Die Begriffskarriere des Wörtchens „systemisch“, die sich seit über 40 Jahren hierzulande vollzogen hat, ist eindrucksvoll. Gleichzeitig hat sich aber der Bedeutungshof dieses Begriffes immer weiter ausgedehnt, so dass er heute nahezu beliebig gebraucht wird. Theoretische Aspekte systemischen Denkens rücken zunehmend in den Hintergrund und fragt man jüngere Systemiker nach ihren Vorstellungen von Systemik, hört man nicht selten, es handele sich dabei vor allem um eine bestimmte Haltung, die von Wertschätzung und Ressourcenorientierung geprägt sei. Diese Haltung ist natürlich allen zu wünschen, die erfolgreich Menschen in Veränderungsprozessen beistehen wollen (und ist wohl in den erfolgreichen dieser Prozesse auch zu finden), ob sie das Alleinstellungsmerkmal des Systemischen ausmachen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Insofern bleibt die Frage nach dem Wesenskern systemischen Denkens weiterhin offen, auch wenn das Interesse an dieser Frage nachgelassen zu haben scheint.
Dem setzt die aktuelle Ausgabe des Kontext ein interessantes Debattenheft entgegen, in dem es um die inhaltliche Differenzierung von Systemik und Systemtheorie (hier der Luhmannschen Prägung) geht. Mitherausgeberin Barbara Kuchler eröffnet das Heft mit einem Artikel über das Verhältnis dieser beiden Denkschulen. Wie es im Editorial heißt, sieht sie „Systemiker:innen als Akteure in kleineren Beziehungssystemen der Integration von Unterschieden verschrieben. Dabei kann Integration beispielsweise bedeuten, dass das Ungelebte gelebt wird (»Ich habe endlich mal ›Nein‹ gesagt«). Hingegen sieht Kuchler Systemtheoretiker:innen als kühle Beobachter:innen größerer sozialer Systeme, die sich der immer präziseren Beschreibung der sozialen Welt durch immer elaboriertere Unterschiedsbildungen widmen. Luhmann habe auf Einheitsanmutungen recht allergisch reagiert, schreibt Kuchler. Wie ließe sich nun der Unterschied im Operieren mit Unterschieden zwischen Systemik und Systemtheorie erklären? Kuchler liefert dazu zwei Hypothesen: (1) Es ist die Rolle bzw. der Kontext. Systemiker:innen müssen unterstützende Impulse bereitstellen, die anschlussfähig sind für die Unterstützung suchenden Personen. Systemtheoretiker:innen arbeiten an abstrakten Problemen und sind dabei keinem professionsgebundenen Ethos verpflichtet. (2) Systemiker:innen arbeiten inhaltlich mit kleinen personnahen Beziehungssystemen (bspw. die Familie), Systemtheoretiker:innen hingegen mit sozialen Systemen, die intern nicht aus Beziehungen bestehen, quasi »Nicht-Beziehungssystemen«. Inwiefern nun könnte das Gras grüner sein auf der anderen Seite? Nun, Systemtheorie könnte für Systemik eine Anregung zur theoretischen Selbstreflexion, Systemik für Systemtheorie ein Impuls zur Steigerung der Anschlussfähigkeit (sofern diese denn gesucht wird) sein. Kuchler hofft am Ende ihres Textes, dass er eine gut gestellte Frage ist.“ Soweit das Editorial. Ob diese Unterscheidung trägt oder nicht, ist Gegenstand von Kommentaren und Erwiderungen, zu denen Arnold Retzer und Fritz B. Simon, Stefan Beher, Wolfram Lutterer und Klaus Eidenschink beigetragen haben.
Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier…
Der Spalt zwischen Systemtheorie und „Systemik“ – das Wort existierte zu „meiner Zeit“ für systemische Praxis nicht – ergibt sich aus der Unverbundenheit von Praxis einerseits und Forschung/Theorienbildung andererseits. Freud hat großen Wert auf die Einheit beider Bereiche gelegt.
Im systemischen Feld aber findet eine Inspiration der Theorie durch die Praxis kaum statt. Eher besteht der – selbstauferlegte Anspruch – systemische Praxis müsse sich aus der Systemtheorie ableiten.
Systemische Praktiker – Frauen wie Männer – sehen sich aber mit Problemen und Anliegen konfrontiert, die eine hohe Subjektivität und idR eine hohe affektive Ladung aufweisen.
Der Spalt entsteht dadurch, dass ein Systemdenken Luhmannscher Prägung eben dies nicht hinreichend abbildet.
Deshalb finden sich dann in Editorial/Abstrakt z.B. Beschreibungen wie „Ungelebtes“ (ein Begriff von V.v. Weizsäcker) und „mal ‚Nein‘ sagen“ als „Unterschiedsbildung. Letztere Beschreibung passt ebenso in die VT, ist also mehr oder weniger beliebig und nicht genuin systemisch.
Durch die „therapeutische Hintertür“ der Praxis kommt also herein, was man durch die Vordertür hinausgeworfen hat: Subjektivität, Gefühle, Resonanz etc.
Der Grund liegt mE in der exklusiven Bezugnahme auf die Systemtheorie Luhmanns, die sicherlich herausragend, aber nur sehr eingeschränkt für die Beschreibung organischer Prozesse tauglich ist.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass das systemische Feld sich hier nicht – so sehe ich es zumindest – auf die philosophischen Anfänge des Systemgedankens bezieht. Diese findet man bei Kant und auch bei Schelling mit ihren Konzepten der „selbstorganisierenden Kraft“ in der Natur. Stierlin hat dies in seiner Betonung der „Selbstregulation“ noch nachvollzogen.
Damit könnte die Verbindung von Theorie und Praxis gelingen. Mehr noch: diese Rahmungen wären lebensnah, sie haben Haptik und Modalität und sie haben Körper und Füße unten dran. Und sie sind geeignet ein Systemverständnis zu generieren, das den Leib-Seele-Dualismus überwindet (Luhmann schreibt ihn mE fort). Gerade für ein psychotherapeutisches Verständnis von Problemdynamiken wäre dies sehr hilfreich.
Die Begriffskarriere des Wörtchens „Systemtheorie“, die sich seit über 40 Jahren hierzulande vollzogen hat, ist nicht eindrucksvoll, sondern zeigt, wie beliebig Wörtchen verwendet werden. N. Luhmann ist Inbegriff für systemisches Denken, das sich der (politischen) Praxis willen nicht um Theorie kümmert. Systemisch steht für Therapie und Coaching, was heisst, armen Schweinen zu helfen, indem man sie als Teile eines „systemischen Systems“ (Familie, Nation) auffasst.
PS: Neben systemischen System gabs schon lange philosophische System, biologische Systeme und kybernetische Systeme. Der Begriff war also zu keiner Zeit geklärt. Als Systemtheorie käme die Kybernetik in Frage – wenn sie nicht systemisch beobachtet würde