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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Zitat des Tages: Merlin Donald

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“Bewusstsein und Kultur stehen in einem reziproken Verhältnis. Eine Kultur entsteht aus den Versuchen eines Bewusstseins mit sich erweiternden Fähigkeiten, in Verbindung mit anderen Individuen zu treten. Das spezifisch Menschliche an unserem Bewusstsein lässt sich nicht an einem anatomischen Merkmal des Gehirns festmachen, sondern ist auf seine Einbettung in eine Kultur zurückzuführen. Enkulturation erfordert zum einen, dass sich das Arbeitsgedächtnis früh in multiple Aufmerksamkeitsfelder ausdifferenziert, und zum anderen, dass der hocheffiziente Erinnerungsabruf, zu dem es fähig ist, für eingespielte kognitive Sequenzen nutzbar gemacht wird, die für die Interaktion mit der Kultur wesentlich sind. Diese Operationen versetzen das Gehirn in die Lage, die Aufmerksamkeit auf Markierungspunkte und Wegweiser zu richten, die es ins Herz der Kultur geleiten. Wir wissen zwar noch zu wenig darüber, wie sich diese Sequenzen im Detail entfalten, doch Beobachtungen an wildlebenden Affen und so genannten Wolfskindern machen deutlich, dass wir, falls die Sequenzen dem Gehirn nicht früh genug eingeschrieben wurden, irgendwann nicht mehr im Stande sind, sie uns anzueignen. Ein entscheidender Schritt ist, dass das Aufmerksamkeitssystem des Kindes sich mit dem anderer Menschen verzahnt. Dieses Ineinandergreifen erfolgt über Kanäle wie Blickkontakt, Stimmäußerungen und Berührungen, die an eingespielten Interaktionsmustern wie Begrüßungen, Umarmungen und Spielen beteiligt sind. Damit ein wechselseitiger Austausch entstehen kann, muss das Kind als aktiver Teilnehmer einbezogen sein. Die entsprechenden Formen der Interaktion eignet es sich vor allem im Kontakt zu seinen zentralen Bezugspersonen an. Am Beginn steht meist das gegenseitige Nachahmen von Kind und Mutter. Das Hin und Her von Mimik, Lautäußerungen und Gestik differenziert sich in spielerischen Interaktionen wie dem »So tun, als ob« immer weiter aus. Solche Begegnungen regen das Kind dazu an, ein komplexes Repertoire mentaler Operationen aufzubauen, die es von da an in Situationen einsetzen wird, die eine gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit erfordern. Das kognitive Repertoire, mittels dessen das Kind in die Kultur hineinwachsen kann, ist ein kulturelles Steuerungssystem, das sich Schicht um Schicht in seinem Geist aufbaut. Der heranreifende Geist des Kindes verzahnt sich mit dem seiner Bezugspersonen und nach und nach mit seinem gesamten Umfeld. Auf diese Weise werden Muster des gemeinsamen Beobachtens, Anteilnehmens, Empfindens und Erinnerns eingeübt und verfeinert, die das Kind auf seine späteren Erfahrungen innerhalb der Kultur vorbereiten. Zum Erlernen neuer Fertigkeiten sind immer subtilere Mechanismen der Aufmerksamkeitskopplung notwendig, die es uns zum Beispiel ermöglichen, die Intentionen von Gruppen zu registrieren. Mit Hilfe derselben Mechanismen können wir auch überprüfen, ob unsere Einschätzungen und Bewertungen sich mit denen von anderen decken oder nicht. Solche kognitiven Muster werden dadurch, dass Erwachsene sie bei der Anleitung von Kindern wiederholen, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dieser auf viele mentale Systeme verteilte pädagogische Prozess bildet eine Art kulturelles Gedächtnis, in dem das gewaltige Geflecht aus sozialen Bindungen und gemeinsamem Handeln und Empfinden gespeichert ist, das der tiefgreifenden Enkulturation jedes Kindes zugrunde liegt. Dieses System des kulturellen Zusammenhalts ist zwar offenbar an der Basis der kognitiven Hierarchie angesiedelt, operiert aber auf einer sehr hohen Abstraktionsebene, die weit jenseits der Möglichkeiten anderer Primaten liegt“ (In: Triumph des Bewusstseins, Klett Verlag, Stuttgart 2008, S. 266-268)

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