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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2022 – 18. Katrin Bärhold

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Die Gewissheit, dass es wieder besser wird, mit einigen kleinen Geschichten aus meiner Familie mit Sprüchen, an die man sich, wenn es nicht so gut geht, erinnern könnte:

Mama

Wer kennt sie nicht, die Sprüche der Kindheit: ‚Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst‘…. oder, oder, oder…. Das kann man richtig kacke finden und dagegen rebellieren, wenn man sich traut, drückt es aber doch auch die Hilflosigkeit der Eltern bei der Erziehung der Kinder aus und weist auf eigene Kindheitsbeschämungen hin. In Deutschland recht verbreitet und tief verankert. Uiuiuiui. Meine Mutter wurde als Flüchtlingskind aus Memel beschämt, weil sie zwar mit 4 geflüchtet – aber mit 7 Jahren immer noch keinen eigenen Schlitten vorzuweisen hatte, mit dem sie im Winter den Berg durch den damals noch vorhandenen Schnee runtersausen konnte. Die anderen Kinder, älter meist, zeigten mit dem Finger auf sie. Pfff. Und! Sie surfte auf ihren „Igelittstiefeln“ (Weich-PVC) durch den Schnee und den Rodelhügel runter – sehr modern – war ihr egal – sie hatte Spass. „Wenns so nicht geht, gehts halt anders“ und ich erinnere mich an ihr Gesicht, als sie das erzählte. Grinsend mit gespitztem Mund- „waren meine – die andern hatten Schlitten, ich die Stiefel“.

Oma

Und Omma – eine traumatisierte, verschreckte harte Frau aus dem letzten Jahrtausend, geboren nach dem ersten, vor dem 2. Weltkrieg. „Ich hatte nix zu lachen, wurde mit 14 beim Bauern in Stellung gegeben und hatte zu funktionieren.“ Sie verschenkte später gern jedem der 4 Enkel ab und zu einen Heiermann – „5 Moork“ wie sie sagte – die waren auch im Osten schwerer an Gewicht. Anders konnte sie ihre Liebe nicht zeigen, wirklich nicht. Meine Cousine schwenkte ihren Zopf – pff und lehnte ab – bloß 5?, mein Cousin versuchte mir meinen abzuschwatzen – wie auch meine wertvolleren Briefmarken und meine Schwester guckte nur. Alle wünschten sich eine Omi mit Kochlöffel, Liebe und Güte. Ich verstand intuitiv – es ging nicht anders. Ihre Enttäuschung versteckte sie hinter ihren roten Locken und den Sommersprossen und ihren Falten. Und wenn ich dann wegen dem oder irgendwas anderem zu ihr geheult kam, gab sie mir trockenes, hartes Brot zum knabbern, zum dran rumsaugen, und sagte: „Wird alles nicht so heiß gegessen wie’s gekocht wird – wart mal ab.“  Aaaah – so hatte sie das also gemacht. Ich hing stundenlang ‚bei ihr ab‘ und las dicke Bücher mit dem Brotkanten dabei. Geschichten lesen oder erzählen, oder erzählt bekommen. Das hatte sie von ihrer Mutter – meiner Uroma.

Papa

Und Papa hatte früher ein Motorrad, als er noch nicht 85 Jahre alt war, er bastelte, schraubte und glich den Mangel aus, wenn er ein Teil nicht hatte, oder etwas nicht funktionierte. Fluchte beim Sägen von Schrauben und Biegen von Rohren. Steckte den Schraubenzieher in den Dreck, fluchte wieder, strengte sich an und murmelte: „was nicht passt, wird passend gemacht“. Dann drehte er am Gas und Brrrrmmmm, war sie an, die alte 250er. Aufsteigen, weiterfahren. Lösungen suchen, es versuchen.

Sauerkraut

Und Mamas absolute Stärke war die Herstellung ihres berühmten Sauerkrautes. Sie hatte meiner kleinen Schwester, als diese etwa 6 Jahre alt war, glaubhaft versichert, dass sie nun groß sei und dieses geschnittene Kraut in seinen Gewürzen schwimmend mit ihren nackten Füßen zu stampfen hatte, dafür müsse sie sich ihre Füße sehr gründlich waschen und schrubben. (Dabei griente sie mich an – wir beide wussten, dass dies ein Scherz sein würde und man natüüüürlich die Hände nimmt – Mittelalter war ja vorbei) ABER! Die kleine Maus sauste also – befreit von jeder Skepsis ins Badezimmer, schrubbte und wusch und spülte und war bereit. Sie war so voller Glauben und Freude, dass meine Mutter (und ich auch) ihr erst etwa zehn Jahre später gestand, dass dies ein Spass gewesen sein sollte, ihre Füße aber wohl sauber genug gewesen seien und ihr Gesicht so viel Bereitschaft ausgestrahlt hätte, dass wir uns im Geiste damals korrigiert hatten und sie stampfen ließen. Und sie grinste sehr breit: „Was lange währt…. ich hab mich gefragt, wann ihr damit rausrückt.“ Und immer wenn es Sauerkraut gab und gibt, schiebt sich ein Lächeln auf mein Gesicht und auf ihres und das meiner Mutter.

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Ein Kommentar

  1. Anke Horn sagt:

    Du hast mich gebeten am Artikel mitzuwirken, was ich allerdings abgelehnt habe, weil ich nicht wusste, was “systemisch” ist. Googeln –> ganzheitlich, gesamt
    Wenn es allerdings um die Familie geht fehlt ganzheitlich gesehen noch jemand: Mama, Papa, Schwester, Oma uuuuuuund—>

    OPA

    Opa war in russischer Kriegsgefangenschaft. Wenn er erzählen wollte wurde immer abgewiegelt: das interessiert keinen…sei ruhig. Also wurden lustige Begebenheiten am Rand des Krieges erzählt. Opa war im Versorgungstrupp hinter den Linien, weil er vom Dorf war und mit Pferden umgehen konnte. Gern hat er auch erzählt wie sie Machorka (Rauchtabak) geklaut haben. Auf jeden Fall haben nicht viele das Lager überlebt. 1946 oder 1947 kam er dann nach Hause.
    Wir leben an der Elbe. Durch unseren Ort führt die Salzstraße. An eben dieser Stelle wurde für militärische Übungen (Brückenbau) ein Brückenkopf gebaut.

    https://bild.isgv.de/bilder/bsnr/004921

    In den 70er Jahren kamen dann die Russen und haben mehrere Tage ein Manöver abgehalten. Uns Kinder konnte man nicht halten. Ich war ständig dort gucken. Wir haben Abzeichen geschenkt bekommen, die ich später verkaupelt habe. Die Soldaten aus verschiedenen Regionen der UdSSR waren lieb und nett zu uns. Später habe ich mich gefragt, wie sich wohl mein Opa gefühlt hat. Seine Erfahrungen waren andere. Und psychologische Betreuung gab es nicht.
    Mit 87 hatte er die Lebenslust verloren. Wenn es gewittert hat sagte er: “Oben kegeln sie wieder, bald kegeln wir mit.” Als Oma und Opa innerhalb eines halben Jahres verstorben waren, war ich untröstlich. Am ersten Geburtstag nach Opas Tod, ging im Februar ein mächtiges Gewitter nieder. OPA KEGELT. Ich war getröstet.

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