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Systemische Sozialarbeit: Haltungen und Handeln in der Praxis

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Für die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung hat Cornelia Tsirigotis das im vergangenen Jahr bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienene Buch von Johannes Herwig-Lempp, Professor für Systemische Sozialarbeit/ Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Merseburg, rezensiert und sieht darin eine Pflichtlektüre für Sozialarbeiter*innen und alle darüber hinaus in psychosozialen Arbeitsfeldern, sehr empfehlenswert für alle Einsteiger*innen in das systemische Arbeiten und diejenigen, die sich mit ihrer Haltung auseinandersetzen möchten oder an Haltung gewinnen möchten“. Mit freundlicher Genehmigung können Sie ihre Besprechung auch hier lesen:

Cornelia Tsirigotis, Aachen:

„Systemisch“ bedeutet für mich unter anderem,
dass ich mich immer mal wieder daran erinnern
kann, dass es unendlich viele Perspektiven gibt –

und nicht nur (m)eine, mir vertraute und
„natürlich“ erscheinende. Jeder Mensch
sieht etwas anderes – und jeder von uns
verändert ständig seinen Standpunkt –
und damit seine Ansichten. (S. 388)

Johannes Herwig-Lempp legt hier ein Buch zur systemischen Sozialarbeit vor, das sich als Lehr- und Arbeitsbuch hervorragend eignet, um sich in systemisches Arbeiten, seine Möglichkeiten, Voraussetzungen und vor allem in systemische Haltungen einzuarbeiten. In acht Hauptkapiteln beschreibt er Grundlagen (des?) seines systemischen Ansatzes, für die Arbeit im psychosozialen Hilfeangeboten aufbereitet und die Wirksamkeit in der Sozialarbeit im Fokus. Dazu stellt er auf weiteren 60 Seiten seine Arbeitsmaterialien zur Verfügung.

Zum Inhalt: In seiner „Systemische(n) Eröffnung“ betont er die vielen Bedeutungen von „systemisch“, was für mich dafür spricht, nicht von dem systemischen Ansatz zu sprechen, sondern von systemischen Ansätzen. „Eine weitere Beschreibung, die für mich hilfreich ist, wenn ich mir überlege, wie ich in einer bestimmen Situation arbeiten könnte, ist „der systemische Blick“ Er erinnert mich daran, dass ich auf ganz bestimmte Dinge mein Augenmerk richten kann, wenn ich systemisch vorgehen möchte: Zum Beispiel auf Aufträge, auf Lösungen, auf Eigensinnigkeit und Autonomie oder auf Wertschätzung.“ (S. 15). Er setzt sich mit Metaphern, vor allem „Sehen“, „Werkzeug“, „Brille“ und „Haltung“ auseinander und erläutert seine bevorzugten sprachlichen und gendermäßigen Formulierungen mit dem Hinweis auf den Einfluss der Sprache auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das zweite Kapitel „Sozialarbeit – ein toller Beruf“ zeigt die Vielfalt der Handlungsarten und -möglichkeiten auf der Sozialarbeit auf die von Beraten, Verhandeln, Eingreifen, Vertreten, Beschaffen, Da-Sein bis zu Verwalten, Lernen, Werben und Einmischen reichen, die er jeweils erläutert und mit anschaulichen Praxisbeispielen ausmalt. Dazu beschreibt er hilfreiche Kompetenzen von Sozialarbeiter*innen:  Perspektivenkompetenz, Möglichkeitssinn, Entscheidungskompetenz, Zurechnungsfähigkeit als der Fähigkeit, anderen Kompetenzen, Ressourcen, Verantwortung für sich selbst und Veränderungsfähigkeit zuzutrauen und zu unterstellen…“ (S.392) „Ich bin es, der entscheidet, wie ich sie sehe und sehen will“ (S. 94). Weitere Kompetenzen: Mut und Risikobereitschaft, Geduld, Hartnäckigkeit und Aushalten-Können sowie professionelle Freundlichkeit, als „ganz bewusst getroffene Entscheidung, jetzt freundlich sein zu wollen“ (S. 100), in deutlicher Abgrenzung zu der so gerne von psychosozialen Helfer*innen postulierten Authentizität. Auch hier weisen seine feinschrittigen Erläuterungen bereits auf die Haltungen hin, die Johannes Herwig-Lempp einnimmt und in weiteren Kapiteln erläutert. Zunächst erzählt er in im dritten Kapitel die „Kurze Geschichte des systemischen Arbeitens in sechs Ideen“: 1. die Familie ist der Patient – nicht die Menschen, sondern die Beziehungen sind krank, 2. Die Familie als ein System, 3. Menschen sind autonom und eigensinnig, 4. Alles, was gesagt wird, wird von jemandem gesagt, 5. Über Lösungen reden, schafft Lösungen, 6. Systemisches Arbeiten kann in vielen Arbeitsfeldern nützlich sein. Ich habe selten ein solch feine anschauliche Zusammenfassung auf 23 Seiten gelesen.

Nach diesen eher einführenden Kapiteln geht es jetzt um Haltungen als dem „Wesentlichen des systemischen Arbeitens“ (S. 142): im vierten Kapitel „Von Haltung(en) zu Handlung(en)“ beschreibt Johannes Herwig-Lempp sehr nachvollziehbar, was er unter Haltungen versteht: „Haltung ist meine bewusste Entscheidung in einer konkreten Situation dafür, einen bestimmten Blickwinkel einnehmen zu wollen – und dem gleichzeitigen Interesse, daraus zu einem bestimmten Handeln zu kommen.“(S. 145 f.) Der Fokus liegt hier auf der Entscheidung, was nicht ausschließt, zuweilen auch unbewusste Haltungen einzunehmen. Anhand von Voraus-Setzungen, selbst entschiedenen Grundannahmen entwickeln sich Haltungen. Am Beispiel der Voraus-Setzung, dass alle Menschen Ressourcen und Stärken haben, zeigt Johannes Herwig-Lempp, wie eine ressourcenorientierte Haltung entschieden wird und welche Handlungen daraus in der Arbeit mit Klient*innen möglich werden. 

Um Systemische Voraus-Setzungen geht es in den folgenden Kapiteln. In Kapitel 5 Systemische Voraus-Setzungen: I: Bilder vom Menschen erklärt der Autor welche Bilder und Ideen vom Menschen sich auf die Haltung auswirken und wie die z. B. die Voraus-Setzungen von der Eigensinnigkeit und Autonomie der Menschen darauf entscheidenden Einfluss haben, wie sich in der Praxis Wahlmöglichkeiten der Klient*innen verbreitern und realisieren lassen und den Menschen Angebote gemacht werden können, die zeigen, dass sie selbst entscheiden (können). Weitere Voraussetzungen: „Alle Menschen tun immer, was sie wollen; jede hat gute Gründe, für das was sie tut; alle Menschen wollen immer kooperieren, wissen, was gut für sie ist, haben Ressourcen, gute Seiten, Vorstellungsvermögen, gemischte Gefühle sind ganz normal und Alle Menschen sind im Hinblick auf diese Annahmen gleich. Aus all diesen Voraus-Setzungen entwickelt Herwig-Lempp Haltungen und Handlungsspielräume, malt mit Beispielen aus und vertieft mit Übungen. Auf die Menschenbilder folgen in Kapitel 6 Systemische Voraus-Setzungen II: Vorstellungen von Veränderungen (Es könnte auch anders sein; Es gibt immer mindestens 7 Möglichkeiten; Probleme sind Ansichtssache – Lösungen auch; Veränderungen findet immer statt und Konflikte sind normal). Hier zeigt Johannes Herwig-Lempp die Fülle der Möglichkeiten, mit systemischen Methoden und Fragen die Vorstellung von Veränderungen zu ermöglichen. Kapitel 7 schließt dieses Kern- oder Herzstück der Systemischen Voraus-Setzungen ab: III Bilder von der Wirklichkeit. Hier geht es um die konstruktivistische Grundannahme, dass die Welt, die wir erleben, unsere Konstruktion ist. Er überprüft die Nützlichkeit dieser Annahme für seine Arbeit sehr eindrucksvoll an vielen Beispielen aus der Arbeit mit Klient*innen. In Kapitel 8 beschäftigt er sich abschließend mit der Frage, ob systemisch politisch ist. 

Johannes Herwig-Lempp ist mit diesem Buch ein wunderbares Plädoyer für die Vielseitigkeit und die herausfordernden Möglichkeiten systemischer Sozialarbeit gelungen, das sich zugleich als höchst nützliche Quelle für systemisches Arbeiten in alle Arten psychosozialer Hilfen erweist. Seine Voraus-Setzungen und Haltungen beschreibt er eindrucksvoll, gut nachvollziehbar und mit alltagspraktischen Beispielen verdeutlicht. Vertiefende Übungen regen zur eigenen Auseinandersetzung an und machen das Buch zu einem Arbeitsbuch, mit dem die Leser*in die Möglichkeit hat, ihre eigenen Haltungen und Voraus-Setzungen in den Blick zu nehmen und bewusster zu entscheiden.

Mein Fazit: Pflichtlektüre für Sozialarbeiter*innen und alle darüber hinaus in psychosozialen Arbeitsfeldern, sehr empfehlenswert für alle Einsteiger*innen in das systemische Arbeiten und diejenigen, die sich mit ihrer Haltung auseinandersetzen möchten oder an Haltung gewinnen möchten.

(aus: ZSTB 41(3) – 2023)

Zwei weitere Rezensionen von Wolfgang Krieger und Jan-Peter Domschke.

Eine Leseprobe auf der Website des Verlages

Zur Website des Autors

Johannes Herwig-Lempp (2022): Systemische Sozialarbeit. Haltungen und Handeln in der Praxis. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

452 Seiten, mit 22 Abb., kartoniert
ISBN: 978-3-525-40783-7
Preis: 26,- €

Verlagsinformation:

Wie können systemische Haltungen und Soziale Arbeit effektiv miteinander verbunden werden? Dieses Buch bietet eine fundierte und praxisorientierte Einführung in die systemische Sozialarbeit. Sozialarbeit ist ein herausfordernder und verantwortungsvoller Beruf, hat doch das Handeln von Sozialarbeiterinnen häufig weitreichende Auswirkungen auf das Leben ihrer Klienten. Systemische Ansätze sind ressourcen-, auftrags-, lösungs- und zukunftsorientiert und lassen sich gewinnbringend in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit einsetzen. Wie das geht, erläutert Johannes Herwig-Lempp verständlich und praxisnah. Er nimmt systemische Grundannahmen – sogenannte „Voraus-Setzungen“ – unter die Lupe, erklärt, wie Fachkräfte ganz bewusst bestimmte Haltungen einnehmen und diese in konkretes Handeln übersetzen können. Viele Fallbeispiele, Übungen und umfangreiches Arbeitsmaterial erweitern diesen Kompass für Ausbildung und Berufsalltag.

Über den Autor:

Dr. phil. Johannes Herwig-Lempp, Diplom-Sozialpädagoge, systemischer Sozialarbeiter, Fortbilder und Supervisor, ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Systemische Sozialarbeit an der Hochschule Merseburg, Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur.

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