Im Klett-Cotta-Verlag hat Elisabeth Wagner, Psychiaterin aus Wien mit u.a. systemischer Ausbildung, ein „Praxisbuch Systemische Therapie“ veröffentlicht, das sich vor allem an bereits in klinischen Kontexten tätige ärztliche, psychiatrische und psychologische Kolleginnen und Kollegen wendet, die sich in Systemischer Therapie qualifizieren wollen. Martin Rufer, der heute seinen 71. Geburtstag feiert (herzlichen Glückwunsch!), hat das Buch gelesen und für systemagazin rezensiert.
Martin Rufer, Bern:
Was da in den letzten Jahren nicht alles an Lehr-, Lern und Handbüchern über Theorie und Praxis systemischer Therapie geschrieben worden ist. Auch ich selber will mich davon (synergetische Theorie und Praxis) nicht ausnehmen (Rufer, 2013 u.2018). Dass sich nun auch Elisabeth Wagner nach Ihrem letzten, viel beachteten Buch (zusammen mit Ulrike Russinger) über „Emotionsbasierte systemische Therapie“ auch noch ganz allgemein der Systemischen Therapie zuwendet, muss gut begründet sein.
„Psychotherapie ist keine Krankenbehandlung“. Diesen Satz aus dem Munde einer Ärztin in einem Buch mit dem expliziten Hinweis auf „klinische Kontexte“ zu lesen, ist nicht selbstverständlich. Obwohl Psychotherapie keine Krankenbehandlung ist, wie Wagner mehrmals im Buch hervorstreicht, macht es Sinn, dass sie sich als erfahrene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin sowie Lehrende in Systemischer Therapie mit diesem Buch vor allem diejenigen KollegInnen erreichen und ansprechen will, die in klinischen Kontexten arbeiten. Die darin aufgeführten zahlreichen Fallbeispiele und eine „Konzeptualisierung unter synergetischer Perspektive“ (Wagner, S. 67ff) machen anschaulich, wie Wagner als Klinikerin Erfahrungen mit unterschiedlichsten psychischen Störungen gesammelt hat und dabei neben den Arbeiten von Lieb, Levold, Ludewig, Ciompi u.a. insbesondere diejenigen der Kollegen im eigenen Land (Schiepek, Grossmann u.a.) in dieses Buch mit einfliessen lässt, die sich durch synergetische Theorie und Praxis auszeichnen,. Dass „in den letzten 10 Jahren ca. 40 % aller in Wien tätigen AssistenzärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Ausbildungen in einem systemischen Curriculum“ absolviert haben, erscheint auf dem Hintergrund der Anerkennung der Systemischen Therapie in Deutschland doch ein gutes Omen. Aus Schweizer Sicht wäre selbstkritisch zu fragen, warum denn bei uns, wo die Systemische Therapie genauso lang anerkannt ist, ein solcher „Erfolg“ (in quantitativer Hinsicht) wohl nicht zu belegen wäre bzw. wie sie sich (verfahrensspezifisch) auch qualitativ und nachhaltig in klinischen Kontexten positionieren und etablieren kann…
Immer wieder bringt Wagner zum Ausdruck, dass sie eine reflektierte Grenzgängerin ist. Eine, die sich sowohl in der klassischen Psychiatrie (naiver Realismus) wie auch in der Welt des „Konstruktivismus mit dogmatischer Ablehnung jeglichen klinischen Expertenwissens“ fremd fühlt; eine, die zwischen fachärztlichem und psychotherapeutischem Handeln, zwischen psychiatrischer Diagnostik und (idiografischem) Fallverständnis ausbalancieren muss; eine also, die täglich „mäandern“ und gleichzeitig auch Entscheidungen treffen muss zwischen der Lösungs/Ressourcen- und Problem/ Störungsperspektive, der Bedeutung früher Erfahrungen (Bindungen, Traumatisierung) und sozialem Kontext sowie der „Ereignishaftigkeit spontaner psychischer Prozesse und absichtsvoller Steuerung und Beeinflussung“ …
Damit ist auch hervorgehoben, wo die Stärke und das Besondere dieses Buches liegt: im Diskurs über diese Gratwanderung, die Dilemmata, das „Sowohl als auch“ in klinischen Kontexten.
Dass dieser Weg in der Theorie, vor allem aber in der klinischen Alltagspraxis kein leichter ist, zeigt auch ihr Ringen um eine Abgrenzung zwischen psychiatrischer Erkrankung und „belastungsabhängigen psychischen Störungen“. Dass diese Unterscheidung aber auch leicht zu einem Artefakt werden kann, zeigt sich daran, dass mit dem Eintritt eines Patienten/Klienten in einen klinischen Kontext psychisches Leid fast immer Krankheitswert hat (haben muss), da es nur so auch als „krankheitswertige Störung“ abgerechnet werden kann. „Dies führt „zu einer Verzerrung in der Wahrnehmung, einem Diagnose-Bias … Als unterwünschte Folge ist mit einer Schwächung der Selbstwirksamkeitserwartungen durch die Diagnose einer ,Störung’ zu rechnen“ (S. 91). „Befremdend ist dies ja umso mehr, als „die psychiatrische Diagnose“, wie Elisabeth Wagner richtigerweise bemerkt, „das psychotherapeutische Vorgehen nicht festlegt“ (S. 270). Ein „Ausweg“ und damit m.E. Teil eines Fallverständnisses, der „selbstorganisatorisch“ aus dem Dilemma führen könnte, wäre (in alt bewährter systemtherapeutischer Tradition), Krankheit vor allem als Lösungsversuch im System zu verstehen und z.B. familiäre Bindungen als Ressourcen zu konzeptualisieren und dementsprechend kooperativ zu nutzen (vom Problem- zum Lösungssystem).
Diesbezüglich gilt es im Besonderen das Kapitel „Prozessteuerung zwischen ärztlicher und therapeutischer Identität (5 Fallvignetten“) hervorzuheben. Dass sich dabei, wie die Fallbeispiele eindrücklich illustrieren, störungsspezifisches (psychiatrisch-medikamentöses) Handeln nicht sauber von psychotherapeutischem trennen lässt, wird noch akzentuiert dadurch, dass diese Tätigkeiten schon seit Längerem nicht mehr nur berufsgruppenspezifisch gehandhabt werden können (Stichwort „fehlender Nachwuchs in der Psychiatrie“). Kritisch zu hinterfragen wäre allerdings, ob denn (und wenn ja welche?) therapeutische Techniken mit dem Schweregrad (?) der Störungssymptomatik (?) an Bedeutung gewinnen (S. 272).
Einen inhaltlichen Schwerpunkt – geschrieben im Hinblick auf die Ausbildung ärztlicher KollegInnen – bildet die Darstellung der verschiedenen, inzwischen auch im Rahmen der ST etablierten und sich neu etablierenden Techniken (vgl. dazu auch ausführlich Wagner E. & Russinger. Emotionsfokussierte systemische Therapie, 2016). Diese Ausführungen, immer gut dokumentiert in Fallbeispielen, werden abschliessend und im Hinblick auf deren Stellenwert in der Systemischen Therapie in den Kapiteln „Fallverständnis“, „Wirkverständnis und Prozesssteuerung“ sowie „Therapeutische Beziehung“ reflektiert. Auch kritische Überlegungen zum Thema „Konfrontation“ (alternativ „Zumuten“) und „Übertragung-Gegenübertragung“ (alternativ „Einladung“) sind darin eingeflochten. Dabei bleibt die Frage, was denn nun auf praktischer Ebene (!) „die typisch systemischen Vorgehensweisen in klinischen Kontexten“ sind, sozusagen das „Verfahrensspezifische“, nicht abschliessend beantwortet. Denn, ob ein Problem- und Störungsverständnis „nicht als Folge von Eigenschaften, die im Individuum liegen, sondern immer im Zusammenhang mit seiner Geschichte, den Beziehungen, den aktuellen Bedingungen und den Bedeutungskonstruktionen zu sehen“ und damit „ein wesentliches Merkmal systemischen Arbeitens ist “ (S. 172), ist insofern fragwürdig, als wohl auch KollegInnen, die sich eher der Verhaltenstherapie (CBT) oder der Humanistischen Therapie (GT) zuordnen, dies genauso oder ähnlich unterschreiben würden (Rufer & Flückiger, 2020). Dass sich dabei und damit schulenübergreifend eine systemtheoretische Grundorientierung (z.B. im Sinne der Synergetik) als Basis für ein idiografisches Fallverständnis, anbietet, dies allerdings scheint mir zukunftsweisend.
Als Teil des inter- und intradisziplinären, auch kontrovers geführten Diskurses über eine Psychiatrie und Psychotherapie, die sich m.E. heute nur noch als eine systemisch-integrative Therapie verstehen und konzeptualisieren lässt, möchte ich dieses Buch darum insbesondere KollegInnen, die in klinischen Kontexten arbeiten, wärmstens empfehlen. Es wird ihnen bei der Integration systemisch-psychotherapeutischen Handelns ebenso helfen wie bei einem systemischen Verständnis ihrer klinischen Arbeit.
Literatur:
Rufer, Martin (2013): „Erfasse komplex, handle einfach“. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch. 2. Aufl. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
Rufer, Martin (2018): Veränderungen des Settings als in Intervention. In: Kirsten von Sydow & Ulrike Borst (2018): Systemische Therapie in der Praxis. Weinheim (Beltz)
Rufer, Martin & Christoph Flückiger (2020): Essentials der Psychotherapie. Praxis und Forschung im Diskurs. Bern (Hogrefe)
Wagner, Elisabeth & Ulrike Russinger (2019): Emotionsbasierte systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln. Stuttgart (Klett-Cotta)
Elisabeth Wagner (2020): Praxisbuch Systemische Therapie. Vom Fallverständnis zum wirksamen psychotherapeutischen Handeln in klinischen Kontexten. Stuttgart (Klett-Cotta)
320 S., Taschenbuch
ISBN: 978-3-608-89259-8
Preis: 32,00 €
Verlagsinformation:
Systemische Therapie ist jetzt Kassenleistung – das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt. Was unterscheidet die Systemische Therapie von anderen anerkannten psychotherapeutischen Verfahren wie Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse? Mit welcher Haltung, welchen Interventionen und Techniken nähert sie sich den PatientInnen? Anschaulich und mit vielen Beispielen aus der Praxis zeigt die Autorin, worauf es bei der Anwendung in klinischen Kontexten ankommt.
Mit der nun endlich auch in Deutschland vollzogenen Anerkennung der Systemischen Therapie als abrechenbares psychotherapeutisches Verfahren stellen sich in der klinischen Praxis viele Fragen:Wie gehen systemische TherapeutInnen mit der Diagnosestellung um? Wie lassen sich typisch systemische Herangehensweisen wie die Einbeziehung der Lebensumwelt eines Klienten oder Ziel- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext umsetzen? Wie verstehen SystemikerInnen innerpsychische Prozesse? Das Buch widmet sich diesen grundsätzlichen Fragen in anschaulicher Weise und stellt in einem zweiten Teil die wichtigsten Interventionen vor, vom »systemischen Fragen« bis hin zu narrativen, visualisierenden und hypnosystemischen Techniken. Auch hier wird das therapeutische Vorgehen anhand von Fallvignetten aus der Praxis erläutert. Die Autorin zeigt, wie Systemische Therapie wirkt und wie sie konkret angewandt wird.
Über die Autorin:
Elisabeth Wagner, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie); Lehrtherapeutin an der Lehranstalt für Systemische Therapie, Wien; Psychotherapeutin in freier Praxis für Einzel-, Paar- und Familientherapie.
[…] Die Rezension des Buches finden Sie unter diesem Link. […]