Joachim Stöver, Köln
Köln-Mülheim, da drängeln sich selten Prominente auf dem Bürgersteig. Die Frankfurter Straße ist voller Leben, am Wiener Platz trifft sich die ganze Welt vor dem Bezirksrathaus. Die durch das NSU-Attentat bekannte Keuppstraße ist nicht weit. Viele Milieus sind hier vertreten, prekär, ohne Obdach, bürgerlich, ihnen allen begegne ich auf dem Weg mit dem Rad zum „IKZ“. Zwei Ladenlokale beherbergen das „Interkulturelle Zentrum“. Von unterschiedlichen Wohlfahrtsträgern betrieben, sind diese Zentren in Köln Kontaktstellen für Flüchtlinge, bieten Beratung und machen vielfältige Gruppenangebote. Vom Nähkurs zum Bewerbungstraining, vom Gesprächskreis zur Sozialberatung und vielem mehr, ist in den Programmen zu lesen.
Kein Wunder, dass ich dort gelandet bin, im „IKZ-Buchheim“ der Diakonie Köln. Mein berufliches Leben hatte seinen längsten Abschnitt in einer evangelischen Tagungsstätte im Sauerland. Über viele Jahre gehörten Tagungen mit Asylsuchenden der Region zu meinem Aufgabenfeld. Und als nach dem Umzug vom Land in die Stadt die Flüchtlingswelle wuchs und der Ruhestand ganz neue zeitliche Perspektiven möglich machte, begab ich mich auf die Suche nach meinem Ort der ehrenamtlichen Mitarbeit.
Er war schnell durch persönliche Kontakte gefunden, eben das IKZ in Mülheim. Was ich aus meiner beruflichen Arbeit in der öffentlichen Weiterbildung kannte, fand ich dort wieder. Teilnehmerinnen sind in hoher Prozentzahl Frauen, gerade dann wenn es um Kommunikation, um personenorientierte Bildungsarbeit geht. So machte ich der Leiterin der Einrichtung den Vorschlag, eine Männergruppe für Flüchtlinge anzubieten. Sie unterstützte das Vorhaben sofort. Uns beiden war aber auch die Skepsis gemeinsam, ob Männer dazu überhaupt kommen würden. Aus der beruflichen Erfahrung, weiß ich, dass über Flyer und Einladungen selten Teilnahme entsteht, persönliche Kontakte, Netzwerke und ein Papier müssen zusammen wirken. Wir wussten auch, dass im Stadtteil viele arabisch sprechende Flüchtlinge in den Unterkünften leben, so entstand eine arabische Version der Einladung.
Ein weiterer persönlicher Kontakt machte den Start möglich. Über eine Kollegin aus dem Ruhrgebiet erfuhr ich, dass die Eltern einer Kommilitonin ihrer Tochter, syrische Flüchtlinge, in Köln eingewiesen waren. Sie lebten auf engstem Raum in einem aufgelassenen Hotel, in für mich unerträglichen Wohnverhältnissen. Schnell entstand ein erster herzlicher Kontakt, der durch eine Schwierigkeit erleichtert wurde. Wir, meine Frau und ich, sprechen kein Arabisch, geschweige denn ihre Muttersprache Aramäisch. Und sie sprachen wenige Worte Deutsch und kein Englisch, das uns aus der Klemme hätte helfen können. Umso mehr wurden alle Formen nonverbaler Verständigungen wichtig. Dermaßen mit Händen, Gesicht und Bewegungen redend, erlebten wir in der Öffentlichkeit Erstaunliches. In der U-Bahn oder bei Ausflügen begannen Mitfahrende spontan zu übersetzen. Kontakt entfaltete sich unerwartet. Kontexte die wir vorher weder kannten, noch für möglich hielten, öffneten sich. Unvergessen die Szene um die biblische Weihnachtsgeschichte in unserem Wohnzimmer, mitten im heißen Sommer. Unsere beiden Gäste, aramäische Christen, Lehrerin und Unternehmer in ihrem Land, im heftigen Bemühen, die so fremde Sprache zu lernen, fragten nach der Weihnachtsgeschichte in deutscher Sprache. Wir lasen sie zusammen, versuchten mit Händen und Füßen die deutschen Worte zu erklären, was durch den gemeinsam bekannten Text relativ einfach gelang. Vor allem als meiner Frau einfiel, dass wir noch eine alte Windel unserer Kinder irgendwo im Schrank hatten. „Und wickelte ihn in Windeln…“ – das war damit leicht übersetzt. Das Gespräch über die erwachsenen Kinder eröffnete sich daraus.
Über den Mann aus diesem Kontakt gelang es, andere Männer einzuladen. Alle kamen aus Syrien, sind zwischen 35 und 75 Jahren alt, hatten in akademischen oder kaufmännischen Berufen gearbeitet und ihren gesamten Besitz durch den IS verloren. Als orthodoxe Christen oder politisch Verfolgte mussten sie fliehen. Tief berührt mich, wenn sie von ihren alten Olivenbäumen erzählen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass es allen gelungen war, vor dem Krieg ihre Kinder nach Deutschland zu schicken, die hier studieren, einige sind inzwischen Ärzte, Apothekerin oder Architekt geworden. Nur eines der Kinder musste einen abenteuerlichen Fluchtweg wählen, erlebte alles, was inzwischen aus anderen Fluchtgeschichten bekannt ist und für uns unvorstellbar bleibt. Einer der Männer wartet bis heute, dass seine Frau und jüngste Tochter nachreisen können. Unglaubliche bürokratische Hürden haben das bisher verhindert. Fünf Männer kamen, meist hatte ich früher mit Gruppen von 15 bis 20 TeilnehmerInnen gearbeitet, das erschien mir zunächst zu wenig. Inzwischen bin ich über diese Größe froh, zu abenteuerlich waren und sind unsere Sprachschwierigkeiten.
Die regelmäßigen wöchentlichen Treffen gingen voran, inzwischen waren alle in Sprachkursen angekommen, die Wohnsituationen hatten sich entscheidend verbessert. Themen der Gespräche waren zunächst „Erste Hilfe“ Themen: Wo bekomme ich eine bessere Wohnung her, wo gibt es ein Bett, einen Schrank, welches Amt ist für mich zuständig, was bedeutet dieses Formular …
Und langsam entwickelten sich Themen mit ganz anderem Inhalt: der Hass auf den IS, die erlebte Zerstörung und Gewalt, Tod und Verzweiflung, die Angst um die alte Mutter, die nicht fliehen wollte und nun ohne Wasser und Strom in einem zerstörten Stadtviertel lebend, über Skype von ihrer Not berichtet.
Ich lernte die politische Situation und das völlig anders funktionierende politische System in Syrien kennen, wo Macht in anderer Weise als durch Wahlen bestimmt wird. Und ich hörte – zunächst sehr vorsichtig – den Satz, dass Assad doch nicht so schlimm sei, weil er ihnen Schutz ermöglicht hat. Ich hörte das tiefe Unverständnis der deutschen Toleranz gegenüber Muslimen, die Verwunderung darüber, dass unsere Kirchen so leer sind, in Köln immer wieder Männer Hand in Hand auf der Straße zu sehen seien.
In ganz unterschiedlicher Weise bringen mich diese Themen und den geschätzten Anspruch der Allparteilichkeit in personenorientierter Bildungsarbeit durcheinander. Den Fassbomben werfenden, folternden Diktator will ich nicht verstehen, manche andere Äußerung zum Gebot religiöser Toleranz in Deutschland auch nicht. Das sind die Momente, in denen wir uns fremd sind. Pausen, Schweigen und Zurückhaltung bestimmen dann das Gespräch. Es ist zu spüren, wie unerträglich mancher Gegensatz bleibt, nur dadurch auszuhalten, dass uns inzwischen Zeit verbindet, die tragfähig für Gegensätze ist, die inmitten des noch immer nicht beendet Grauens in Syrien wenigstens diese individuellen Unterbrechungen der Katastrophe möglich werden ließ.
Und mehr gäbe es zu berichten: über mein Scheitern muslimische Männer in dieser Gruppe zu halten, von Exkursionen zu Museen, dem Ausgraben kleiner Tannensetzlinge im Sauerland, von unseren so verschiedenen Formen, Gastfreundschaft zu zeigen.
Inzwischen haben die Frauen der Männer ihre Teilnahme eingefordert. Der nächste Schritt begann. Konversation und Exkursion bilden nun das gemeinsame Programm, nun von meiner Frau und mir geleitet. Grammatikalisch sind viele von ihnen fit, aber sich unterhalten, in den alltäglichen Kontexten verständlich zu machen, das braucht noch Zeit. Und ganz neue Themen entstehen: wie geht es mit unseren Familien weiter, wenn die gewohnten Strukturen nicht mehr halten, sich Rollen umkehren, die Kinder mit ihren Sprachkenntnissen nun auf einmal sagen, wo es lang geht, wenn Eltern von der Sozialhilfe leben und Kinder in gut dotierten Berufen anfangen Geld zu verdienen…
Und meine Rolle in all dem? Systemisch gesehen?
Seit langem finde ich das bei Gunter Schmidt kennengelernte Bild des „Realitätenkellners“, passend.
In Bewegung zwischen den „Tischen“, erstaunt über unerwartetes, reichliches „Trinkgeld“, lerne ich weiter einzusehen, dass Verstehen nicht einfach ist. Eher mehrfach.
P.S. Viel zum Verständnis der Situation verhilft: Kristin Helberg: Verzerrte Sichtweisen, Syrer bei uns; Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land, Freiburg 2016