Peter Müssen, Köln:
1. Assoziation: Goethe vs. Trump
Am 9. November in diesem Jahr las ich morgens auf ZEIT-ONLINE in einem Bericht über Donald Trumps Glückwünsche an die Deutschen:
„Trump zitiert Goethe („Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“) und warnt, dass es immer noch tyrannische Regime gebe, die für Unterdrückung und Totalitarismus nach sowjetischem Vorbild stünden. Die USA setzten sich dagegen für Freiheit ein, die Frieden und Wohlstand gewährleiste.
Ein Geschenk der Initiative Offene Gesellschaft, das für eine Welt ohne Mauern stehen soll, wollte Trump allerdings nicht annehmen. Der Verein wollte dem US-Präsident ein 2,7 Tonnen schweres Stück der Berliner Mauer überreichen. Das Weiße Haus habe jedoch die Annahme verweigert.“
Dass Trump das Geschenk der ‚Initiative Offene Gesellschaft‘ nicht angenommen hat, passt zu ihm, denn er plant ja gerade selbst den Bau einer Mauer, die Menschen fern halten soll.
Zudem hat Trump oder sein*e Redenschreiber*in vermutlich nicht wirklich in Goethes Faust (Faust 2, V) gelesen, denn das Zitat stammt aus einer Szene, in der der 100-jährige, blinde Faust das Ziel hat, durch den Bau eines Deiches dem Meer Land für Besitzlose abzuringen.
Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
nicht sicher zwar doch tätig-frei zu wohnen.
Faust will altersweise seine Möglichkeiten für Bedürftige einsetzen, um so vor sich selbst und der Nachwelt bestehen zu können:
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es lohnt sich, zum Thema ‚Überwindung der Mauer‘ (sie ist ja nicht einfach nur so ‚gefallen‘!) auf Goethes Spuren zu bleiben:
Auf dem Beethovenplatz in Weimar wurde, anlässlich des ‚Internationalen Jahres des Dialoges der Kultur, das Goethe-Hafis-Denkmal eingeweiht. Diese Schenkung der UNESCO wurden von Ernst Thevis und Fabian Rabsch gestaltet. Hier ein Foto des Denkmals von Heiko Fischer im Herbst 2013, das zum 5. Hafez-Gedenktages mit einer Kunstinstallation von Pirusan Mahboob zum Thema „Krieg und Frieden“ aus bunten, beschriebenen Sandsäcken inszeniert wurde.
Zwei steinerne Stühle, als Teile eines Ganzen aus einem einzigen Granitblock gesägt, stehen auf einer verbindenden Sockelplatte, sinnbildlich für Hafis und Goethe, für Ost und West im Dialog.
Goethe schreibt im West-östlichen Divan (Buch Suleika)
So der Westen wie der Osten
Geben Reines dir zu kosten.
Laß die Grillen, laß die Schale,
Setze dich zum großen Mahle:
Mögst auch im Vorübergehn
Diese Schüssel nicht verschmähn.
Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen laß ich gelten:
Also zwischen Ost- und Westen
Sich bewegen sei zum Besten!
‚Laß die Grillen, laß die Schale‘, d.h. störe dich nicht an vielleicht manchmal etwas exotisch-fremdartigen Formen, die doch nur äußerlich sind. Setze dich zum Freundschaftsmahl und genieße die Spezialitäten, die jede Seite beisteuert.
Wir haben gerne Gäste und ich liebe es, für unsere Freund*innen zu kochen, die immer ihre eigenen Welten wie ein Gastgeschenk mitbringen.
Eine gute Freundin hat uns vor drei Wochen bei einem Besuch zum Abendessen drei Ginkoblätter geschenkt, die sie in Köln gefunden hatte. Der chinesische Glücksbaum steht seit seit jeher für Hoffnung und Freundschaft, für das Geheimnis der Polaritäten, für Yin und Yang.
Die Blätter vereinen symbolisch Sanftheit und Robustheit und sollen das Zusammenspiel von Gefühl und Intellekt fördern. „Weil sie munter machen, die Stimmung aufhellen und neue Hoffnung wecken, können sie bei depressiven Verstimmungen beflügelnd wirken.“ – lese ich im Internet.
Diese drei Blätter liegen – inzwischen getrocknet – immer noch auf unserem Esstisch. Sie erinnern uns an einen sehr schönen freundschaftlichen Abend, auch wenn es natürlich kein „großes Gastmahl“ war. Ich habe für diesen Beitrag ein Foto von ihnen gemacht.
Goethe – um seinen Spuren weiter zu folgen – betrachtet den Ginkobaum seines Gartens und schreibt im West-östlichen Divan (Buch Suleika):
Gingo biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es e i n lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als e i n e s kennt?
Solche Frage zu erwidern,
fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?
Das Gedicht spricht von der polare Grundstruktur von Liebe und Freundschaft. Es thematisiert die bleibende Zweiheit in der Einheit. Zwei Personen bleiben als Paar, eigenständige Individuen und Individualitäten und jede Person fühlt zugleich in sich eine Polarität. Es entsteht zwischen beiden keine unterschiedslose, verschmolzene Einheit, sondern es entsteht etwas Neues im WIR:
„Ich bin nicht du, und wir sind nicht einfach bloß du und ich.“
2. Assoziation: Das Märchen vom goldenen Schlüssel
Am 9. November in diesem Jahr erinnerte ich mich daran, wie mich vor 30 Jahren ein Berliner Freund ganz außer sich anrief und ich noch am selben Tag nach Berlin flog, um die begeisterte Stimmung des Mauerfalls mit zu erleben.
Heute finde ich – in der Erinnerung an jenen Berlinbesuch – das letzte Märchen in der Sammlung der Gebrüder Grimm (KHM, Nr. 200) sehr adventlich-hoffnungsvoll:
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag,
musste ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen.
Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte,
wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen,
sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen wärmen.
Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte,
fand er einen kleinen goldenen Schlüssel.
Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein,
grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen.
„Wenn der Schlüssel nur passt!“ dachte er,
„Es sind gewiss kostbare Sachen in dem Kästchen.“
Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins,
aber so klein, dass man es kaum sehen konnte.
Er probierte und der Schlüssel passte glücklich.
Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren,
was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.
In harter Winterszeit den festen Boden auf dem man steht aufzuräumen, einen verheißungsvollen ‚goldenen Schlüssel‘ zu finden, auf der Suche nach einem passenden Schloss nicht zu ermüden, den Schlüssel zu probieren und dann voller Erwartung auf die ‚wunderbaren Sachen‘ zu bleiben, die in dem Schatzkästchen warten – für mich ein schönes Bild auch für den Prozess der Wiedervereinigung.
Bei Arist und Björn von Schlippe fand ich folgenden systemischen Cartoon, den ich – in der Hoffnung, dass das für die beiden o.k. ist – hier wiedergeben möchte:
3. Assoziation: Ein Abend mit Reiner Kunze
Am 9. November in diesem Jahr erinnerte ich mich auch an einen wunderbaren Abend mit dem Dichter Reiner Kunze am 12. Mai 1989 – nur wenige Monate vor dem Mauerfall – im ‚Alten Pfarrhaus‘ (einem Ort kultureller Begegnungen) in Beckum-Vellern.
Reiner Kunze siedelte 1977 von der DDR in die Bundesrepublik Deutschland.
An diesem Abend trug er uns viele seiner Gedichte vor, auch solche, die mir heute im Kontext des Mauerfalls wieder einfallen:
DEUTSCHE BALLADE
Das hohe alter der mutter sei
kein grund, zu ihr zu reisen
Gehirnschlag sei
kein grund
Nun durfte er reisen, er hat
einen grund ganz aus tod
(eines jeden einziges leben, 88)
Oder dieses wunderschöne Gedicht über Gastfreundschaft:
PFARRHAUS
(für pfarrer W.)
Wer da bedrängt ist findet
mauern, ein
dach und
muß nicht beten
(Die wunderbaren Jahre, 191)
Mauern können ja auch Schutz bieten – und einen Raum der Freiheit öffnen, in dem man nicht herunterbeten muss, was dem Hauseigentümer gefällt.
4. Assoziation: Systemisches zur ‚Mauer der Unterscheidung‘
Tom Levold lädt ein, anlässlich des Jahrestages des 9. Novembers 1989 neben den persönlichen Erinnerungen auch aus systemischer Perspektive auf die Dynamik von Spaltung, Trennung, Verbindung und Wiedervereinigung zu schauen.
Mauern kann man als versteinerte Unterscheidungen verstehen, als Grenzziehungen zwischen diesem einen und dem anderen. Mauern – ob aus Stein oder als Folgen von Unterscheidungen – sind immer ambivalent: Die eine Seite ist nicht ohne die andere zu denken. Im Grunde ist jede Mauer offen für ihr Jenseits, ja sie weckt es geradezu.
In Anlehnung an einen Bild-Text ‚Konkreter Poesie‘ von Eugen Gomringer zum ‚Schweigen‘ möchte ich das für die ‚Mauer‘ so darstellen:
Systemiker*innen denken beim Stichwort ‚Unterscheidung‘ natürlich sofort an Spencer-Browns ‚Gesetze der Form‘.
Dem ersten Kapitel der ‚Laws of Form‘ sind sechs chinesische Schriftzeichen vorangestellt, die wie folgt übersetzt werden können: „Der Anfang von Himmel und Erde ist namenlos“. Ohne Bezeichnungen ist die Welt leer und unbestimmt. Das Bezeichnen von etwas setzt jedoch eine Unterscheidung voraus: Das Bezeichnete muss vom Rest unterschieden werden.
Wirklichkeit wird konstruiert durch die Unterscheidungen von Beobachter*innen und durch die markierende Benennung der Beobachtungen, die zugleich den unmarkierten Raum erzeugt.
Mich führt der „namenlose Anfang von Himmel und Erde“ zum Buch Genesis in der Bibel:
Jahwe Gott pflanzt im Garten Eden einen ‚Baum des Lebens‘ und einen ‚Baum der Erkenntnis von Gut und Böse‘, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen. Ein jüdischer Studienfreund hat mich darauf hingewiesen, dass man den hebräischen Ausdruck auch mit ‚Baum der Unterscheidung von Gut und Böse‘ übersetzen könne. Die Unterscheidung von Gut und Böse, war – und ist immer wieder – der menschliche Sündenfall einer Anmaßung göttlicher Kompetenz.
Der biblische Sündenfall der ‚Unterscheidung von Gut und Böse‘ legte gleichsam den Grund für die transzendentale Logik binärer Codierung, in welcher der Mensch seitdem dualistisch gefangen ist. Der Imperativ Spencer-Browns „draw a distinction“ wird befolgt, denn ohne den basalen Akt der Unterscheidungen ist menschliches Erkennen anscheinend nicht möglich.
Robert Gernhardt hat dies in seinem Gedicht „Philosophiegeschichte“ humorvoll veranschaulicht:
Die Innen-und die Außenwelt,
die warn mal eine Einheit.
Das sah ein Philosoph, der drang
erregt auf Klar-und Reinheit.
Die Innenwelt,
dadurch erschreckt,
versteckte sich in dem Subjekt.
Als dies die Außenwelt entdeckte,
verkroch sie sich in dem Objekte.
Der Philosoph sah dies erfreut:
indem er diesen Zwiespalt schuf,
erwarb er sich für alle Zeit
den Daseinszweck und den Beruf.
(Gesammelte Gedichte 1954-2006)
Es gibt aber auch viele Versuche, diesen transzendental-basalen Dualismus der Unterscheidungen zu transzendieren. Acht willkürlich gewählte Beispiele will ich kurz erwähnen, ohne näher auf sie eingehen zu können; der Text wird eh schon viel zu lang.
1. Das Denken des spätmittelalterlichen Theologen Nikolaus Cusanus (1401-1464) ist geprägt durch den Begriff, der ‚coincidentia oppositorum‘, den Zusammenfall der Gegensätze, der Überwindung von verstandesmäßiger, dichotomer Abgrenzung und Definition. Dieser Koinzidenzbegriff der Vernunft ist nach Cusanus für den Verstand unzugänglich, paradox. Allein in der einfachen Einheit Gottes fallen alle Gegensätze zusammen. Gott ist das Non-Aliud der Unterscheidungen.
In Anlehnung an den islamischen Mystiker Dschalal ad-Din Rumi könnte man formulieren:
Es gibt einen Ort zwischen „richtig“ und „falsch“,
zwischen „wahr“ und „unwahr“,
zwischen „gut“ und „böse“,
zwischen „entweder – oder“.
Ich werde dich dort treffen!
… die Liste der Unterscheidungen ließe sich beliebig verlängern. Immer ist es die resonante Begegnung mit dem ‚Anderen‘, in die dieser Weg führt.
Zum Fall der Mauer könnte es z.B. lauten:
Es gibt einen Ort zwischen „Ost“ und „West“ – Ich werde dich dort treffen.
Oder denken Sie an die Unterscheidung Mann – Frau, die nach einer langen und oft leidvollen Geschichte im Sinne der Diversität überwunden werden soll. Die geschlechtergerechte Schreibweise von Autor*innen zeugt u.a. davon.
Ein Freund erzählte mir nach dem Besuch eines ‚Männer-Seminars‘ folgenden Witz, der durch die vor-urteilenden Klischees der Unterscheidung Mann – Frau wirkt:
Die Frau schickt ihren Mann in den Keller, um ein Hähnchen aus der Tiefkühltruhe zu holen. Der Mann stürzt die Treppe hinunter, bricht sich das Genick und stirbt.
Was macht die Frau?
Nudeln.
Es hat sich vielfach gezeigt, dass unter oder hinter Unterscheidungen die moralisch-bewertende Unterscheidung von ‚gut‘ und ‚böse‘ wirksam wird. Immer wieder neue Sündenfälle moralischer Hybris in der Geschichte menschlicher Unterscheidungen: schwarz – weiß, Innländer – Ausländer, heterosexuell – homosexuell, Realisten – Idealisten, ich – du, Systemiker*in – Nichtsystemiker*in, krank – gesund … selbst zunächst harmlos oder humorvoll wirkende Unterscheidungen wie Fanclub- oder Städtezugehörigkeiten (Köln – Düsseldoof 😉 sind da nicht immun.
2. Die Überwindung der Subjekt-Objekt-Dichotomie, der Ego-Alter-Unterscheidung findet sich ganz ausdrücklich in den Ansätzen der Dialogischen Philosophie, wie z.B. bei Martin Buber. Der Zwischen-Raum des WIR ist das Wesentliche bzw. der Ort, an dem Du und Ich sich begegnen.
In diesem Sinne verstehe ich auch den deutsch-amerikanischen Rechtshistoriker und Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy wenn er schreibt:
„Du (b)ist die erste Person. … Ich ist nichts anderes als die Antwort auf einen Anruf, auf die Nennung des Namens. Name ist anderes (sic!) als Begriff oder Wort; beide bezeichnen ein Es, sind Indikative, während Name ein Vokativ ist.“
3. Der Afrikaner Tshiamalenga Ntumba aus Zaire betont in seinem Buch „Denken und Sprechen: ein Beitrag zum „linguistischen Relativitätsprinzip“ am Beispiel einer Bantusprache (Ciluba), 1980″ das Wir-Apriori. In Hude bei Oldenburg konnte man ihm 1992 im ehemaligen Abtshaus des früheren Zisterzienserklosters begegnen. Er hielt damals im Sommersemester Vorlesungen zu seiner Philosophie des ‚Wir‘ im Rahmen der „Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ in den Räumen der Universität Oldenburg, der Geburtsstadt Karl Jaspers. Die taz berichtete darüber und Reinhard Kahl schrieb:
In Oldenburg konnte man einen Philosophen hören, der lacht, dauernd lacht, obwohl ihm zum Weinen ist, wenn er an Afrika denkt oder wenn er unser Gerede von der Umwelt hört. „Was man hier ‚Natur‘ nennt, das finde ich schrecklich, auch Umwelt, wieso denn Umwelt? Um wen denn? Also ein Gefühl, das ein ‚Wir‘ ist, zu dem auch die Natur gehört, Bäume und Tiere, erfüllt mich so stark, daß ich oft lachen muß. Ich glaube, Gott lacht auch viel, wenn er das hier alles sieht. Im Alten Testament heißt es, als Gott die Menschen in Babel sah, die dabei waren, einen Turm zu bauen, um Gott zu erreichen, da hat Gott gelacht. Warum müssen sie einen Turm bauen, er ist schon da.“ Der lachende Philosoph Marcel Tshiamalenga Ntumba ist nicht nur Professor, er ist auch katholischer Priester. Das hindert ihn aber weder am Denken noch am Lachen. (taz 17.07.1992)
4. Der Münsteraner Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat in seinem wirklich sehr lesenswerten Büchlein ‚Vereindeutigung der Welt‘ über den Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt geschrieben und eine Kultur der Ambiguität gefordert. Ambiguität, bei ihm gleichbedeutend mit Vagheit, kann nie vollständig vermieden werden, und sei es, wenn sie unfreiwillig komisch entsteht wie bei dem Motto eines Schützenvereins: „Schießen lernen – Freunde treffen.“
Nach Bauer ist die schwindende Ambiguitätstoleranz ein Grund für viele höchst problematische Phänomene in Religion, Kunst, Musik und Politik. Auch den Authentizitäts-, Identitäts-, Erkärungs- und Verstehenswahn sieht er als Folgen von Mehrdeutigkeitsvermeidung und Vereindeutigungsstreben. Und jeder Entscheidungsprozess sei ein Prozess der Entambiguisierung. Der Baum der Unterscheidung …
5. Der Begriff der Vagheit begegnet auch bei Peter Fuchs, der (nicht nur systemische) Psychotherapeuten als „Verwalter der vagen Dinge“ versteht, die mit unkodierten bzw. unkodierbaren Problemen arbeiten und Probleme nicht als kausale behandeln.
Der Umgang mit ‚vagen Dingen‘ sei der Eigenwert oder das Alleinstellungsmerkmal der psychotherapeutischen Profession, ihre Exzellenz im Sinne von „aus der Zelle herausgehen“. Er ermutigt Psychotherapeuten diesbezüglich zu einer „professionellen Arroganz“.
Peter Fuchs wendet sich gegen die traditionelle Ontologie, die behaupte „Etwas ist so und nicht anders!“ Vielmehr solle man das Augenmerk auf „fungierende Ontologien“ richten, die für bestimmte Bereiche gelten. „Fungierende Ontologien“ bedeutet, dass etwas vorausgesetzt wird und man dann schaut, wie weit man damit kommt. Zu solchen fungierenden, ontologischen Voraussetzungen gehört z.B. in der Wissenschaft die Unterscheidung von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘. Wie weit kommen wir also mit unseren vorausgesetzten Unterscheidungen, unseren ‚Ontologien‘ in der systemischen Theorie und Praxis?
6. Als Gegengewicht zur Dominanz visueller Metaphern (auch im systemischen Diskurs) bricht Tom Levold eine Lanze für das Zuhören als Hören 2. Ordnung. (KONTEXT 50, 1, S. 26 – 44). „Im Medium des Gesprächs … kommt dem Zuhören mit dem »dritten Ohr« eine ganz besondere Rolle zu, die entscheidend dafür ist, ob wir das Gefühl entwickeln können, miteinander empathisch verbunden zu sein oder nicht – und ob wir als Therapeutinnen und Berater in der Lage sind, Resonanzerfahrungen für uns und unsere Klienten zu ermöglichen.“ (33)
Zuhören ist ein Resonanzphänomen von Begegnungen, bei denen in der Vagheit des Ereignisses auch die Themen hinter oder unter den Themen addressiert werden, um so „optimal unbestimmte“ – man könnte auch sagen: vage – Auftragsvereinbarungen zu gewinnen. Es geht um Haltungen!
7. Mit dem zentralen Begriff der ‚Resonanz‘ verbinde ich vor allem den Namen von Hartmut Rosa, der ein dickes Buch mit diesem Titel bei Suhrkamp als ‚Soziologie der Weltbeziehung‘ veröffentlich hat, zu dessen Lektüre ich gerne ermuntern will.
In der Physik bezeichnet ‚Resonanz‘ das Mitschwingen eines schwingungsfähigen Systems, dessen Eigenfrequenz sich der Anregungsfrequenz annähert, wie die Saiten einer Geige, oder die Geige selbst als Resonanzkörper der Saiten.
Analog bedeutet ‚Resonanz‘ in der Soziologie nach Luhmann die „Qualität der Fähigkeit eines Systems, nach Maßgabe seiner Struktur auf Umweltereignisse reagieren zu können“.
Im Beziehungsraum der Resonanz gibt es nach Hartmut Rosa ein wechselseitiges Geben und Nehmen, ein sich vom anderen affizieren lassen, eine freundschaftliche Wahl- und Seelenverwandtschaft.
Diese Seelenverwandtschaft „basiert von Anfang an auf der Idee eines Zusammenstimmens, -schwingens oder -klingens zweier ‚Seelen‘, mithin also auf einer Resonanzvorstellung, so dass sich diese sogar zur Begriffsbestimmung anbietet: Zwei Menschen sind Freunde, wenn zwischen ihnen ein Resonanzdraht (aus Sympathie und Vertrauen) vibriert.“ (353) In diesem Sinne wage ich es, Beratung und Therapie als freundschaftliche Beziehungen zu bezeichnen, die als Basiskompetenz – vielleicht vor allem- die Resonanzfähigkeit haben.
8. Schließen möchte ich meine Assoziationen mit einer Erwähnung der systemischen Strukturaufstellungen von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer zum Tetralemma. Während eines Aufstellungsprozesses soll das Entscheidungs-Dilemma „Das Eine – Das andere“ in drei Schritten durch die Positionen „Beides“, „Keins von beiden“ und „Dies nicht und auch das nicht“ aufgelöst werden. Wem es Spaß macht, der kann ja – vielleicht erst einmal nur gedanklich – versuchen, die oben genannten (und vielleicht auch eigene andere) Unterscheidungen unter Anwendung des dem Tetralemma zugrunde liegenden Schemas indischer Logik von Nagarjuna fluide zu machen.
Ich wünsche Ihnen / Euch allen ein frohes Weihnachtsfest
mit der Erfahrung eines WIR, das vor allen Unterschieden trägt
und den Satz des Nicolaus Cusanus bewahrheitet „Videre tuum est amare.“
(Dein Sehen – und Zuhören – ist Lieben.)