Zum heutigen Sonntag gibt es den sechsten und letzten Text der Serie von literarischen Texten von Rudolf Welter (siehe hier) im systemagazin-Salon:
Rudolf Welter: Zeitverwalter
Am Tag, an dem ich lernte, dass es die Zeit gibt, hat meine Kindheit aufgehört zu existieren. Ich lebte bis anhin zeitlos, ohne Uhr, weil mir meine Eltern keine Uhr schenken wollten, wie das Eltern von Spielkameraden taten. Sie wollten mir eine Kindheit ohne Zeit gönnen, obwohl mein Vater vom Zeitgabegeschäft lebte (siehe unten). So waren meine Tage und Nächte strukturiert nach einem natürlichen Rhythmus, der aus Essen, Spielen, Aufstehen, Ausziehen, Schlafen, Träumen, Hundespazieren und mit Katzenspielen bestand.
Dann begann auch für mich das Zeitalter des Nachfragens: Wie viel Uhr ist es? Haben wir noch die Zeit? Ist die Zeit schon abgelaufen? Was zeigt deine Uhr? Wo könnte ich meine reparieren lassen? Letztere Frage hatte für meinen Vater eine spezielle Bedeutung, er war Uhrmacher. Sein Geschäft hing damals voller Uhren. Ich höre es noch, das Uhrenschlagen. Jede Viertelstunde fing ein lautes Schlagen der Zeit an, ich meinte, dass jede Uhr die Erste und Lauteste sein wollte im Anschlagen.
Zuhause ging es weiter mit dem Thema Zeit. Als es die Eltern als unausweichlich einsahen, uns Kindern die Zeit beizubringen, sorgte sich Vater darum. Er baute extra eine Lernuhr. Auf einer großen Kartonunterlage waren große Ziffern von eins bis zwölf gemalt. Die großen Zeiger konnten einfach verstellt werden.
Sonntags gab es häufig eine Torte zum Nachtisch. Auch die nutzte Vater, uns die Einteilung der Uhrzeit zu lehren. Es gab Viertelstücktorten, Halbstücktorten, Dreiviertelstücktorten und ganze Torten. Jetzt sollten wir die verschiedenen Stücke auf dem Ziffernblatt nachstellen, indem wir Zeiger bewegten. Wenn richtig übertragen, kriegten wir als Belohnung ein Stück Torte.
Während meine früheste Jugend eine zeitlose Lebensphase war, begann ich mich später immer mehr mit der Uhrzeit zu beschäftigen. Ich wurde auch Uhrmacher. Neben den mechanischen Belangen von Uhren, denen ich beim Reparieren begegnete, interessierte mich zunehmend die Beobachtung, dass viele Menschen Mühe bekundeten, mit der Handhabung von Zeit zurecht zu kommen. Zum Beispiel vergaßen Kunden, ihre reparierte Uhr abzuholen, obwohl sie sehr abhängig waren, ihre Uhr am Arm zu tragen. Schlimmer noch, wie ich aus den Medien vernahm, soll es Manager von Firmen geben, die viel Zeit in ihre Arbeit investierten ohne zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Sie sagten, sie hätten zu wenig Zeit, um ihre Aufgaben zu erledigen, wo sie doch ihre Zeit nicht einteilen können, sagten andere. Es soll gar vorgekommen sein, dass Manager versuchten, anderen Personen in ihren Unternehmen Zeit zu stehlen! Und andere glaubten die Zeit expandieren zu können, um zu mehr Zeit zu kommen! Andere klagten, zuviel Zeit zu haben, sie wüssten nicht, was mit der unausgefüllten Zeit anzufangen.
Ich machte etwas aus meinen Beobachtungen: Ich wurde Zeitverwalter, Zeitverwalter um Manager zu beraten. Ich führte dazu Seminare durch. Diese hielt ich weit ab vom geschäftigen Leben der Teilnehmenden. Am Eingang des Seminarraumes mussten sie ihre Uhren, Agenden, Mobiltelefone abgeben und versuchen, nicht an die Zeit nach dem Seminar zu denken.
Als Einführung las ich den Teilnehmenden Aphorismen vor, die anschließend diskutiert wurden:
Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten (Georg Christoph Lichtenberg).
Manche halten einen ausgefüllten Terminkalender für ein ausgefülltes Leben (Gerhard Uhlenbruck)
Man muss nicht immer überall dabei sein, meistens kommt man sowieso zu spät (Dieter Hüsch).
Die Zeit kann man nicht entschleunigen, aber man kann das Leben enthetzen (Karl Geissler)
Die Reaktionen der Teilnehmenden während der Durchführung der Seminare waren sehr unterschiedlich. Die einen kamen zur Einsicht, eigentlich genug Zeit zu haben, sie aber die Arbeit zeitlos planten, das hieße, die Arbeit ohne den Aspekt Zeit zu planen. Andere waren leise zornig auf mich, weil sie während dem Seminar zu wenig Zeit zum Essen hätten. Andere kritisierten meinen Umgang mit der Zeit im Seminar, nämlich, dass ich die Zeit nicht gut genutzt hätte, es wäre langweilig gewesen, ich müsste selber ein Zeitseminar besuchen. Und einige schieden vor Abschluss des Seminars ohne Angaben der Gründe aus.
Bald gab ich die Seminartätigkeit auf. Ich konnte keinen Sinn mehr darin sehen, ich wollte positive Rückmeldungen für mein Tun bekommen und so kehrte ich zurück in meinen Uhrenladen, nahm mich nebenbei der Halbwertszeit von Herbstzeitlosen an.
Ich bin jetzt achtzig Jahre alt. Abschließend halte ich zu meinem Umgang mit Zeit aus heutiger Sicht einige persönliche Gedanken fest. Die Jugendjahre: Die Zeit konnte nicht schnell genug fortschreiten. Es war ein harziges, klebriges, pappiges Schleichen, wie beim Träumer, der von einem Verfolger fliehen muss und auf einer Leimschicht nicht richtig vorwärts kommt. Im Mittelalter: Da war ich in meine Tätigkeiten so sehr vertieft, dass ich Zeit gar nicht wahrnahm. Mir kommt dazu das chinesische Sprichwort vom Fisch in den Sinn, der das Wasser nicht (mehr) spürt, weil er sich dauernd darin aufhält. Nur wenn eine Tätigkeit stockte, spürte ich eine Veränderung im Fluss der Zeit. Und nun im Alter: Die Zeit geht immer schneller voran, sie ist nicht zu bremsen. Der Wunsch, den Verlauf zu verlangsamen geht kaum in Erfüllung, ist nicht machbar. Die Zeit rollt einen Abhang hinunter, wird gelegentlich von einem Hindernis abgehoben, wirbelt unkontrolliert durch die Luft, wird dann wieder in geordnete Bahnen gelenkt, aber kein Prellbock ist vorhanden, der die Zeit stoppen würde. Ich stelle fest: Ich habe das Ausmaß eines Zeitraums von achtzig Jahren durchschritten und dafür achtzig Jahre benötigt.
Verein zur Verzögerung der Zeit – http://www.zeitverein.com
„Die Mitglieder im Verein zur Verzögerung der Zeit verpflichten sich zum Innehaltem, zur Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Aktivismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produziert“
Aus den Vereinsstatuten
Ihr habt Uhren, wir haben die Zeit
Afrikanisches Sprichwort