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systemagazin Adventskalender – Nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau

| 1 Kommentar

Martin Rufer, Bern:

Mauern schützen und Mauern helfen, Eigenes zu gestalten, zu entwickeln und zu bewahren. Gartenmauern, Klostermauern, eiserne oder samtene Vorhänge setzen Grenzen und halten draussen, was nicht nach drinnen gehören soll. Sie wecken Neugierde und Phantasien, kurbeln Neid oder Wut an, was dahinter, in den für uns draussen fremden Welten vor sich geht, uns aber eben doch auch betreffen könnte.

So helfen Mauern denen drinnen, geborgen an einem für sie sicheren Ort ihre Identität zu finden, diese zu pflegen und zu schützen, wenn oft auch um den Preis, nur noch die eigene Suppe zu kochen und sich einzuigeln. Wir aber, als aufgeklärte, gut vernetzte Kinder der „Transparenzgesellschaft“ (Bjung Chu Han), rühmen und üben uns inklusiv in Globalität, Mobilität, Multikulturalität, Interdisziplinarität, belächeln oder verurteilen, was trennt, abgrenzt und uns ausschliesst. Das Überschreiten und Überwinden von Grenzen, wo keine mehr sind und darum zusammenfinden soll, was zusammengehört, gilt als das Mantra der Postmoderne.

In diesem Klima der Offenheit aber sitzen nun wie ein Stachel im Fleisch nicht nur die Greta aus dem hohen Norden, sondern omnipräsent die #MeToo Bewegung, sowie kulturelle, politische, religiöse oder sexuelle Minderheiten, die uns mit feiner oder lauter Stimme zur (Klima-)Verantwortung rufen, missbrauchtes Vertrauen anklagen oder mit Autonomieansprüchen wieder territoriale Mauern setzen wollen, wo Grenzen (des Wachstums) nicht respektiert werden. So entwickelt sich, wenn vorläufig auch ohne betonierte Mauern oder eiserne Vorhänge eine zu tiefst gespaltene Gesellschaft (wie z.B. in den USA am Beispiel „für oder gegen Trump“), in der Welten einander immer fremder werden, den Dialog nicht mehr finden (wollen), abgekoppelt für ihr Recht oder ihre Ordnung aufrüsten und zunehmend mit härteren Bandagen „kommunizieren“.

Dass dies Alles aus systemsicher Perspektive sich als autopoietischer oder synergetischer Prozess beschreiben und erzählen lässt, ist das eine. Dass wir uns aber schönen Narrativen und gut evaluierten Konzepten zum Trotz auch als Systemiker mit den Grenzen der Machbarkeit konfrontiert sehen, vor den politischen Machtsystemen kapitulieren und uns desillusioniert draussen – an den Rändern des Geschehens – bewegen oder drinnen – in der geheizten, eigenen Stube – aufhalten und gut eingerichtet haben, ist das andere.

Was also bleibt dem Schuster anderes als seine Leisten!?

Dankbar darüber, dass sich die Systemische Therapie nach dem kassenärztlichen Mauerfall nun auch in Deutschland als Teil des Mainstreams verstehen darf und der kostspielige Kampf sich, im wahrsten Sinne des Wortes, auch auszahlen wird. Aber: nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerbau. Was für uns Systemiker heißen könnte: Wo und wie zeigt sich nun das Eigene, das Andere, das immer Hoch-Gehaltene, das nun auch bewahrt gepflegt werden will? Soll und kann, ja muss es sich, gegen Übergriffe, Vereinnahmungen – die „Mauern und den Honig im Kopf“ – abgrenzen? Und wenn ja, wie und gegen wen „draußen“ sollen die eigenen Reihen „drinnen“ geschlossen werden?

Eine Advents- oder gar Weihnachtsgeschichte? Nein, aber vielleicht sind wir, gefangen in der kleinen (Gesundheits-) und grossen (Gesellschafts-)Politik als Beobachter 1. und 2. Ordnung, sozusagen auf „Beobachtung 3. Ordnung“ angewiesen, eine, die uns in dieser „Heiligen Zeit“ darauf besinnen lässt, dass trotz Konsumrausch, Weihnachtsmärkten oder Wellnessurlaub weit weg von alledem etwas gibt, das das nicht in unsern Händen liegt und sich darum auch schlecht (er)fassen lässt.

Darum zum Schluss doch noch eine Weihnachtsgeschichte, zudem eine ganz persönliche: Ohne Mauerfall hätten wir uns, meine Frau und ich, vor 30 Jahren und kurz nach Weihnachten, wohl kaum kennengelernt, und wir wären heute – als Multikultifamilie in mehrfacher Hinsicht – um eine hautnahe Erfahrung ärmer, dass es sich lohnt, Grenzen zu respektieren, zu schützen, um dann diese in vertrauensvoller Verbundenheit auch immer wieder aufzulösen.

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Ein Kommentar

  1. Dörte Foertsch sagt:

    Lieber Herr Rufer, mir gefallen Ihre Gedanken zu dem Thema Mauern und Grenzen und deren Bedeutung im Zusammenleben von Menschen, Kulturen, Nationen etc.. Mir ist es aber auch wichtig zu sagen, dass Grenzen, wie die im kalten Krieg entstandenen, oder die jetzt an den europäischen Grenzen gegenüber flüchtenden Menschen entstehenden, zu viele Menschenleben fordern. Der Bedeutung und deren Auswirkungen dieser Art von Grenzen können auch Systemimker*innen nicht zustimmen, oder? Herzliche Grüße aus Berlin, Dörte Foertsch

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