Am 19. Mai habe ich in dieser Stelle noch Evan Imber-Black zum 80. Geburtstag gratulieren können. Nur 10 Tage später ist sie in ihrem Haus in Connecticut gestorben. Sie hinterlässt ihre 87 Jahre alte Schwester Meryle Sue Mitchel, zwei Kinder und drei Enkelkinder. Ihr Mann, Lascelles Black, verstarb bereits im Jahr 2022.
Evan Imber-Black war Psychologin mit einem Doktortitel in klinischer Psychologie und Familientherapie. Ihren akademischen Hintergrund und ihre Berufsausbildung erhielt sie an der University of California, Los Angeles (UCLA), wo sie auch ihre klinische Ausbildung in Familientherapie absolvierte. Sie war langjähriges Fakultätsmitglied des Ackerman-Institute und ehemalige Direktorin des Ackerman’s Center for Families and Health, dessen Schwerpunkt in der Arbeit mit Familien liegt, die von somatischen Erkrankungen und körperlichen Einschränkungen betroffen sind. Darüber hinaus war sie Professorin und Programmdirektorin des Masterstudiengangs Ehe- und Familientherapie am Mercy College sowie Professorin in der Abteilung für Psychiatrie am Albert Einstein College of Medicine in der Bronx. Von 2004 bis 2011 arbeitete sie als Herausgeberin von Family Process, einer der wichtigen familientherapeutischen Zeitschriften in den USA.
Seit Beginn der 1980er Jahre setzte sie immer wieder mit zahlreichen Veröffentlichungen wichtige Akzente im familientherapeutischen und systemischen Diskurs. Die Bedeutung von Familienritualen und Familiengeheimnissen gehörte u.a. zu ihren zentralen Interessen. Kernanliegen von Evan Imber-Black war immer die Einbeziehung familiärer und sozialer Kontexte in ihre therapeutische Arbeit sowie ihr sozialpolitischer Einsatz für sozial benachteiligte Zielgruppen. Das schlug sich auch in ihrer Tätigkeit am Albert Einstein College nieder, wo sie als Direktorin des Family and Group Studies Program eine systemische Ausbildung für psychiatrische Assistenzärzte und andere Mitarbeiter der psychiatrischen Versorgung verantwortete, die ohne entsprechende Ausbildung mit den schwierigsten Familiensituationen konfrontiert wurden. Das Urban Institute for Families and Family Therapy Training bot u.a. Live-Supervisionen in verschiedenen Kliniken in der gesamten Bronx an. Ihre Lehrtätigkeiten übte sie noch bis kurz vor ihrem Tode aus.
Sie war Präsidentin der American Family Therapy Academy, erhielt 1990 den American Family Therapy Academy Award for Distinguished Contribution to Family Therapy Theory and Practice und wurde 1999 mit dem Preis American Association for Marriage and Family Therapy Cumulative Contribution to Marriage and Family Therapy ausgezeichnet.
In Deutschland wurde sie erstmals 1984 – noch unter ihrem früheren Namen Imber Coppersmith – mit einer Veröffentlichung in der Zeitschrift für systemische Therapie bekannt: „Wie man Trainees anleiten kann, triadisch zu denken“. Einige ihrer Bücher und Aufsätze sind im Carl-Auer-Verlag auf deutsch erschienen. 1988 veröffentlichte sie mit ihrem Buch „Families and Larger Systems“ (das bei Carl-Auer 1990 unter dem Titel „Familien und größere Systeme“ erschien und heute leider nur noch antiquarisch erhältlich ist) ein wegweisendes Konzept für die Arbeit mit so genannten Multi-Problem-Familien, die ja in der Regel Multi-Institutions-Familien sind. Dieses Buch begeisterte mich, weil viele der darin enthaltenden Konzepte und Ideen meine damaligen Erfahrungen in der Kinderschutz-Arbeit auf kongeniale Art und Weise wiederspiegelten.
Ich selbst habe Evan persönlich dann im Jahre 1999 in der Schweiz kennen gelernt. Sie war regelmäßig mit ihrem Mann Lascelles Gast auf den von Rosmarie Welter-Enderlin in Zürich organisierten Kongressen und den dazu gehörigen „Symposien ohne Publikum“, in denen die Kongresskonzepte erarbeitet wurden und auf denen genug Zeit vorhanden war, sich näher kennenzulernen. Zum Kongress über Rituale 2001 fand dieses Symposium im Wallis statt, wo wir die örtlichen Rituale rund um die lokale Fronleichnamsprozession studieren konnten. Während auf den Kongressen die Referenten in ihren eigenen Workshops sitzen und nur an den geselligen Abenden Gelegenheiten nutzen können, um miteinander in den Austausch zu gehen, gab es hier viel Zeit, die eigenen Perspektiven auf das Kongressthema anhand der Präsentationen in einem Kreis von 20 bis 30 Personen ausführlich zu diskutieren.
Die Therapievideos, die Evan gerne aus ihrer Praxis präsentierte, fand ich immer ausgesprochen eindrucksvoll. Ihr therapeutisches Vorgehen war sehr zugewandt und freundlich, blieb aber gleichzeitig sehr klar und fokussiert und ohne Scheu, schwierige Themen direkt anzugehen. Dabei war ihre Art der Konfrontation immer respektvoll und lösungsorientiert im besten Sinne des Wortes. Diese Haltung zeigte sie auch in den fachlichen Diskussionen, von denen ich immer profitiert habe. Abseits des inhaltlichen Austauschs gab es schöne gesellige Momente und Unternehmungen mit ihr und ihrem Mann, an die ich mich gerne erinnere.
Nach dem Tod von Rosmarie Welter-Enderlin und dem Ende der Zürcher Kongresse ist es im deutschsprachigen Raum auch um Evan Imber-Black stiller geworden. In den Folgejahren pflegten wir eine freundliche private Korrespondenz. Mit Evan Imber-Black verlässt uns ein wunderbarer Mensch und eine großartige Kollegin. Mögen ihre inhaltlichen Impulse auch in der Zukunft ihre Wirkung im systemischen Feld entfalten!
Viel mehr noch als bei Maria Selvini werden junge KollegInnen hier fragen: „Und, wer ist denn das?“ Für mich aber war Evan Imber-Blacks Buch „Familien und grössere Systeme“ Ende der 80 er Jahre der hilfreiche, an gelebter Praxis Navigator durch das „Gestrüpp der Institutionen“ in meiner damaligen Tätigkeit auf der Erziehungsberatung. Nicht zuletzt daran merken wir Oldies, wie, mit wem und mit was sich unser Rucksack gefüllt hat aus dem wir (und vielleicht auch noch ein paar andere) bis heute zehren..