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Tom Levold: Lesen als Rettung

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Als Kind und Jugendlicher habe ich Lesen als eine Art Rettung erfahren. Mit fünf verbrachte ich ein Woche im Krankenhaus, weil mir die Mandeln entfernt wurden. Ich habe noch heute den Geruch der Äthermaske in der Nase. Besuche der Eltern waren nur einmal am Tag für 30 Minuten erlaubt, was für mich als Säuglingsheimkind mit großen Trennungsängsten nur schwer auszuhalten war. Die Schmerzen im Hals in Verbindung mit meinem Heimweh führten dazu, dass ich praktisch den ganzen Tag weinte. Das war natürlich eine Zumutung für die anderen fünf Kinder im Krankenzimmer, die sich teilweise dort sehr wohl fühlten. Sie drückten mir daher alle verfügbaren Comic-Heftchen in die Hand, um mich abzulenken und ein bisschen Ruhe zu haben. Da ich noch nicht lesen konnte, hatte ich die Hefte zum Schrecken der anderen Kinder viel schnell durchgeblättert. Die Bilder sagten mir nicht viel. Mir wurde klar, dass sich mir der eigentliche Reiz der Geschichten nur erschließen würde, wenn ich schnell lesen lernen würde.
Ich habe dann bereits vor Schulbeginn alles zu lieben und zu lesen begonnen, das Buchstaben enthielt. Kinderlektüre interessierte mich eigentlich nur am Rande. Ich wollte schnell in die Lesewelt der Erwachsenen hineinwachsen. Im dritten Schuljahr ackerte ich mich durch die Karl-May-Romane, natürlich nicht ohne von endlosen Landschaftsbeschreibungen gelangweilt zu werden. Mit der Einschulung im Gymnasium begann ich, täglich die Zeitung zu lesen, eine Gewohnheit, die ich auch heute noch – trotz aller Online-Informationsbeschaffung – genieße. Mit 14 legte ich mich regelmäßig mit der Bibliothekarin der Stadtbücherei an (ich nehme an, es war die Chefin), die mir keine Erwachsenenbücher ausleihen wollte und mich an die Regale mit Kinderbüchern verwies. Gottlob fand sich eine junge Bibliothekarin, die mir, wenn die Chefin nicht präsent war, alle möglichen Geschichtsbücher auslieh – zu der Zeit beschäftigte ich mich geradezu zwanghaft mit dem zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte (in meiner Psychoanalyse fiel mir dann auf, dass mein Vater zum Zeitpunkt des Kriegsausbruches 14 Jahre alt war, mit mir aber nie darüber sprach). Mit 15 hatte ich dann auch das Bücherregal meiner Eltern weitgehend durch.
In dieser ganzen Zeit wurde das Lesen zur Tür in ein Paralleluniversum, das mich jederzeit aus meinem bescheidenen real life erretten konnte. Das betraf schon immer Romane und „Sachbücher“ gleichermaßen. Bücher waren und sind für mich Symbol dieser zweiten Welt, in der alles möglich und alles miteinander zu verbinden und kombinieren ist – auch wenn ich beim Arbeiten mittlerweile PDFs und das Lesen auf meinem iPad bevorzuge, weil ich hier besser festhalten und speichern kann, was mir wichtig erscheint. Bücher wegzuwerfen fällt mir entsprechend schwer, obwohl auf meinen Regalen nicht mehr viel Platz ist.
Meine Begeisterung für Theorie hat viel mit diesen Leseerfahrungen zu tun. Dass man nicht nur erlebt, sondern dieses Erleben durch Beobachtung und Beschreibung literarisch oder wissenschaftlich auf eine neue Ebene hebt, die sich ihrem Gegenstand gegenüber weitgehend autonom verhält, fasziniert mich bis heute.
Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre floss meine Theoriebegeisterung als Schüler in die marxistische Literatur, die auf den baldigen Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft vorbereiten sollte. Viel Marx & Engels im Original, dazu Ernest Mandel, Paul M. Sweezy usw., aber natürlich vor allem ohne Ende marxistische Sekundärliteratur, die die Welt klassenkämpferisch in Gut und Böse vorsortierte. Daneben viel Psychoanalyse als Gesellschaftskritik: Freud, Reich, Reiche usw. Freilich wurden aber unter der Flagge eines neuen Denkens wieder schnell neue Denkverbote installiert bzw. Vertreter anderer Modelle und Konzepte geächtet. Die „Kritik bürgerlicher Wissenschaften“ entlastete einige Jahrgänge revolutionärer Studenten davon, bürgerliche Wissenschaften im Original zu lesen, da man schon vorgekaut wusste, was man davon zu halten hatte. Diese Reminiszenz an meine Stadtbibliothekserfahrung führte bei mir zu einer gewissen Trotzhaltung, aus der heraus ich begann, mich für „bürgerliche Autoren“ zu interessieren. Für mich überraschenderweise waren diese offensichtlich nicht so dumm, wie sie der Kritik ihrer Theorien nach hätten sein müssen – auch (und gerade) wenn man theoretisch mit ihnen nicht übereinstimmte.
Jedenfalls führte das dazu, dass ich mich 1976 entschloss, meine sozialwissenschaftliche Diplomarbeit über einen besonders reaktionären und an der Universität Bochum deshalb sehr verachteten Theorieansatz zu verfassen – die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Im Unterschied zu den gängigen emanzipatorischen und kritischen Theorien schien mir die Systemtheorie in erster Linie eine Theorie sozialer Kontrolle zu sein – und das wollte ich herausarbeiten. Immerhin habe ich in dieser Zeit so gut wie alles von Luhmann gelesen, was bis dato von ihm veröffentlich war, und das war schon eine Riesenmenge – lange vor der „autopoietischen Wende“.
Trotz meiner sehr kritischen Haltung, die ich konsequent durchgehalten habe, begann mir die Lektüre Luhmanns immer mehr Spaß zu machen. Sein Spiel mit „Theoriearchitektur“, seine für mich völlig neue Begrifflichkeit, die vielen überraschenden Einsichten, die oft eher beiläufig daher kommen oder sich aus der Anwendung seiner abstrakten Konzepte auf konkrete Phänomene ergeben, haben mir von Anfang an Lust bereitet (auch wenn es eine gewisse Einarbeitungszeit erforderte). Das hat sich bis heute gehalten. Den ganzen Überblick habe ich natürlich nicht mehr, was bei einem Werk dieser Größenordnung kaum verwundern kann.
Zwar las ich im Studium auch einen Sammelband, der bei Suhrkamp erschienen war und einige kommunikationstheoretische Arbeiten der Gruppe um Gregory Bateson enthielt (und u.a. von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas herausgegeben wurde), allerdings wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass Luhmann in meinem späteren Leben als Therapeut eine Rolle spielen könnte, dass sich überhaupt Therapeuten für Luhmann interessieren könnten – ebenso wenig wie ich mir überhaupt vorstellen konnte, ein paar Jahre später selbst therapeutisch zu arbeiten. Es kommt halt anders als man denkt. Für meine systemische Entwicklung war allerdings die soziologische Basis und die frühe Beschäftigung mit Luhmann von außerordentlicher Bedeutung und es vermittelt außerordentlichen Spaß und Zufriedenheit, auch einer mittlerweile fast 40jährigen Lektüre immer noch neue Facetten abgewinnen zu können. 

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