sozialer Rollen und Erwartungen definiert, dann ist sie in hohem Maße abhängig von der Anerkennung, die ihr in ihren relevanten sozialen Kontexten  zuteil wird. Der Entzug dieser Anerkennung in Form von Exkommunikation oder massivem Reputationsverlust stellt eine schwere Bedrohung der eigenen Identität, ja nicht selten auch der sozialen Existenz dar. Diese Bedrohung ist, so Pörkens These, heute eine andere als in früheren Zeiten. Mit der Veränderung der Medienlandschaft zur globalen Netzkultur ist die Positionierung als öffentliche Person nicht mehr an konkrete Orte (Archive, Zeitungsausgaben etc.) gebunden, weil die entsprechenden Informationen als Daten im Internet weltweit abgerufen werden können, gleichzeitig ist auch die spezifische Zeit, in der die Person sich selbst als solche präsentiert und wahrgenommen (und kritisiert) wird, aufgehoben, weil alles Vergangene im Netz aufbewahrt wird und zu ewiger Gegenwart gerinnt. Damit stellt sich allerdings die Frage, welche Chancen es für eine Veränderung von Personen noch geben kann, wenn alles, was sie in der Vergangenheit gemacht und gesagt haben, dem Publikum für alle Zeiten als gegenwärtiges Faktum zur Verfügung steht. Pörksen hat in der letzten Zeit eindrucksvolle Studien solcher Skandale unternommen, die im Internet schnell eine Eigendynamik annehmen, die von niemandem mehr unter Kontrolle zu bringen ist. In seinem Text für dieses Heft ist der vermeintliche Pädophilie-Skandal um Dany Cohn-Bendit Gegenstand:„Man kann, so zeigt sich, nicht auf einen kollektiven Erinnerungsverlust und die damit gegebene Chance zum Neuanfang warten und muss im Zeitalter der gnadenlosen Dokumentation die Antwort nach dem richtigen Augenblick des Vergessens notwendig für sich bestimmen, individuell und allein. Die Sätze gehen nicht weg. Sie bilden den dunklen Schatten einer Biographie, obgleich der Mensch, der sie einmal gesagt und vielleicht anders gemeint hat, längst ein anderer geworden ist“ Der Beitrag ist 2012 in erweiterter Fassung in einem gemeinsam mit Hanne Detel verfassten Band„Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter” erschienen, der beim Herbert von Halem Verlag in Köln herausgekommen ist.“
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