Im Mai 2012 fand in der Heidelberger Stadthalle ein Symposion mit dem o.g. Titel statt, das vom Heidelberger Institut für systemische Forschung in Kooperation mit der Zeitschrift Familiendynamik und der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) veranstaltet wurde. Das vielseitige, allerdings überraschend (?) männerlastige Programm wurde im wesentlichen von Hans Rudi Fischer zusammengestellt und moderiert, der auch den eleganten Tagungsband herausgegeben hat, der 2013 bei Velbrück erschienen ist und die wichtigsten Vorträge der Tagung vereint. Claus Riehle, Coach und Organisationsberater aus Düren, hat das Buch gelesen und ist begeistert (eine verkürzte Fassung der nachfolgenden Besprechung wird in der nächsten Ausgabe der Familiendynamik erscheinen. Er resümiert: „Wer sich daher auf das vorliegende Neu-Buch einlassen kann, bringt seine Welt ins Neue, und wird in der Breite wie in der Tiefe reichlich belohnt, wenn ich meine Erfahrung an dieser Stelle mal verallgemeinern darf. Denn mich hat die eingangs erwähnte „Landkarte, die uns durch die Landschaft des Neuen führt“ außergewöhnlich inspiriert, d.h. das Lesen des Buchs hat in mir einen deutlichen Unterschied erzeugt gegenüber vorher, es ist für mich damit nach Bateson zu Information geworden. Und weil die eigentliche Rezension nicht der Rezensent macht, sondern Sie, liebe Leserin, lieber Leser, könnte das Zusammenspiel von Recedere und Procedere, das Fischer zu Beginn beschreibt, wahrscheinlich auch bei Ihnen Früchte tragen.“
Claus Riehle, Düren: Wie kommt Neues in die Welt?
„Durch einen Herausgeber zum Beispiel“, könnte man dem fragenden Buchtitel spontan antworten, womit wir uns bereits mitten im Thema befänden. Doch aller Anfang ist heilig, weshalb auch ich darauf achten möchte, dass in Ihrem Interesse meine neugierige Durchsicht des von Hans Rudi Fischer herausgebrachten Buches einer Aufforderung zum Tanz gleichkommt. Indem ich diese Zeilen schreibe, werde ich selbst zum Teil dessen, was Gegenstand des Buches ist, nämlich die Quellensuche für Kreatives. Wobei sich der Band auf Vergangenes bezieht (nämlich das gleichnamige Symposium, das im Mai 2012 in Heidelberg stattgefunden hat) und für mich jetzt ja schon alt ist – weil ich ihn gelesen habe.
Meine Aufgabe als Rezensent ist es daher, über eine Neuerscheinung, die für mich „alt“ ist, Neues zu schreiben, das folgende Eigenschaften hat und auch haben sollte: erstens, sehr verkürzt zu sein – denn sonst könnten Sie ja gleich das originale Buch lesen – und zweitens: sehr attraktiv zu sein – denn schließlich haben der Verlag, der Herausgeber und die Autoren ein Interesse daran, dass das Buch gekauft wird bzw. sich die darin enthaltenen Gedanken verbreiten – und Sie, lieber Leserin, lieber Leser, zu Neuem zu inspirieren.
Der Herausgeber verspricht im Vorwort „einen guten Überblick zum gegenwärtigen Diskurs über das Neue in Philosophie, Psychologie und Ökonomie“ und auch auf die Naturwissenschaften wird in mehreren Beiträgen referenziert. Das Thema wird also interdisziplinär angegangen, die vielfältigen Perspektiven auf den Akt des (Er)Zeugens oder des Schöpfens oder des Gebärens wurden transdisziplinär in einer Weise durchdacht, dass sie einen guten Samen bilden für bereite Böden: „Die Landkarte, die uns durch die Landschaft des Neuen führt, ist mit der Landschaft identisch“ (Fischer, S. 18) – so wird es auch mit diesem Aufsatz sein. „Wo ist Neues lokalisierbar, wo findet Neues statt?“, ist eine der zentralen Leitfragen, die Josef Mitterer auch explizit stellt (S. 24); manchmal eben auch zwischen zwei Buchdeckeln: dort muss es nicht erfunden, sondern gefunden, also von Ihnen „ent-deckt“ werden – womit „wir“, also Sie hoffentlich und ich nun wirklich, im Thema angekommen sind.
Das Buch, das um den „modus operandi des Neuen“ (S. 10) kreist, wäre kein systemisches, ginge es nicht um Unterschiede und um (Be)Deutungsspiele, denn auch Systemiker wollen sich ja wiederfinden, also an Altes anschließen. Daher ist es nicht überraschend, dass Fischer als logisch orientierter Philosoph und Psychologe den Beitragenden Aussagen von Wittgensteins voranstellt und dabei hervorhebt, dass die Bedeutung von Worten und Zeichen etwas Sprachimmanentes ist und eben keine „außersprachliche Entität“ („Im Gebrauch lebt es“, Wittgenstein). In dem Sinne, dass es „Sinn oder Bedeutung nur in Sprachspielen als Systeme menschlicher Verständigung“ (S. 17) gibt, setzt Fischer eine radikale Betonung: „Das Neue ist immer ein Sprachspiel“. Das spricht nicht nur Philosophen und Systemiker, sondern auch Physiker an, denn das Neue resultiert aus Wechsel-Wirkung, ist also eine Folge aus wechselseitiger Wirkung. An dieser Stelle möchte ich auf den Beitrag von Thomas Fuchs verweisen, der einen seiner drei Aspekte von Neuem mit „Das Neue in der Interaktion“ betitelt. Dort spricht er u.a. vom Aufeinandertreffen zweier Perspektiven und der „Ambivalenz von Verstehen und Nicht-Verstehen [als] Voraussetzung für die Emergenz neuer Ideen im Dialog“. Der neue Sinn entwickelt sich „aus dem ‚Zwischen‘, das beide übergreift“ (S. 83), einer dritten Perspektive, könnte man sagen. Welche Rolle spielen Blickwinkel im kreativen Prozess, Perspektiven auf die Macht der Perspektive sozusagen, das wird von Joachim Funke dekliniert, was ihn am Schluss zu dem Vorschlag bringt, statt von „Change Management“ besser von „Perspektiven Management“ zu sprechen (S. 194).
Bei allen Versuchen, das Neue in den Griff zu bekommen, ist die grundlegende Unterscheidung zwischen dem „radikal Neuen“ und dem „relativen Neuen“ hilfreich, die Fischer in seinem Auftaktbeitrag einführt. Solange das Neue auf (Re)Kombinationen aus bisherigen Elementen, deren Eigenschaften und Relationen rückführbar ist, bezeichnet er es als „relativ“ und subsumiert es unter dem Begriff „techné“, denn diese Qualität von neu ist konstruierbar und ist der Art von Genius, der in der Ingenieurkunst wohnt. Die überraschende Qualität, als diejenige Art von neu, mit der man nicht rechnen kann, subsumiert er unter „poiésis“. Fischer schreibt dazu: „Wir haben Neues, das auf Ausgangsbedingungen reduzierbar ist, und Neues, das nicht auf vorhandene bzw. bekannte Ausgangselemente zu reduzieren ist. Bei letzterem spricht man von Emergenz, dem unvorhersehbar, überraschend Neuen“.
Mit diesen beiden Arten ist der Logiker herausgefordert, denn wenn er das radikal Neue erklären könnte, dann wäre er ja wieder beim relativ Neuen gelandet. Hiernach erscheint das radikal Neue unlogisch, „das widerspricht allerdings unserer Intuition, die uns glauben lässt, neue Gedanken zur Welt bringen zu können“ (S. 15). Und so gibt es für „Prozess und Erklärung des Neuen“ keine Auflösung, sondern es bleibt vielleicht ein „Betriebsgeheimnis“, das Fischer fragend so formuliert: „Spiegeln die paradoxen Facetten, die jeder Erklärung des kreativen Prozesses anhaften, dessen prinzipielle Unbestimmbarkeit?“ und: „Müssen wir uns mit Metaphern wie … dem göttlichen Funken, dem Geistesblitz, … zufrieden geben?“. Aber eine Abgrenzung gelingt ihm zwischen Wissen und Kreativität sehr klar, wenn er schreibt (S. 15): „Eines können wir sicher sagen, den Ursprung kreativer Akte können wir nicht wissen, wenn wir Wissen als Erzeugungswissen verstehen.“
Schließlich assoziieren wir das Neue sekundenschnell mit Wissen und dem Fortschritt, mit Forschung und Entwicklung sowie mit Laboren und Universitäten. Wobei es das Neue, wie Josef Mitterer kritisch anmerkt, gerade dort schwer hat, „wo es am ehesten zuhause sein sollte: in den Institutionen der Bildung“ (S. 25). Denn „eine Tendenz zur Verhinderung des Neuen setzt bereits mit der Erziehung ein“, weil das weitergegeben wird, was sich bewährt hat, was „wahrer Konsens“, was Wert geworden ist, so dass es in Bildungseinrichtungen „um Übereinstimmung mit dem Wissen [geht], das der Vorgesetzte schon hat und eine Abweichung vom status quo dieses Wissens sanktioniert [wird].“ Traditionelle Unternehmensstrukturen funktionieren häufig in gleicher Weise, weshalb das Neue spezieller Schutzräume bedarf, in Unternehmen etwa die Abteilung „F&E“ oder eine „Innovations-GmbH“ in einem Konzern. Wenn jedoch der Ur-Bildungsraum des Neuen die Alma Mater ist, die Gebärmutter des Intellekts, dann erscheint es für „akademische Qualifikationsarbeiten“ höchst fragwürdig, wenn „das Wissen from now on [] auf der Basis von Wissen so far beurteilt [wird]“ (S. 27) – und, möchte ich hinzufügen, dem Ganzen noch Exzellenz-Programme übergestülpt werden, also Konzepte, die sich in solchen Produktionsprozessen bewährt haben, die besonders von Routine und Wiederholung geprägt sind (Stichwort QM, Qualitätsmanagement).
Hier schon möchte ich eine Brücke schlagen zu Francesca Rigottis Beitrag „Wie ein Kind kommt Neues in die Welt“, denn es braucht hier wie dort eine separate Umwelt, den Schutzraum, eine andere Art der Versorgung – und damit gelten auch andere Regeln. Das Erkenntnisideal Wahrheit, das die Bildungslandschaft prägt, ist insofern nämlich paradox, als es zu einer weiteren „Verfestigung des status quo“ beiträgt, was nach Einschätzung von Mitterer schon durch „das gebräuchliche Vokabular in den Wissenschaften“ (S. 28) gegeben ist. Bei diesen „Setzungen im Voraus der wissenschaftlichen Diskurse“, die er als „dualistisches Vokabular“ bezeichnet – z.B. „bestehen, … , feststellen, konstatieren, entstehen, Sachverhalt, Gegenstand, …“ – geht es darum, „den Stand der Dinge gegen Veränderungen“ zu „stützen“ (zu schützen ließe sich auch sagen). Und der Philosoph Mitterer, der die Ansicht vertritt, dass „Philosophie eine Argumentationstechnik ist“ bei der es um „Transparenz und nicht um Transzendenz [geht]“, bleibt der Sprache auf der Spur, wenn er in den Wissensmedien folgende Unterschiedsmarkierungen zwischen alt und neu ent-deckt: Etwas ist anders „als angenommen“, „als gedacht“, „als bisher geglaubt“ u.a. (S. 30). Auch wenn die neue Auffassung ebenso eine Annahme ist, wie die bisherige („wir glauben zu wissen“), verliert durch die Ankunft des Neuen das Bisherige seinen „Realitätsstatus“: „Statt von einer Personalisierung der überholten Auffassung können wir auch von einer De-Realisierung sprechen“ (Mitterer, S. 31). Was in den Wissenschaften so funktioniert, klappt bei den Wahrheit suchenden Philosophen nicht: es „bleiben in der Philosophie Texte aktuell, gleichgültig ob sie vor mehr als zweitausend Jahren geschrieben wurden oder erst jüngst erschienen sind. Es gibt zwar wechselnde Moden, aber keinen Fortschritt.“ (S. 32). Und die Moden – deren Rolle explizit von Elena Esposito untersucht wird, doch dazu später – Moden gibt es in den Wissenschaften auch – erinnert sei an Bio, Nano, Neuro – denn, so Mitterer: „Die Wissenschaft bedient sich, wenn auch unreflektiert, der argumentativen Methoden und Techniken der Philosophie“ (S. 33).
Umgekehrt gilt sicherlich auch, dass die Humanwissenschaften (wie es heute neu heißt statt alt „Geisteswissenschaften“) beim Reflektieren und beim Philosophieren, beim Versuch der Objektivierung des Subjektiven, den wissenschaffenden Operatoren-Kasten nutzen (Statistik, Datentechnik, Visualisierung etc.), der sich zur Analyse und Struktursuche in den Objekt-Wissenschaften bewährt hat. Eine Subjekt-Wissenschaft kann es in meinem Denken nicht geben, sondern lediglich das Subjekt kann in den Fokus der Objekt-Wissenschaft gelangen (was in der Tat der Fall ist), weil das lebende Individuum ein Phänomenträger des Neuen, der Schöpfung ist (Subjekt eben) – und daher ebenso wie diese nur begrenzt (also in Teilen) fassbar, dadurch beschreibbar und hierüber schließlich objektivierbar ist.
Diesen Versuch der Fassung unternimmt Karl H. Müller in seinem Aufsatz „Die Grammatik des Neuen“, die ihn zu „fünf Komponenten oder Bausteinen“ führt, denn „die Entstehung des Neuen vollzieht sich im Kleinen wie im Großen nach sehr ähnlichen Rezepturen“, schreibt er – und in unterschiedlichen Bereichen, möchte ich ergänzen – wobei aus meiner Sicht das Wort Prozedur an dieser Stelle besser stünde, gerade weil Müller Bezüge zur Datentechnik und Biologie herstellt (Turing-Maschine; DNS-Reproduktion). Mit einer bewussten Anleihe bei Heinz von Foerster schreibt er am Ende: „Das Neue als Ergebnis geschlossen-rekursiven Operierens bildet stets ein lokales Eigenobjekt.“, was für mich bedeutet, das Neue ist erst als solches fassbar, wenn etwas bis dato Unbestimmtes auf einer Ebene operational geschlossen und dadurch bei der nächst(höher)en Ebene angeschlossen werden kann. Das ist der letzte in der Reihe seiner fünf Bausteine, dieser „Operations- und Interaktionsmodus“; beginnen muss alles mit einem U-Turn quasi, dem „radikal-konstruktivistischen Turn“. Wenn dann seitens der „Produzenten des Neuen“ die notwendigen (U-Turn!) Grundoperationen (z.B. Identifizieren, Entfernen, Ersetzen) und die „kognitiven Karten“ und so etwas wie disziplinenunabhängige Subroutinen zur Verfügung stehen – Müller verweist hier einerseits auf „die strukturelle Isomorphie“ hinsichtlich des Neuen bei Joseph A. Schumpeter und Thomas Kuhn und „andererseits auf die langsame Herausbildung ein es Sets von selbstähnlichen Schlüsselfaktoren des Neuen“ (S. 48), was mich an archetypische Muster erinnert (vgl. C.G. Jung in der Psychologie oder Escher in der Kunst oder Attraktoren in der Chaostheorie) – wenn also diese fünf Komponenten vorhanden sind, dann liegt das höchste Potenzial für radikale wissenschaftliche Durchbrüche vor. Dieses „Potenzial für radikale Durchbrüche“ illustriert er, in dem er die Ko-Relation zwischen „Potenzial für Kommunikation und Integration“ und „Grade kognitiver Diversität“ in einem Diagramm anschaulich macht. Als Beleg für diesen Zusammenhang und den Ablauf dieser Syntax für Neues schildert er zwei Fälle, die zu Nobelpreisen führten, die Spieltheorie zum einen, die Zellbiologie zum anderen, sowie als drittes Beispiel den Wiener Kreis. Gerade dort sind in den 30er-Jahren unter der „Idee einer einheitswissenschaftlichen Sprache“ hoch kreative Verschiebungen und Anwendungen gelungen. Die Leistungsfähigkeit einer solchen Inter-Sprache sind enorm, und ich glaube, dass das, was damals als Folge zu beobachten war, auch heute wieder greifen könnte, wenn Bildung wagen würden, die Expertenfalle oder den Hochsicherheitstrakt Wissen durchlässiger zu gestalten oder besser noch: mit dezidierten intersprachlichen Schnittstellen auszurüsten. Kriz beschreibt das, was ich kurz Expertenproblem oder auch Erfolgsfalle nenne, so: „Die Behinderung von Kreativität liegen somit im Erfolg unserer Denkgewohnheiten und Weltbeschreibungen“ (S. 200). Kreativ dagegenstellen lassen sich die positiven Aus(sen)wirkungen einer Disziplinen-integrierenden Sprache (statt einer Disziplinen-ausgrenzenden wie Fachjargons), die Müller für den Wiener Kreis so beschreibt: „Im Speziellen wurde diese physikalische Raum-Zeit-Sprache in die Bereiche der Geisteswissenschaften oder der Psychologie transferiert und sorgte dort für starke Gegenreaktionen seitens geisteswissenschaftlich inspirierter Psychologen“ (S. 57). Da in der Moderne und noch mehr in der Postmoderne durch deren wachsende Fragmentierung die Zahl der Zwischenräume zugenommen hat, müsste es demnach genügend Räume geben, um „lokale Eigenobjekte“ zu bilden, die Neues ergeben können (S. 58) – wenn nicht die Zeit-Räume so eng gezogen würden.
Über die postmoderne Vielfalt, die ja auch in Verbindung mit Neuem steht, ist ja schon viel geschrieben worden. Günther Ortmann verweist auf Adorno und dessen „Kultus des Neuen“ und spricht (nicht zum ersten Mal) von der „Innovationssucht der Hypermoderne“, genauer gesagt von „einer sich überstürzenden, von Überbietungshoffnungen und –nötigungen verführten und gehetzten Hypermoderne“, die getrieben wird „von einem Verlangen nach diesem Neuem, das alle Züge einer Sucht trägt“ (S. 171). Und weiter: „Die Nötigung ist eine gesellschaftliche, zumal ökonomische, aber sie wird getragen von neugierigen Individuen, deren Neu-Gier zum großen Teil Resultante eben jener Nötigung ist“. Bei all den überbordenden Wellen des Neuen laufen wir Gefahr, dessen Sinn aus den Augen zu verlieren, weil wir dessen Wert ja gemäß dem Arrowschen Informationsparadox erst beurteilen können, „nachdem wir es erhalten haben“ (S. 174). Trotzdem braucht es Sinn, möchte man sagen, oder vielleicht genau deswegen – weniger, damit Zukunft möglich wird, sondern vielmehr, dass Zukunftsfähigkeit bei jedem Sinn-orientierten System entstehen kann. Ortmann zitiert das „Z-Paradox“ von Georg Simonis, das Paradox der Zukunftsfähigkeit, das sagt: „Da wir die Zukunft nicht kennen können, können wir aber, kurz gesagt, auch nicht wissen, was uns Zukunftsfähigkeit beschert“, und dieser Umstand kann „in Zeiten hypermoderner Beschleunigungen“ besonders fatale Auswirkungen haben, weil das Zeitverhalten des Systems und damit die Re-Aktionszeiten sehr kurz geworden sind – während wir Menschen immer noch (fast) die gleichen sind. Mit anderen Worten könnte man sagen: die Zeitkonstanten der Umwelten (Arbeitgeber, Märkte, Gesellschaft etc.) haben die Zeitkonstante eines Menschenlebens (sie ist ja eher doppelt so groß wie vor hundert Jahren) überholt und liegen inzwischen deutlich darunter. Dass stresst natürlich, auf der einen Seite – im Sinne eines Reframings könnte man auch sagen, es bietet zum ersten mal die Chance, dass wir Menschen die Folgen unseres Handelns auch erleben können; die Aus(sen)wirkungen unserer Entscheidungen sind zunehmend zeitnaher.
Dadurch wird das Neue immer kurzlebiger. Im Bereich der Mode war das schon lange zu beobachten. Während früher Modewellen eine paar Jahre gingen und dann von einer „neuen Mode“ abgelöst wurden, waren es irgendwann Jahresrhythmen. Während Frau und Mann heute den Eindruck hat, dass bisherigen Moden gleichzeitig unterwegs sind und auch so bedient bzw. bewirtschaftet werden. So hat die Soziologien Elena Esposito eine Theorie der Mode entwickelt, anhand derer sie sich mit dem Phänomen von alt und neu auseinandersetzt. Eingangs schreibt sie: „Das Neue ist und bleibt ein Rätsel …“ und weiter: „denn wenn es echt ist, negiert es sich selbst.“ (S. 133). Sie verweist auf Luhmann, der Neuheit als „ontologisches Unding“ bezeichnete und schreibt auf der Folgeseite: „Die Unterscheidung zwischen alt und neu ist im System, nicht in der Welt, und zeigt wie das System die eigenen Operationen organisiert. […] Das Neue ,an sich’ ist inhaltsleer“. Es erfordert ein Verschieben der Perspektive, denn das Neue „da draußen“ wird man nie finden können. „Das Neue betrifft dagegen das Verhältnis des Systems zu sich selbst“, denn „Neuheit wird sich als eine der beiden Seiten der Unterscheidung zwischen etwas zeigen, das als neu qualifiziert und etwas, das gleichzeitig und aus denselben Gründen alt wird“ (S. 135). Und warum votieren wir für die eine oder die andere Seite?, fragt sie. In unserer Gesellschaft gab es sehr lange Zeit eine negative Bewertung für das Neue. Erst im 17. Jahrhundert war die Zeit des Übergangs. Ab dieser Zeit begann Neuheit „zu einem Wert an sich“ zu werden. Und es gibt eine Verbindung zu den Massenmedien, damals (Buchdruck) wie heute (Fernsehen, Internet). Veränderung wir normal, weil erwartet: „Man lernt damit zu rechnen, dass morgen etwas Neues gesagt wird“ (S. 137). Und: „Das Phänomen, das am deutlichsten diese drastische Haltungsänderung zeigt, ist die Mode, die in der heute bekannten Form vor Ende des 16. Jahrhunderts nicht existierte.“ Und schon vor zehn Jahren schrieb Esposito: „Die Mode ist die Apotheose und die Aufwertung der Vergänglichkeit und ist deshalb fähig, alle zu binden und eine gemeinsame Referenz zu bilden.“ Es kommt also nach Luhmann der Zeitpunkt, wo „Stabilität auf Variation und Destabilisierung“ beruht und heute wissen wir: das einzige, womit wir sicher rechnen können, ist Veränderung. Wir sind also zur Gänze im totalen Mode-Modus angekommen, könnte Frau wie Mann das Heute beschreiben. Jedoch, es gilt auch: „Wer sich ständig ändert, tut immer dasselbe“ (S. 138). Deshalb bräuchten wir „eine höhere Unterscheidungsfähigkeit, die erlaubte, die Einheit der Unterscheidung alt/neu zu beobachten und aus der fruchtlosen Oszillation zwischen beiden Seiten herauszukommen“. Dabei ent-scheidend ist es, zu Handeln, durchaus und gerade auf der Basis des Nicht-Wissen-Könnens, was kommt. Wichtiger ist dann, zwischen all dem, was kommt und was sich eh nicht kontrollieren lässt, zu selektieren. Esposito schreibt: „Die Welt ist unvorhersehbar, aber sie hat eine Orientierung.“ Denn unser Handeln ist deshalb so bedeutsam, weil „die Zukunft […] aus dem wählen wird, was wir [tun].“ (S. 142). Und menschliches Handeln basiert maßgeblich auf den individuellen „Sinn-Attraktoren“ (Kriz), von Foerster spricht von „Eigen Values“ und ich rede schlicht von „Eigen-Werten“ (Riehle, 2012).
Zu dem eben beschriebenen Zusammenspiel neu/alt passt auch die Aussage Brodbecks: „Das Neue ist nur neu in Differenz zum Alten“ (S. 64). Dort schreibt er auch: „Neu und alt treten stets zusammen auf. Wenn in einem System ein neues Ereignis erscheint, dann muss dafür … ein Raum bestehen. […] Dieser Raum kann allerdings auch geschaffen werden durch das Auftreten des Neuen“. Es scheint, als bräuchte das Neue freien Raum; manchmal sogar so sehr, dass es selbstständig hindurch setzt, fortschreitet, und sich damit Raum verschafft. Welchen Raum wir welchen Wert geben, mehr dem Alten oder mehr dem neuen, das wird im individuellen System entschieden, siehe Esposito. Und statt vom „Wert des Alten“ möchte ich lieber vom Wert des Tradierten sprechen, denn erst in dem Moment, wo wir die Bezeichnung „neu“ für etwas einführen, wird automatisch etwas anderes zu „alt“ – und damit eventuell „zu alt“. Auf diesen Umstand weißt Wolf Dieter Enkelmann hin, wenn er schreibt: „Neues auch neu zu nennen, ist ein Urteil“ (S. 94). Der Wert des Tradierten ist die Stabilisierung eines komplexen sozialen bzw. psychischen Gebildes, sei es nun Organisation, Team, Familie oder der einzelne Mensch. Hier sei auf das Konzept des „Sinnattraktors“ von Jürgen Kriz verwiesen, der das Konzept der „Seltsamen Attraktoren“ bei der Beschreibung komplexer Systeme auf menschliche Lebenswelten übertragen hat (vgl. Kritz, S. 203; Stichworte Chaostheorie bzw. Synergetik, siehe auch Haken/Schiepek „Synergetik in der Psychologie“, Hogrefe 2010).
Die Krux des Tradierten ist demnach die „Über-Stabilität“ (vgl. Kritz, S. 199), was zugleich die Chance für Neues ist, denn was überreif ist, fällt quasi vom Baum bzw. aus dem System heraus. Reck nennt das kurz: „Innovation ist das Strukturmerkmal einer Krise“ (S. 97). Krisen als Chance zu begreifen, ist nicht erst durch die Beraterwelt entstanden, sondern ein alte asiatische Weisheit. Jedoch denke ich an dieser Stelle ein „erst“, nämlich vielfach wird erst in der Krise der Ideen- und Innovationspool aufgesucht bzw. das latente Lösungspotenzial angetriggert, egal welche Art von lebendem System wir betrachten. „Not macht erfinderisch“, ist das passende Sprichwort, Kreativität wird also zur Notwendigkeit für „Not-Wendigkeit“.
Als Wendigkeit in der Not könnte auch die Ausbildung von Schizophrenie verstanden werden, wenn der von Bateson eingeführte Double Bind jene Struktur formuliert, die eine Unterscheidungsfähigkeit zwischen verschiedenen logischen Ebenen von Kommunikation paralysiert (Fischer, S. 162). „Die Person ist in einer paradoxen Situation gefangen, in der eine Botschaft die andere aufhebt“, schreibt Fischer weiter, und „es gibt mindestens zwei widerstreitende Regeln, nach denen in einem Sprachspiel gehandelt werden kann bzw. muss, so dass ein solches Sprachspiel verwirrt bzw. nicht befolgt werden kann“. Für ein Lebewesen ist es keineswegs einfach, widersinnige bzw. widerstreitende Regeln, die es in eine Spaltung gebracht haben, wieder in ein Fach zu bringen, mit anderen Worten: eigene, abgespaltene Anteile in einem Ich unterzubringen, also sein Sich zu reintegrieren. Unter Bezugnahme auf Arthur Koestler und den von ihm im Zusammenhang des „Act of Creation“ geprägten Begriff der „Bisoziation“, spricht Fischer von „Übergangszuständen“, die durch „schöpferische Labilität […] oder anders gesagt: eine kreative Instabilität“, durch „Doppeldeutigkeit und Ambivalenz“ gekennzeichnet sind. Aus solchen paradoxen Gefängnissen zu entkommen, wie Double Binds sie konstruieren, erfordert solch spezielle Übergangszustände, die Fischer „Double Mind“ nennt; anders gesagt, es gilt solche psychisch-soziale Lagen zu schaffen, die „Neues aus dem Widersinnigen“ entstehen lassen, damit Widersinniges wieder sinnig werden kann.
Solch besonderen „Zustände“ in Verbindung mit Neuem – wenn diese von kurzer Dauer sind, manchmal auch „Momente“ genannt – werden an zwei weiteren Stellen erwähnt. Zum einen bei Thomas Fuchs, wenn er in seinem Beitrag „In statu nascendi“ davon spricht, dass z.B. bei Wissenschaftlern eine „Regression in eine vorrationale Phase […] ein schöpferisches Moment in sich [birgt]“ (S. 80), während etwa in der therapeutischen Interaktion „eben diese Ambivalenz von Verstehen und Nicht-Verstehen […] die Voraussetzung für die Emergenz neuer Ideen im Dialog [ist]“ (S.83). Als Beispiel führt er die von Daniel Stern untersuchten „Gegenwartsmomente“ an, die er „Jetzt-Momente“ nennt, die besondere Wende(zeit)punkte in einem Therapieverlauf darstellen, an den sich Patienten noch Jahre später genau erinnern. Beides möchte ich in Zusammenhang mit den von Jon Elster beschriebenen Zuständen stellen, die Ortmann als welche beschreibt, „die man nicht direkt intendieren kann“ und mit „Elster-Zustände“ bezeichnet (S. 177). „Innovation ist auf Umwege und auf Räume für Umwege angewiesen“, schreibt er weiter, was ich mit folgendem Bild assoziiere: man kann das Neue nicht kontrollieren, sondern man kann ihm maximal eine Falle stellen, so dass der Ein-Fall dort zu Fall kommt, damit ich seiner dann zu-fällig habhaft werden kann – was Achtsamkeit und Nähe voraussetzt und letztlich „Kairos“ meint. Wer also auf den Einfall, die zündete Idee irgendwo und irgendwie wartet, ist kein Kreativer, sondern ein Glückspieler. Dieser Unterschied ist auch in der griechischen Mythologie abgebildet, wie Klaus Mainzer herausstellt, die blinde und launenhafte Glücksgöttin Tyche (das tückische Glück des Spielers) einerseits und den den Gott der günstigen Gelegenheit Kairos („die Gelegenheit beim Schopfe packen“).
Auf „Kairos“ als Qualität oder Fähigkeit, die im Zusammenhang mit dem Neuen steht, weisen weitere Autoren explizit hin (die sich dank des Stichwortverzeichnisses auch leicht finden lassen). Denn das (positive) Neue will auch erwartet sein, im Gegensatz zum (negativen) Neuen, das über uns hereinbricht. Hier bietet Birger P. Priddat in seinem Beitrag „Entscheiden, Erwarten, Nichtwissen“ eine äußerst interessante Perspektive auf „Entscheidung unter Risiko“, indem er eine dritte Position einführt: häufig sind wir in Situationen, wo wir uns für „p“ entscheiden sollen oder für „nicht-p“, und indem wir das „stattdessen“ nicht weiter ausmalen, „werden wir erst entscheidungsfähig“ (S. 122) – also – genau dadurch (hier verweist er auf Wittgensteins „Statt zu wissen oder nur zu glauben, glauben wir zu wissen“). Wir meinen uns auf konkrete Erfahrungen bzw. Häufigkeitserinnerungen zu beziehen, tatsächlich sind es aber nur Meta-Erfahrungen, denn wir erinnern uns mehr der Erfolge als der Nicht-Erfolge – oder haben Sie tatsächlich mehr Urlaubsfotos, wo Regen darauf zu sehen ist (In der Wissenschaft läuft dieses Phänomen unter „Bias-Error“)? Wir simulieren also Häufigkeiten zur Reduktion von Unsicherheit, die „streng genommen – keine Reduktion von Komplexität, sondern eine Simulation einer Komplexitätsreduktion [ist], damit wir entscheidungsfähig werden“, schreibt er weiter. Er unterscheidet den Möglichkeitsraum in ein „denkmöglich“ und ein „verwirklichbar“, wobei nur das letztgenannte das Wahrscheinliche ist und damit einer Wahrscheinlichkeit unterliegt. Und das Unerwartete – „das jäh Einbrechende ist reine Gegenwärtigkeit. Es hat nie eine Zukunft“ (S. 123) – liegt eben nicht in diesem Erwartungsraum. Dort liegen aber die Nichteintritte, also die „Nicht-p“ neben den „p“. Denn „unerwartete Ereignisse sind out of decision: un-möglich“ (S. 125) und führen daher „de facto [zu] eine[r] Revison von Gegenwart bzw. aktueller Wirklichkeit“ (S. 124); zu einer Aktualisierung von Präsenz, denke ich auch. Das greift Priddat in seinem dritten Abschnitt, in dem es um Identitätsbildung geht, mit dem Begriff „existenziales Momentum“ auf. Im Zusammenhang von „Wissen“, das einzig durch Handeln generierbar ist, spricht er – mit Bezug auf Derrida („… dann muss ich von meiner Entscheidung getroffen werden“) – von einem „Dreischritt“, den ich in verkürzter Form so wiedergebe: (a) wir glauben zu wissen (b) das Unerwartete „decouvriert“ unser Nicht-Wissen, um uns (c) in Form einer „Rekonstellation der Situation präsent zu werden“ (S. 126). Oder um es mit ganz einfachen Worten zu sagen: wir kommen als Besserwisser daher, das Unerwartete schüttelt uns durch und im Fall von Weiterentwicklung konfigurieren wir unser System mit etwas Neuem mehr oder weniger neu. Damit haben wir unser situatives Verhaltensrepertoire bzw. unser Mind-Setting erweitert. Die Akzeptanz dessen, was uns so durchschüttelt, ist im wahrsten Sinne des Wortes ent-scheidend für die Weiterentwicklung von uns als Person, als Team, als Organisation. Auf diesen Umstand, dass man sich für die Akzeptanz entscheiden muss, weist Priddat besonders hin, und bezeichnet sie als „nötig für die De-Fiktionalisierung, d.h. für die Enttäuschung der Enttäuschung“; „die Annahme der Differenz zwischen dem, was wir erwarten und dem, was unerwartet neu erscheint, [ist] ein zweite Entscheidung“ (S. 130) – in diesem Sinne eine not-wendige Voraussetzung. „Das Unmöglich wird zur Chance des neuen Möglichen“, jedoch „[erscheint] das Neue […] nicht als freundliche Erweiterung der Welt, sondern in einem widerständigen Akt“, d.h. es bedarf einer erheblichen Anstrengung und ist häufig alles andere als „leicht“ (wie manche Kreativitäts- und Veränderungsgurus versuchen zu suggerieren). Im Gegensatz zu Entscheidungsprozessen fühlen „Fluchten“ sich leicht an – es sei denn man hat sich dazu entschieden.
Dieser Aspekt des Langwierigen bei der Schöpfung von Neuem ist auch ein zentraler Punkt bei dem Aufsatz von Francesca Rigotti, worin sie eine „Philosophie des Gebärens“ umreißt, die bei der sokratischen Methode, der Mäeutik einsetzt (nach Platon Geburtshilfe für Männer und deren gebärdenden Seele Sorgen; S. 110). Sie nimmt Sokrates Mutter, die Hebamme („maia“) Phainarete, als Metapher für folgendes Phänomen: „Die Philosophen interessiert nicht mehr so sehr der Quellbereich …, Phainarete, als vielmehr der Zielbereich …, Sokrates“. Und diese überproportionale Orientierung am Ergebnis im Gegensatz zur Orientierung an seinem Zustandekommen trifft in unserer Zeit auf ganz viele Bereiche zu, sei es Unternehmen, sei es Bildung, sei es Politik. Und die Geschichte erzählt eine „merkwürdige Geschichte“, nämlich dass Frauen wenig oder gar nichts zu tun hätten mit Kreation und Produktion von Ideen und beinahe nicht einmal mit der Zeugung und Reproduktion“, was auf Aristoteles zurückzuführen ist, „der keinerlei weiblichen Samen annahm und damit jegliche Form der Mitwirkung der Frau bei der Empfängnis leugnete“ (S. 113). Das aristotelische Denken als Wurzel der abendländischen Kultur, das die gesamte Naturwissenschaft prägte, hat damit „die Eliminierung der einen Hauptperson des Gebärens: der Mutter“ zur Folge. Lediglich in der Beschreibung geistiger Kreativität bildet sich das „Vokabular der Fortpflanzung“ an zahlreichen Stellen ab, wie Rigotti auch an mehreren Wortvergleichen deutsch/englisch deutlich macht (S. 115). Ihre „Entbindungsphilosophie“ will sie auch klar abgegrenzt sehen von der „Philosophie der Geburt“ (Arendt, Saner, Sloterdjik), um sie dieser zur Seite stellen als inspirierendes Modell für Kreativität: will man Lösungen für ein Problem herbeiführen, „dann muss man die Wichtigkeit der Schwangerschaft anerkennen, die im Dunkeln, in Mühsal und Schwere stattfindet, und man muss aufhören zu glauben, die Inspiration komme wie ein leichtes Lüftchen“ (S. 118). Und in dem sie schreibt, „Es ist nicht leicht, für das Neue, zur Welt zu kommen“, teilt sie damit den einen Gedanken von Priddat (s.o.), dem man(n) seinen anderen, nämlich den der Entscheidung, hinzufügen möchte: der Möglichkeitsraum für eine (physische oder geistige) Schwangerschaft ist zu ent-scheiden – andernfalls kann sie als das Unerwartete hereinbrechen. Dann gilt Priddats starker Satz für das Un-Mögliche: „das unerwartete Ereignis ist die Ursache für die Nicht-Geltung der Entscheidung – oder genauer: der Ent-Geltung der Entscheidung“ (S. 124).
Und das Kreative will auch bearbeitet, gebildet sein, denn schließlich gilt es etwas in die Welt tragen; dann erst kann es das Label ‚neu‘ bekommen – alles andere gibt es zu Hauf; das hat dann das Label ‚Unvollendetes‘, mit anderen Worten das Quasi-Neue, nämlich das Nicht-Neu-Gewordene im Sinne von nicht wirksam geworden in einem gegenwärtigen Kontext. Und die Fluten des Neuen stellen hier auch eine Gefahr dar. Aber wie Elena Esposito sagt: Das Neue an sich ist inhaltsleer. Die Unterscheidung liegt in uns, nicht irgendwo da draußen. Dazu passt der umgekehrte Satz von Enkelmann sehr gut, dem ich sehr viel Bedeutung beimesse: „Wie kommt wieder Welt ins Neue“ (S. 95). Wir entscheiden selbst über die „Füllung“, also die Inhalte und damit auch über die Er-Füllung.
Und analoger Weise gilt das auch für ein Buch. Wer sich daher auf das vorliegende Neu-Buch einlassen kann, bringt seine Welt ins Neue, und wird in der Breite wie in der Tiefe reichlich belohnt, wenn ich meine Erfahrung an dieser Stelle mal verallgemeinern darf. Denn mich hat die eingangs erwähnte „Landkarte, die uns durch die Landschaft des Neuen führt“ außergewöhnlich inspiriert, d.h. das Lesen des Buchs hat in mir einen deutlichen Unterschied erzeugt gegenüber vorher, es ist für mich damit nach Bateson zu Information geworden. Und weil die eigentliche Rezension nicht der Rezensent macht, sondern Sie, liebe Leserin, lieber Leser, könnte das Zusammenspiel von Recedere und Procedere, das Fischer zu Beginn beschreibt, wahrscheinlich auch bei Ihnen Früchte tragen. Angenommen das neue Buch über das Neue würde auch bei Ihnen zu einer „Aktualisierung des Möglichen“ führen, dann wäre der Tanz, zu dem ich Sie immer noch auffordern möchte, doch gelungen. Und ein kreatives Ende ist immer ein Anfang – denn mein Neues über das Neu-Buch endet mit etwas sehr Altem, nämlich mit einem wunderbaren Platon-Zitat daraus, dass es viel deutlicher, weil ästhetischer ausdrückt: „Denn der Anfang ist ein Gott, solange er unter den Menschen weilt, rettet er alles“.
Hans Rudi Fischer (Hg.)
Wie kommt Neues in die Welt?
Phantasie, Intuition und der Ursprung von Kreativität
224 Seiten, gebunden
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-942393-72-0
Preis: 24,95 €
Verlagsinformation:
Was stößt kreative Prozesse in Personen, in den Wissenschaften oder Gesellschaften an? Wie spielen Phantasie und Vernunft bei der Erzeugung des Neuen zusammen? Was treibt Entwicklungen, Innovationen und Denkrevolutionen an? Lässt sich Kreativität herstellen oder bedarf es eines »göttlichen Funkens«, eines Geniestreiches oder Geistesblitzes? Was verbirgt sich hinter dem schillernden Begriff des Neuen und den Paradoxien der Kreativität?
Die Beiträge dieses Bandes umkreisen den modus operandi des Neuen und fragen nach der Logik kreativer Prozesse. International renommierte Kreativitätsforscher aus Psychologie, Philosophie, Systemtheorie und Ökonomie reflektieren die Leitfrage dieses Buches, um dem Betriebsgeheimnis schöpferischer Prozesse auf die Spur zu kommen.
Im Mittelpunkt steht der Dialog über ein besseres Verständnis der begrifflichen, psychologischen und sozialen Zusammenhänge von Originalität, Kreativität und Innovationsfähigkeit in Wissenschaft und Kunst. Ein facettenreiches Werk, das den Tücken des Neuen mit alter Begriffsschärfe auf den Pelz rückt.
Inhalt:
Hans Rudi Fischer: Das Neue als Sprachspiel. Prozedur zur Einführung
Josef Mitterer: Die Paradoxien des Fortschritts. Zum Stand der Dinge im Fluss
Klaus Mainzer: Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt
Karl H. Müller: Die Grammatik des Neuen
Karl-Heinz Brodbeck: Die Schattenseiten der Kreativität im ökonomischen Prozess
Thomas Fuchs: In statu nascendi. Philosophische Überlegungen zur Entstehung des Neuen
Wolf Dieter Enkelmann: Who wants Yesterday’s Papers? Zur Philosophie des Neuen
Hans Ulrich Reck: Tücken mit dem Neuen. Betrachtungen zu einem Topos in/zwischen Künsten und Wissenschaften
Francesca Rigotti: Wie ein Kind kommt Neues in die Welt. Ein philosophisches Märchen für Erwachsene
Birger Priddat: Entscheiden, Erwarten, Nichtwissen. Über das Neue als das unerwartete Andere
Elena Esposito: Wie viel Altes braucht das Neue?
Hans Rudi Fischer: Positive Unvernunft als Quelle des Neuen. Unterwegs im Paradoxen
Günther Ortmann: Neues, das uns zufällt. Über Regeln, Routinen, Irritationen, Serendipity und Abduktion
Joachim Funke: Neues durch Wechsel der Perspektive
Jürgen Kriz: Kreativität und Intuition aus systemischer Sicht
Über den Herausgeber:
Hans Rudi Fischer, Dr. phil., Philosoph und Psychologe. Von 1988-1991 wiss. Mitarbeiter der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg, Abtl. Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie. Lehraufträge an in- und ausländischen Universitäten (Philosophie, Psychologie, Coaching). Mitgründer (1990) und derzeitiger Vorsitzender des Heidelberger Instituts für systemische Forschung. Geschäftsführender Gesellschafter des Zentrums für systemische Forschung und Beratung GmbH, Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Systemtheorie, Kognitionspsychologie, Logik der Denkprozesse, paralogisches Denken, Metaphernforschung, systemisches Management. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze. Seit 2002 Mitherausgeber der Zeitschrift Familiendynamik (Klett-Cotta).