Mit Salvador Minuchin ist am 30. Oktober vergangenen Jahres ein weiterer großer Pionier der Familientherapie gestorben, der vor allem für die Begründung des strukturellen Ansatzes in der Familientherapie weltberühmt wurde. Andrea Brandl-Nebehay aus Wien hat einen Nachruf auf ihn verfasst.
Andrea Brandl-Nebehay, Wien: Nachruf auf Salvador Minuchin
Salvador Minuchin, aus Argentinien stammender Kinderpsychiater und Begründer der strukturellen Familientherapie, ist am 30. Oktober 2017 kurz nach seinem 96. Geburtstag in Florida verstorben (Foto: Danielle Menuhin, 15.8.2004; Wikipedia).
Seine abenteuerliche Lebensgeschichte verbindet in eindrucksvoller Weise mehrere Länder, Kontinente und Kulturen. Seine jüdischen Großeltern waren auf der Flucht vor Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts von einem russischen Schtetl nach Argentinien geflohen, wo Salvador in einer patriarchal strukturierten Großfamilie mit strengen Regelwerken aufwuchs. In seinen autobiografischen Erinnerungen beschreibt er seine Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Anpassung an die hispanische Lebensweise und dem bedrohlichen Antisemitismus seiner Umgebung: „Ich bin als Jude in einer Stadt aufgewachsen, in der Graffiti an den Wänden standen wie ,Sei patriotisch, töte einen Juden’. Aber von der argentinischen Musik war ich begeistert… Ich lernte meine eigene jüdische Identität zu verachten, nur um ein guter Argentinier zu sein. Dafür habe ich mich gehasst“ (zitiert nach Stierlin 2011, S. 126). Als Medizinstudent engagierte er sich dann aktiv in der zionistischen Studentenbewegung, wurde 1943 für einige Monate inhaftiert, nachdem er an Protestaktionen gegen den Diktator Juan Perón teilgenommen hatte. Er verbrachte drei Monate in Einzelhaft und musste das Studium in Uruguay fortsetzten. Diese Erfahrungen prägten sein weiteres politisches und soziales Engagement und trugen vermutlich zu der radikalen Entscheidung bei, kurz nach Eröffnung seiner kinderärztlichen Praxis in Buenos Aires 1948 nach Israel auszuwandern, um dem neu gegründeten Staat zunächst als Militärarzt zu dienen. Nach einem Zwischenspiel in New York, wo Minuchin eine zusätzliche Ausbildung zum Psychiater absolvierte und erste Erfahrungen in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen sammelte, kehrte er Anfang der 50er-Jahre als Kinderpsychiater nach Israel zurück und wurde Ko-Direktor von Youth Aliyah, einer Institution, zu der mehrere Heime für verhaltensgestörte und psychisch kranke Kinder gehörten – meist Waisenkinder aus Europa, die den Holocaust überlebt hatten.
Nach harten Jahren in Israel kehrte Salvador Minuchin 1954 in die USA zurück, ließ sich zum Psychoanalytiker ausbilden und arbeitete als Psychiater in einem Heim für delinquente schwarze Jugendliche in Wiltwyck/NY. So wurde er mit verschiedensten sprachlichen, sozialen und kulturellen Kontexten vertraut und verlagerte den Schwerpunkt von Einzelgesprächen mit verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen auf die Arbeit mit der ganzen Familie. Diesen unkonventionellen, konfrontativen Umgang mit Ghettofamilien, der seinen frühen Ruf als „struktureller“ Familientherapeut begründete, stellte er in dem berühmt gewordenen Buch „Families of the Slums (Minuchin et al., 1967) dar.
Eine nächste wichtige Etappe in Minuchins Karriere war seine Tätigkeit (1965–1975) als Direktor der kinderpsychiatrischen Child Guidance Clinic in Philadelphia, wobei sich der Fokus seines Interesses auf die familientherapeutische Behandlung psychosomatisch erkrankter Kinder verlagerte. In seine therapeutische Praxis wie auch in seine Forschungsarbeiten bezog er Familienmitglieder der an Diabetes, Asthma oder Magersucht erkrankten Kinder mit ein. Jay Haley kam von Palo Alto nach Philadelphia und unterstützte Minuchin bei der Fundierung und Weiterentwicklung der strukturellen Familientherapie; fruchtbare Inspiration brachte auch die Zusammenarbeit mit Chloe Madanes und Lynn Hoffman. Die Grundprinzipien der strukturellen Arbeitsweise sind in Minuchins Büchern „Familie und Familientherapie“ (1977) und „Praxis der strukturellen Familientherapie“ (1983) anschaulich beschrieben.
Im Zentrum dieses Modells, das von einem normativen Konzept funktionaler Familienorganisation ausgeht, stehen die Begriffe Hierarchie, Subsysteme und Grenzen: Ziel des therapeutischen Prozesses ist es, die Struktur der „psychosomatisch erkrankten Familien“ im Sinne eines hilfreicheren Zusammenwirkens der einzelnen Subsysteme umzuformen. Die Generationsgrenzen innerhalb eines Familiensystems sollten klar und eindeutig sein, dabei aber Kontakt nach außen ermöglichen. Besonders wichtig sei ein gut ausgeprägtes eheliches sowie elterliches Subsystem. Ist hier die Grenzziehung zum Subsystem der Kinder zu rigide, so fehlt Kontakt und emotionale Unterstützung; wenn die Grenze verschwimmt, können sich andere Untergruppen (z.B. Großeltern, Kinder) in das Subsystem des Paares hineindrängen.
Extreme in der Handhabung von Grenzen werden auf der einen Seite als Verstrickung (enmeshment), auf der anderen Seite als Isolierung oder Loslösung (disengagement) beschrieben. „Verstrickte“ Familien wenden sich im Übermaß einander zu und binden die Mitglieder durch große Fürsorglichkeit; diese „Knäuel-Familien“ bilden intensive Nähe zueinander und gleichzeitig starre Grenzen nach außen hin aus. Verstrickung sei eines der typischen Merkmale als „psychosomatisch“ diagnostizierter Familien (Minuchin et al., 1981), die durch Überfürsorglichkeit, Starrheit und Konfliktvermeidung gekennzeichnet sind. Demgegenüber tendieren „isolierte“ Familien dazu, wenig Verbundenheit zwischen den Mitgliedern und Subsystemen zuzulassen und sich nach außen hin wenig abzugrenzen („Streusand-Familie“).
Minuchins Arbeit an der Child Guidance Clinic von Philadelphia wurde später von seinen Mitarbeitern Braulio Montalvo und Harry Aponte weitergeführt, er selbst blieb bis 1981 Direktor des angeschlossenen Ausbildungsinstituts, das laufend familientherapeutische Trainings auch für im Gesundheitswesen tätige therapeutische Laien anbot, woraus sich übrigens die Idee der Video-Beobachtung und Live-Supervision entwickelte und schon bald zum Standard gehörte. Bis ins hohe Alter blieb Salvador Minuchin ein hochaktiver, streitbarer Lehrerender, ein beliebter Vortragender bei familientherapeutischen Kongressen und engagierter Bürger, der sich theoretisch wie praktisch mit der Wechselwirkung zwischen Familien und sozialen Institutionen im kommunalpolitischen Kontext beschäftigte.
Als Pionier und kreativer Schöpfer des von den 70er- bis in die 90erJahre hinein dominanten strukturellen Ansatzes innerhalb der Familientherapie prägte Salvador Minuchin das Verständnis vieler nachfolgender Generationen für die Bedeutung von Grenzen und Hierarchien in Systemen. Auch wenn die strukturelle Familientherapie aus heutiger Sicht einer Kybernetik zweiter Ordnung überholt erscheint und der mitunter „stierkämpferisch“ anmutende Interventionsstil uns heutige SystemikerInnen befremdet, wird Salvador Minuchin als eine eindrucksvolle, in vielen Kulturen beheimatete Persönlichkeit und als Kämpfer mit leidenschaftlichem Einsatz für Familien und ihre Helfersysteme in Erinnerung bleiben.
(dieser Beitrag wird auch in der nächsten Ausgabe der „netzwerke“ der ÖAS in Wien erscheinen)
Literatur
Minuchin S, Montalvo B, Guernen B, Rosman B & Schumer F (1967) Families of the Slums. An Exploration of Their Structure and Treatment. Basic Books, New York
Minuchin S (1977) Familie und Familientherapie. Lambertus, Freiburg
Minuchin S, Rosman B & Baker L (1981) Psychosomatische Krankheiten in der Familie. Klett-Cotta, Stuttgart
Minuchin S, Fishman H (1983) Praxis der strukturellen Familientherapie. Lambertus, Freiburg
Minuchin S & Nichols, M P (1993) Family healing: Tales of hope and renewal from family therapy. The Free Press, New York
Minuchin S et al. (1996) Mastering Family Therapy: Journeys of Growth and Transformation
Stierlin S (2011) Ich brannte vor Neugier!: Familiengeschichten bedeutender Familientherapeutinnen und Familientherapeuten. Carl Auer, Heidelberg