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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2024 – 24. Tom Levold

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Skepsis und Historische Zuversicht

In der Einladung zum diesjährigen systemagazin-Adventskalender schrieb ich, dass systemische Ideen für gute und bekömmliche (also friedliche und nachhaltige) Lösungen in unseren unsicheren und wenig Zuversicht vermittelnden geo- und klimapolitischen Zeiten offensichtlich keine großen Realisierungschancen haben. Vor diesem Hintergrund stellte sich mir die Frage, was uns denn überhaupt noch Zuversicht – im Großen wie im Kleinen – geben könnte. Über die vielen Geschichten und Gedanken hierzu habe ich mich gefreut und möchte mich an dieser Stelle schon einmal herzlich dafür bedanken. Gestern hat z.B. Tom Hansmann in seinem Kalendertext von der Hoffnung als „Gewissheit, dass etwas Sinn hat“ geschrieben.

Was mich persönlich betrifft, so bin ich wie viele andere Menschen in Deutschland mit meinem Leben sehr zufrieden und auch zuversichtlich, dass das so bleiben kann. Wie neuere Umfragen gezeigt haben, sind nur wenige Menschen in Deutschland mit ihrer persönlichen Lage „nicht sehr zufrieden“ und kaum jemand ist „überhaupt nicht zufrieden“ (Statista 2024). In Hinblick auf die politische Lage des Landes und der Welt und die politischen Katastrophen, die mit dem aufsteigenden Faschismus und Autoritarismus, mit dem mangelnden politischen Willen zur Überwindung der Klimakrise und den zunehmenden kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit zu erwarten sind, sehen die individuellen Einschätzungen dagegen deutlich anders aus.

So ist es auch bei mir. Wenn ich an die Zukunft unserer Kinder und Enkel denke, überkommt mich oft tiefer Pessimismus, verbunden mit der Überzeugung, dass ich mich nicht durch solche Gefühle verführen lassen darf, jede Zuversicht fahren zu lassen. Aber wie kann das gehen?

Ein Text von Ursula Renz in der NZZ vom 7.12.2024 beschäftigt sich genau mit dieser Frage. Sie ist Professorin für Philosophiegeschichte an der Universität Graz und nimmt in ihrem Text Bezug auf einen Brief, den der Philosoph Hermann Cohen 1916 an seinen Kollegen Paul Natorp schrieb. Cohen litt unter dem Antisemitismus, der sich in dieser Zeit innerhalb der wissenschaftlichen Community immer breiter machte und mit persönlichen Angriffen auf ihn als Jude verbunden war.

In seinem Brief schreibt Cohen, dass er „nach Pflicht & Gewissen“ schreibe, dass aber seine Zuversicht „nur historisch, keineswegs aktuell“ sei – ein bemerkenswerter Satz. Renz macht nun deutlich, dass es bei dieser Formulierung keineswegs um ein Gefühl gehe, sondern um ein Bekenntnis zu einer Haltung: „Seine Zuversicht ist keiner natürlichen affektiven Reaktion geschuldet. Sie ist nicht Ausdruck einer gefühlten Regung, geschweige denn eines optimistischen Temperaments. Im Gegenteil, wenn ein Kantianer etwas erklärtermassen «nach Pflicht & Gewissen» tut, so deutet er damit an, dass er gegen seine Neigungen und sein Temperament handelt, und zwar anerkanntermassen“.

Und sie schreibt weiter: „Die historische Zuversicht, von der Cohen 1916 sprach, bezeichnete keine Hoffnung. Denn Hoffnung ist eine gefühlte Emotion, die nicht durch Entscheidung herbeigeführt werden kann. Wir können nicht wider unsere Überzeugungen hoffen, sondern nur mit ihnen. In der historischen Zuversicht wird demgegenüber auf eine Zukunft gesetzt, und zwar unabhängig davon, wie realistisch diese Zukunft gerade erscheint. Historische Zuversicht hat ihren Grund nicht in einer Einschätzung darüber, dass etwas in Zukunft eintreten wird, sondern in einer Entscheidung, diese Zukunft zu wollen. Sie meint eine Haltung, die das Verhältnis von Bedingung und Folge umdreht. Wer sich in dieser Weise zur Zuversicht durchringt, macht seine Haltung zum Grund für seinen Glauben an eine bestimmte Zukunft. Nicht weil diese möglich ist, sondern damit sie es wird. Historische Zuversicht ist in erster Linie ein Ausdruck von Entschlossenheit. Wenn sich die Anzeichen verdichten, dass schwierige Zeiten bevorstehen, tut eine solche Haltung not. Was es dann braucht, sind Menschen, die fähig und willens sind, eine Haltung der historischen Zuversicht einzunehmen.“

Aus dieser Perspektive wird nun Zuversicht zur Pflicht und ist nicht mehr das Ergebnis einer emotionalen Disposition, von „Gefühlen, Antrieben, Neigungen“, die Immanuel Kant in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ als Gegenbegriffe zur Pflicht gesetzt hat. Die Haltung historischer Zuversicht kann mir helfen, meine pessimistische Neigung im Griff zu behalten. 

Dieser Gedanke gefällt mir. Gleichwohl scheint mir dabei etwas Wichtiges zu fehlen. Der „Glaube an eine bestimmte Zukunft“ hat, wie die Geschichte gezeigt hat und immer noch zeigt, immer wieder zu den entsetzlichsten Ergebnissen geführt. Die politischen und ideologischen Kämpfe der Vergangenheit und Gegenwart verdanken sich gerade den konkurrierenden Entwürfen einer „bestimmten Zukunft“, die alle jeweils ihre eigene Rationalität und Geltung in Anspruch nehmen, auch wenn sie eben häufig aus „Gefühlen, Antrieben, Neigungen“ ihre Energie beziehen. 

Der Pflicht zur Zuversicht und der daraus resultierenden Bereitschaft, sich für eine Kantsche Welt zu engagieren, die für alle Menschen lebenswert ist ohne Achtung ihrer individuellen Besonderheiten, möchte ich deshalb die Haltung der Skepsis gegenüber allen Gewissheiten hinzugesellen. Wolfgang Loth hat in einem so ausführlichen wie lesenswerten Rezensionsaufsatz über das neue Buch von Michael Hampe („Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit“) auf die mit Gewissheiten verbundenen Gefahren hingewiesen, dass „Zwecke nicht selten, sobald sie einmal akzeptiert und übernommen worden sind, ein Eigenleben beginnen, das sich verfestigt. Diejenigen, die sich den Zwecken anschließen und sie sich zu eigen machen, können auch von ihnen gekapert werden“. Und: „Eine skeptische Haltung gegenüber Zweckhaftem ist daher in erster Linie eine skeptische Haltung gegenüber dem Wechselbad von Interessen und Bewertungen – als dem Nährboden für Unwohlsein und Leid“.

Einer skeptischen Haltung geht es dabei, wie Wolfgang Loth schreibt, nicht um Enthaltsamkeit. „Allerdings kommt dabei keine robust-aggressive Reaktion zum Einsatz – das unterläge der Illusion von Macht (Bateson ließe grüßen). Das skeptische Engagement erweist sich als Fähigkeit, auch unter Druck der Hybris zu entsagen, eine Änderung liege allein im Durchsetzen der eigenen Position. Genau dies nicht. Dass andere mit der martialisch-materiellen Umsetzung dieser Hybris für eine Zeit (womöglich eine lange Zeit) Erfolg haben, widerspricht nicht einer skeptischen Haltung. Dieser scheinbare Erfolg verdeutlicht nur den Grad der Herausforderung. Skepsis ist kein Wettlauf, bei dem es ums Gewinnen geht, sie zeigt sich stattdessen im Dabeibleiben unter erschwerten Bedingungen“.

Vielleicht könnte eine Verbindung von Skepsis und Pflicht zur Zuversicht eine gute Haltung sein, mit der wir Systemiker uns für eine lebenswerte Zukunft engagieren können, ohne den ideologischen Verführungen, die sich zunehmend auch in unserem Feld breit machen, auf den Leim zu gehen. 

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und uns allen frohe und zuversichtliche Weihnachten!

Literatur:

Hampe, Michael (2024): Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit. München (Hanser)

Kant, Immanuel (2000): Werkausgabe in 12 Bänden. VII. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt/M.
Loth, Wolfgang (2024): Über Zwecklosigkeit – zum neuen Buch von Michael Hampe. In: systeme 38(2), S. 222-238
Renz, Ursula (2024): Man kann sich zur Hoffnung zwingen, und manchmal ist es sogar eine moralische Pflicht, es zu tun. NZZ 7.12.2024

5 Kommentare

  1. Tom Hansmann sagt:

    Lieber Herr Levold, danke schön! Könnte es also sein, dass die Zuversicht und die Hoffnung einander wechselseitig bedingen? Frohe Weihnachten!

  2. Lieber Tom
    Erst einmal vielen Dank für den Beitrag und den ganzen Adventskalender. Wenn er ausgefallen wäre, hätte das meiner Zuversicht nicht gut getan. Dieses Austauschen ist wichtiger denn je. Einen Teil meiner Zuversicht erhöre ich durch den Austausch mit unverdrossenen Kolleginnen. Einen anderen Teil aus meiner Arbeit: so traf ich im Rahmen einer Supervision auf eine junge Kollegin, die eine Jugendhilfegruppe auf Ewigkeit ( Familienanaloge Wohnform) aufbaut. Sie hat bisher drei Kinder aufgenommen, 2,3 und 5 Jahre alt. Die Kinder bleiben bei ihr bis sie 18 Jahre alt sind.
    Die Kollegin beantwortet die Frage, warum sie ihr Leben so gestaltet mit: Ich fühle es und ich bin zuversichtlich! Frohe Weihnacht

  3. Sabine Klar sagt:

    Danke lieber Tom für deine Worte denen ich sehr viel abgewinnen kann. Danke auch, dass du den Adventkalender ins Leben gerufen hast und am Leben erhältst. Gerade heuer schien mir das besonders wichtig

    Alles Liebe
    Sabine

  4. Anne Lorenz sagt:

    Danke für die zuversichtlichen Zeilen. Und Danke für das Systemagazin, seit vielen Jahren eine inspirierende Quelle. Frohe Weihnachten!
    Anne Lorenz

  5. Andreas Wahlster sagt:

    Lieber Tom,
    danke für Deinen klugen Beitrag. Ich wünsche Dir und Deinen Liebsten frohe Weihnachten und ebenso zuversichtliche Schritte in die Zukunft. Andreas

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